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„Rhegma“ – der historische Hafen von Tarsos

Auch ohne Raoul Schrotts Homer-Lokalisierungen ist die Ebene zwischen Tarsos und der Mittelmeerküste eine interessante Gegend. Auf den ersten Blick wirkt sie zwar langweilig platt, wenn man einmal von der grandiosen Kulisse des sie nördlich begrenzenden Taurus-Gebirges absieht (Abb. 1). Aber in erdgeschichtlicher Perspektive ist sie ungeheuer jung und vital, weil sie in sehr kurzer jüngster Zeit von den zahlreichen kilikischen Flüssen angeschwemmt wurde, die immer wieder ihren Lauf geändert haben und das aus den Taurus-Bergen erodierte Material in der Ebene verteilten. Diesen Ablagerungszeitraum der erdgeschichtlichen Jetztzeit – des Holozän – datieren wir auf die Nacheiszeit der letzten 10.000 Jahre. Da stieg der Meeresspiegel mit dem Abschmelzen der Eispanzer kräftig an, das Gefälle der Flüsse kam deshalb in Meeresnähe zum Erliegen und ihre Sedimentfrachten füllten frühere Täler zu einer weiten Ebene auf. Die Struktur dieser Ebene, die heutige Flächenverteilung von Wasser und Land, die Flussläufe und Lagunen in ihr, die Kontur der heutigen Küstenlinien sind also nur eine Momentaufnahme. Bereits mit einem Viertel der Holozän-Zeitspanne zurück landen wir in Homers Zeit, wo die Landschaft noch ganz anders ausgesehen haben muss. Doch wie? Die junge Disziplin der Geoarchäologie hat nach meiner Kenntnis noch keine Untersuchungen der kilikischen Ebene vorgenommen. Entsprechend disparat fallen die Einschätzungen historischer Landschaften aus.

Dies gilt insbesondere für den historischen Hafen von Tarsos, der in einer Lagune auf dem letzten Drittel der Strecke von Tarsus zum Meer gelegen haben soll. Da diese Lagune nicht nur über den seinerzeit noch durch Tarsus hindurchlaufenden Kydnos-Fluss mit der Stadt verbunden war, sondern auch einen Meereszugang hatte, nannte man sie „Rhegma“ (gr. Ρηγμα), was „Durchstich“ bedeutet. Raoul Schrott stellte sich vor, dass sich Homer an den Stränden dieser Lagune das riesige Schiffslager der Griechen vor Troia vorstellen konnte. Die Zahl der von Homer aufgezählten 1.186 Schiffe (Ilias II.493-759) hat zwar nur symbolisch-literarische Bedeutung, weil eine solch gewaltige Anzahl für die damalige Bronzezeit real schlicht unplausibel wäre. Doch wenn man als Dichter schon mal mit einer solchen Zahl arbeitet, muss auch der Strand, an dem diese Schiffe an Land gezogen worden sein könnten, riesig sein. Die Lagune südlich von Tarsus hätte diese Anforderung wohl erfüllen können (im Gegensatz zu den beengten Verhältnissen in der Troas an den Dardanellen (vgl. Bäche und Ströme in der Troas und in Kilikien auf dieser Website). Doch wo lag diese Hafenlagune?

Die nachfolgende Bildergalerie zeigt einige mir verfügbare kartografische Lokalisierungen (Vor- und Zurückschaltung durch Klick auf die Schaltflächen in halber Höhe des rechten und linken Bildrands):

Mal ganz davon abgesehen, dass zu diesen Lokalisierungen durchgängig keine verlässlichen Quellen genannt werden, signalisiert die große Unterschiedlichkeit der Rhegma-Verortungen, wie problematisch sie letztlich alle sind. Ein Ziel unserer Kilikien-Reise 2015 war daher, durch Anschauung vor Ort zu einer besseren Einschätzung zu kommen. Doch klären wir zunächst, was die Literatur an belastbaren Informationen zu bieten hat:

Den ersten schriftlichen Bericht über das Rhegma von Tarsos lesen wir beim römischen Historiker Strabon in seiner um die Zeitenwende verfassten „Geographica“, die auch ein Kilikien-Kapitel enthält (Strabon XIV.5.672):

Nach Anchiale folgt die Mündung des Cydnus in das sogenannte Rhegma. Es ist dies eine versumpfte Gegend, die noch alte Schifflager hat und in welche der mitten durch Tarsus hindurchfließende Cydnus fällt, der seine Quellen auf dem oberhalb der Stadt gelegenen Taurus hat. Auch ist der Sumpf der Hafen von Tarsus

Den Ort Anchiale (in der Bildergalerie bereits von Ramsay berücksichtigt) spricht Strabon zuvor als „wenig über dem Meer“ an, der Strabon-Herausgeber A. Forbiger meint, „es soll heute noch Zafra heißen“. Hild Hellenkemper lokalisieren ihn 1,5 km nordwestlich des heutigen Stadtzentrums von Mersin (Lemma „Anchiale“ und Anlagekarte 1). Weil Strabon vom heutigen Mersin aus nach Osten gezogen ist, stieß er auf jenes Rhegma. Und noch 700 Jahre nach Homer zeigt sein Bericht, dass in der Lagune von Tarsos „Schiffslager“ zu sehen waren, worunter man sich wohl an Land gezogene und hier gewartete Schiffe in Werften vorstellen könnte.

Die im Grunde sorgfältig und differenziert konzipierte Arbeit von Hild Hellenkemper lokalisiert das Rhegma von Tarsus (wie in der Bildergalerie gezeigt) in ihrer Karte leider unter Missachtung einer Literaturquelle im eigenen Textteil. Dort heißt es (Lemma „Regma“, S. 391):

Das eigentliche Regma, also die Ausfahrt aus der Lagune ins Meer (= Einfahrt in den Lagunenhafen von Tarsos) lag 70 Stadien (= 13 km) südlich von Tarsos.

Diese Distanzinformation stammt aus einer kurzen, 1946 verfassten Notiz von Max Kiessling in der Realencyklopedie (RE I.A.1, 505), die allerdings keineswegs auf die „Ausfahrt“ der Lagune fokussiert ist, aber andererseits noch mehr zu bieten hat:

Regma hieß die Lagune, die im Altertum und Mittelalter den Kydnos aufnahm und der Stadt Tarsos als Seehafen diente. Heute liegt sie fast 6 km von der Küste ab, nur noch von Altwässern des Flusses gespeist, während das Hauptbett in einem weiten Bogen sich ostwärts verschoben und dem Saros genähert hat. Die Entfernung von der Stadt wird richtig auf 70 Stadien angegeben...

Zunächst ist es für einen Kilikien-Reisenden erstaunlich, dass Kiessling „heute“ (d.h. 1946) diese Lagune noch gesehen haben will. Denn die Landschaft ist „heute“ (d.h. 2015) so sehr agrarökonomisch durchindustrialisiert und planiert, dass Lagunenreste nur noch sehr mühsam (wenn überhaupt) aufzufinden sind.

Wesentlich ist aus der Realencyklopedie die Information, dass das Rhegma nicht im aktuellen Kydnos-Lauf gesucht werden darf, wie dies Hild Hellenkemper zeichnen. Ansonsten sind die Entfernungsangaben vage: Denn wo soll die Messung „von der Küste“ her ansetzen, wo diese einen gebogenen Verlauf nimmt? Und noch gravierender: auf welchen Punkt in Tarsos ist die „Entfernung von der Stadt“ in der heute weit ausufernden urbanen Stadtlandschaft zu beziehen? Historisch markant ist jener sich 20 m über das Umfeld erhebende Siedlungshügel Gözlü Kule, auf dem Besiedlung und kultische Nutzung in Tarsus seit dem frühen Neolithikum bis in die islamische Zeit nachgewiesen ist (Hild Hellenkemper, Lemma „Tarsos“ S. 434). Den lege ich nun zugrunde.

Es zeigt sich, dass die angegebene 6 km-Distanz von der Küste her (gleichgültig von welchem Punkt aus) sich nicht etwa mit einer 13 km-Distanz vom Gözlü Kule Hüyük aus in einem Punkt trifft, sondern dass sich die Distanzen überlappen. Ich möchte diese beiden Distanzangaben daher als Andeutung eines Bereichs aufnehmen, in dem die Lagune gelegen haben könnte.

Der so fixierte Bereich deutlich westlich des später nach Osten verlagerten Kydnos Laufs deckt sich sehr gut mit einer Kartierung, die ich vor unserer Reise vorgenommen hatte: Aus den Satellitenbildern von Google Earth lassen sich dunklere Zonen im südlichen Teil der Ebene ausmachen, die nicht aus einer anderen Flächennutzung zu erklären sind – die dunkleren Zonen unmittelbar südlich von Tarsus ergeben sich vor allem aus den dunkelblättrigen dichten Buschbaumplantagen der dortigen Agrumen. Daher dürften die dunklen südlicheren Zonen für eine andere Bodenbeschaffenheit und ggf. noch stärkere Durchnässung stehen und mithin ehemalige Feuchtflächen indizieren. Deren Kontur hatte ich an Hand der Satellitenbilder umrissen (vgl. blaue Flächen in Abb. 2). In diese Flächen passt nun auffallend gut eine Erstreckung der historischen Lagune, die sich an den Eckdaten der Realencyklopedie orientiert (dunkelrote Linie in Abb. 2):

Abb. 2: Kartierungen auf Google Earth-Grundlage – blau: mögliche historische Lagunenzonen, dunkelrote Kontur: mögliche Lage der Hafenlagune von Tarsus, geschlossen aus den Abstandsangaben zur Küste und nach Tarsus sowie aus der Distanz zum heutigen Kydnos-Verlauf (blaue Mäander rechts)

 

Die Kontur dieser Rhegma-Lokalisierung ist in Abb. 2 mit einem nach Norden auskragenden Schnippel ausgestattet, der den Anschluss an ein früheres Kydnos-Flussbett signalisieren soll. Für dessen Lage westlich vom heutigen Verlauf haben wir auf unserer Befahrung der kilikischen Ebene südlich von Tarsus immerhin einen Beleg gefunden: einen Rest jener noch von Kiessling erwähnten „Altarme“ am Aufnahmeort von Abb. 1, mitten in den Agrumen-Plantagen. Ein Teil davon ist in Abb. 3 zu sehen.

Die Karte in Abb. 2 zeigt zudem eine dünne rote Linie, die die Route unserer Erkundungsfahrt festhält. Sie führt von Tarsus nach Südosten, biegt dann zurück und erreicht über Yeşiltepe und Bahşiş das Straßendorf Kulak, das sich mehr als 2 km parallel zur Küste an einem auffälligen Dünenwall entlangzieht. Es hat den Anschein, als habe an diesem Dünenwall die Einebnung der Landschaft für eine durchindustrialisierte Landwirtschaft (vorläufig) geendet. Denn nördlich dieser Linie sind keine älteren Dünenwälle mehr auszumachen, die es aber auch hier gegeben haben dürfte, als die Küstenlinie noch weiter im Landesinneren lag. Denn Spuren solcher Dünenwälle zeichnen sich noch heute als helle Streifen in den Satellitenbildern ab. Die in Abb. 2 eingezeichnete „Grenze der Sanddünen“ stammt aus Ramsay 1903.

Das Land hinter der ‚Grenze der Sanddünen‘

Die Bezeichnung „Rhegma = Durchstich“ klingt nach einem aktiven menschlichen Eingriff, durch den womöglich auch bei jener historischen Lagune die Verbindung zum Meer künstlich geschaffen worden war. Denn der Kydnos zeigt in seinem natürlichen Mündungsverhalten noch heute keineswegs den Drang zur direkten Verbindung ins Meer. Vielmehr bewirkten die von seiner Sedimentfracht  auf der einen und dem wogenden Meer auf der anderen Seite aufgeworfenen Sandbänke, dass er wohl schon seit langer Zeit über mehrere Kilometer ‚hinter‘ diesen Sandbänken parallel zur Küste floss, ehe er tatsächlich das Meer erreichte. Ein solcher küstenparalleler Flusslauf hat sich bei anhaltender Sedimentation mitgeführter Sande immer weiter in Richtung Meer geschoben, so dass im Gelände zwischen dem Straßendorf Kulak und der heutigen Küste ein feines Streifenmuster ehemaliger Kydnos-Flussbetten entstand, die sich noch heute als Wasserstreifen im Gelände zeigen.

Und ebenso gibt es noch heute einen solchen über 8 km langen küstenparallelen Kydnos-Mündungsarm. Man hat seine Wasserführung lediglich durch einen Sperrdamm mit dosierendem Durchflussrohr reguliert. Abrupt abgelenkt durch diesen Sperrdamm erreichen die Kydnos-Wasser heute in breitem Strom direkt das Meer (Abb. 4).

Diese Regulierung hat es möglich gemacht, die Sandbänke zwischen dem küstenparallelen Kydnos-Flussbett und dem Meer ebenfalls landwirtschaftlich zu nutzen. Im erstaunlich humos wirkenden Sand gedeihen vor allem Wassermelonen unter den ubiquitären Plastikplanen.

Die Rhegma-Konturierung in Abb. 2 geht davon aus, dass die historische Küstenlinie zu Zeiten Homers an jener heutigen ‚Grenze der Sanddünen‘ verlief und dort ein Durchstich direkte Verbindung zum Meer schaffen konnte.

Der seitdem verlandete südlich angrenzende Geländestreifen wäre aus meiner Sicht ein interessantes Betätigungsfeld für Geoarchäologen, deren Untersuchungen eine Historie der Küstenlinienverschiebungen und Flussbettverlagerungen liefern könnten. Wir haben diese interessante Landschaft lediglich von Kulak aus wie in einem Schnittbild zur Küste hin durchwandert, sind dann aber vor dem alten Kydnos-Flussbett an weiterem Vordringen bis zur Küste gehindert worden, weil das dortige Brückchen nun wirklich nicht mehr begehbar ist (Abb. 5)

Womöglich sollten solche geoarchäologischen Untersuchungen auch bald durchgeführt werden, ehe sich auch diese Landschaft so sehr verändert, wie jene agrarindustrielle Ebene bis Tarsus. Denn die türkische Regierung hat hier offenbar massive Investitionen vor. Eine riesige Baustelle frisst sich in die Verlandungszone, die danach aussieht, als solle das bislang nicht genutzte Küstenland auf zehn Kilometer Länge einer Tourismuszone mit Badestrandbebauung geopfert werden (Abb. 6). In der ‚modernen‘ Türkei ist offensichtlich kein Platz für ungenutzte Flächen, die noch in irgendeiner Form Zeugnis über Geschichte – Erd- wie Kulturgeschichte – ablegen könnten. Alles muss einem industriellen Zweck unterworfen werden. Mit dieser Tourismuszone und einer Schnellstraße nach Tarsus, wo wir noch auf schmalen Pisten gefahren sind, könnten dann noch mehr Tarsus-Touristen ihren Ausflug in das Disneyland von „Kleopatra-Tor“ und „Paulus-Brunnen“ machen, der an die Stelle realen Geschichtserlebens treten muss.

Jedenfalls entfernt uns auch diese fundamentale Umgestaltung immer weiter von jenen Landschaften, die vor 2.700 Jahren ein Homer hier gesehen haben könnte. Das macht eine begründete Antwort auf die Frage, ob Homer hier seine Troia-Anschauungen geschöpft hat, immer schwieriger oder gar unmöglich.