Zur Deutung der „Kykladenidole“

Nebenstehende Abbildung zeigt ein typisches „Kykladenidol“ zum einen in der allzumeist reproduzierten frontalen Ansicht, daneben ergänzend im selten präsentierten Profil. In der Frontansicht sind diese Idole berühmt geworden. So geben sie mit ihrem flachen stilisierten Kopf, aus dem oft nur eine scharfkantige Nase herausragt, einer sehr alten Kultur ihr Gesicht.

Man datiert diese „frühkykladische“ Kultur auf den Zeitraum zwischen 3.200 und 2.000 Jahren v.u.Z., also auf die für uns kaum vorstellbare Zeit von 5.200 bis 4.000 Jahren vor heute. Schon damals lebten auf den Kykladen kunstfertige Menschen, die aus dem dort anstehenden edlen Marmor solche Objekte herstellen konnten, die noch heute moderne bildende Künstler begeistern.

Der Begriff „Idol“ wird allgemein mit etwas Göttlichen verbunden, abwertend aber auch mit Götzen in Beziehung gebracht. Wie können die uralten Funde der „Kykladenidole“ insofern eingeordnet werden? Es werfen sich Fragen auf:

Was ist ein Gott? Oder lässt sich angesichts der offensichtlichen Weiblichkeitsform bei den Kykladenidolen auch fragen: Was ist eine Göttin? Für Freunde der römischen, griechischen, vorderasiatischen oder ägyptischen Mythologien ist das keine Frage. Denn dort war die Welt mit einer Vielzahl von Göttern wie Göttinnen bevölkert. Für die drei großen (westlichen) „Weltreligionen“ ist diese Frage ebensowenig eine Frage. Sie dürfte dort vielmehr auf Befremden stoßen. Denn hier herrscht nicht ein, sondern der Gott – und der ist ohne jede Einschränkung männlich. Aber seit wann verehren Menschen diesen einen Gott? Galt das schon ewig... so dass die angesprochenen Göttervielfalten der diversen Mythologien nur „heidnische“ Parallelwelten repräsentierten? Oder gab es auch für den einen Gott ein vorher? Und – wenn ja – wann war dieses „vorher“?

Dieses „Vorher“ umfasst die längste Phase der kulturell produktiven Menschheitsgeschichte, die man vom Einzug des Homo sapiens aus Afrika  vor um die 100.000 Jahren, zunächst über Mesopotamien und Anatolien bis letztendlich nach Europa, beginnen lassen kann. Demgegenüber sind die ca. 3.000 Jahre monotheistischer Religionsgeschichte ausgesprochen kurz.

Die „Kykladenidole“ – durchgängig weibliche Figuren mit einer für uns heute schwer nachvollziehbaren und kaum rekonstruierbaren kultischen Bedeutung – hatten zweifelsohne einen Bezug zum Göttlichen. Mindestens ebenso wichtig ist aber auch die Weiblichkeit dieser Idole. Sie verweist auf die gesellschaftlich bedeutende Rolle der Frau, die in frühgeschichtlicher Zeit aus ihrer Fähigkeit zum Lebenspenden erwuchs und die über lange Zeit matriarchale Gesellschaftsformen konstituierte. Auf den Kykladen scheint sich dies Matriarchat sehr lange gehalten zu haben.

Die ausführlichere Darstellung dieser Zusammenhänge findet sich in der PDF-Datei: Vor Gott die Göttin – Zur Deutung der ‚Kykladenidole‘.