Jungpflanzen zum Tode verurteilt

„Albinos“ von Roteichen (Qercus rubra) und Rosskastanien (Aesculus hippocastanum)


 

Lage der hier beschriebenen Albino-Eichen und -Kastanien im Darmstädter Osten im Bereich um den roten Pin herum. Links Darmstadts Alter Friedhof, rechts unten Beginn des TU-Campus, in der Bildmitte die "Lichtwiese" (Kartengrundlage: OpenStreetMap):

 

Anfang der 1960er Jahre wurde in Darmstadt mit der Aufforstung eines Teiles der Lichtwiese als Pufferzone zwischen der bestehenden Wohnbebauung an der Schwamb-Straße und dem Areal der vorgesehenen Bebauung des Campus der TH begonnen.

Trotz skeptischer Beurteilung des Geländes bezüglich seiner sandig-­mageren Bodenqualität und Grundwasserverhältnisse hat sich – nicht zuletzt durch die fachkundige Beratung durch den damaligen Leiter des botanischen Gartens und international anerkannten Dendrologen FRANZ BOERNER (1897-1975) – das Areal zu einem artenreichen, parkähnlichen Wäldchen und beliebten Naherholungsgebiet entwickelt. Man findet u.a. Sandbirken, Hainbuchen, Stieleichen, Spitz-, Berg- und Feldahorn, Esskastanien, Ulmen, Silberpappeln, Haselstrauch, Kornelkirsche, Weißdorn, Roten Hartriegel, Pfaffenhütchen, Holunder, Waldkiefern und Lärchen. Franz Boerners familiären Beziehungen und damit verbundene Reisen nach den USA (über die er 1968 und 1971 im Naturwissenschaft­lichen Verein berichtet hat) erklären vermutlich den beachtlichen Anteil an nordamerikanischen Baumarten wie Roteichen , Bitternuss (Carya cordiformis) und Silberahorn (Acer saccharinum).

Nach guten Mastjahren wachsen aus den abgefallenen Eicheln der Roteiche, die im Gegensatz zu den einheimischen Eichen zwei Jahre zu ihrer Reife brauchen, im ersten Frühjahr tausende noch unverzweigte, vier bis sechs Blätter enthaltende, bis etwa 20 cm hoch werdende Jung(Keim)pflanzen.

Im Juni 2009 fiel mir am Wegrand  „An der Nachtweide" ein chlorophyll­freies Exemplar auf. Nach intensiverem Suchen fanden sich noch weitere 12 „Albinos“ unter Roteichen sporadisch verteilt. Es ist anzunehmen, dass in den Jahren vorher auch schon welche auftraten aber nicht beachtet wurden. 2010, 2011 und in diesem Jahr wurden wiederum jeweils etwa 15-20 chlorophyllfreie bzw. chlorophyllarme Jungpflanzen ange­troffen, bei denen vor allem im Bereich der Hauptblattrippe noch geringe Grünfärbung vorhanden war. Mehrjährige „Albinos“ wurden niemals gefunden. Das bedeutet, dass die hellen Pflanzen eingegangen sein müssen. Im Garten zur besseren Kontrolle ausgepflanzte grün- und weißblättrige Pflanzen haben diese Vermutung bestätigt. Die chlorophyllfreien Exem­plare waren alle noch im Lauf des Jahres eingegangen.

Damit stellt sich die Frage nach der Vitalität und der Entstehung dieser Fehlformen.

Die reife Eichel, botanisch eine einsamige Nuss, bekommt vom Mutter­baum so viele Reservestoffe (besonders Stärke, Zucker, Fett, Eiweiß) mit, dass der Embryo damit zunächst eine Primärwurzel zur Aufnahme des für das Wachstum notwenigen Wassers mit den darin gelösten Mineral­salzen und danach den Spross mit den ersten Blättern bilden kann. Bis zum völligen Verbrauch der Reservestoffe muss die Jungpflanze inzwischen die Fähigkeit zu eigener Stoffproduktion entwickeln. Das geschieht durch die Bildung von chlorophyllhaltigen grünen Plastiden, den Chloroplasten, vor allem in den Blättern. Sie assimilieren mit Hilfe der Sonnenenergie die über die Wurzel (Wasser) und über die bevorzugt auf der Blattunterseite befindlichen Spaltöffnungen aufgenommenen anorganischen Stoffe (Kohlendioxid) unter Abspaltung von Sauerstoff zu organischem Traubenzucker, der weiter zu Stärke umgebildet wird. Der als Photosynthese bezeichnete komplexe Prozess () ist letzten Endes die Grundlage für das Leben aller höheren Organismen.

Photosynthese vereinfacht:

6 CO2 + 6 H2O + Energie > C6H1206 + 6 02

Die mit einer Doppelmembran versehenen Plastiden der Pflanzenzellen enthalten eine eigene, ringförmige DNA und sind zu einer raschen Teilung und Vermehrung fähig.

Ursachen für die Entstehung chlorophyllfreier Jungpflanzen können Mutationen der Chromosomen-DNA der Pflanzenzelle und/oder auch der Plastiden-DNA sein, die zum Verlust der Fähigkeit der Plastiden zur Chlorophyllbildung führen.

Eine ungleichmäßige Verteilung grüner und „defekter“ Chloroplasten während des Sprosswachstums führt häufig zu grün-weiß-gescheckten, pana­schierten Pflanzen. Bekannte und bei Pflanzenfreunden beliebte Beispiele sind Variegata-Formen beim Efeu, Ilex, bei Pelargonien und beim Eschen­ahorn, bei denen grüne, gescheckte und weiße Triebe an einer Pflanze vorkommen können. Dabei überleben auch die weißen Teile, so lange sie von den assimilierenden grünen Pflanzenteilen mit Betriebs- und Bau­stoffen versorgt werden. Die Samen der Früchte an den weißen Pflanzen­teilen sterben jedoch bald nach der Keimung ab.

Chloroplasten befinden sich vorwiegend in den Palisadenzellen und im Schwammparenchym der Blätter. Von den Epidermiszellen enthalten nur die Schließzellen der Spaltöffnungen Chloroplasten, ein Hinweis dafür, dass die Photosynthese für die Funktion der Spaltöffnungen und damit des Gasaustausches von wichtiger Bedeutung ist. Bei chlorophyll­freien Blättern ist also auch der Gasaustausch behindert.

Von Roteichen sind panaschierte Formen nicht bekannt. Ob die normaler­weise grünen Eicheln bei den „Albinos“ auch schon bei ihrer Ent­wicklung am Baum chlorophyllfrei sind, kann ich nicht beurteilen. Die Speicher-Keimblätter und der Trieb der Jungpflanzen zeigen keinerlei Grünfärbung.

Interessant wäre herauszufinden, ob eine chlorophyllfreie Jungpflanze als Pfropfreis auf einer mehrjährigen grünen Jungeiche Überlebenschancen hätte.


Hanns Feustel, August 2012

 

Nachträge

Im Sommer 2016 erreichten uns gleich mehrere Rückmeldungen zu diesem Thema. Eine Zusendung stellte folgende Überlegung an:

Wenn ein Albino nicht normal assimiliert, erzeugt er keine normalen Zucker (hauptsächlich Traubenzucker). Demnach sollte ein Albino überlebensfähig werden, wenn er über die Wurzeln Traubenzucker aufnehmen kann. Das wäre recht einfach auszutesten.

Eine solche Untersuchung liegt in den Vereinsannalen vor. Danach ist eine solche ‚Ersatzvornahme‘ nicht möglich bzw. nicht erfolgreich.

Eine andere Zusendung aus dem holländischen Friesland übermittelte das Foto einer prächtigen uralten Rosskastanie, die so brüchig geworden war, dass sie gefällt werden musste. Sie zeigt partiell weiße Blätter, war also ein Teil-Albino (Abbildung).

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