Was sind „mykenische Paläste“?

Vorerst nur eine Auseinandersetzung mit einer Publikation der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt zu diesem Thema

 

Nach langer Vorbereitung habe ich im Frühjahr 2017 mit ein paar Freunden eine Studienreise nach Griechenland unternommen, um jene „mykenischen Paläste“ anzusehen, aus denen die Anführer der Griechen gegen Troia gekommen sein sollen. Schon im Zuge dieser Vorbereitung hatte mich irritiert, dass die Wissenschaft der Frühgeschichte so wichtige Orte wie Argos oder Sparta nicht als Palaststandorte listet, obwohl sie in der Mythologie eine so überragende Rolle spielten. Vor Ort strömten dann noch ganz andere Irritationen auf uns ein: Insbesondere im sogenannten „Nestor-Palast“ in Messenien sahen wir zahlreiche Attribute, die vor allem an minoische Kultur erinnerten. Auch war dieser Palast nicht befestigt, wie man das von „mykenischen“ Palästen und ihren „Zyklopenmauern“ immer wieder präsentiert bekommt (Abb. 1). Dann fanden wir in Lerna oder auf Aigina sehr alte bauliche Anlagen, die in baugeschichtlichen Untersuchungen zu mykenischen Palästen allenfalls am Rande erwähnt werden, obwohl sie doch wichtige Entwicklungsstadien dorthin markieren.

Querverweis: Zum Nestor-Palast, zu Lerna und Aigina gibt es in diesem Webseitenbereich über „Mykenische Paläste“ bereits detailliertere Untersuchungen: Nestor-Palast, Lerna, Aigina (die PDF-Dateien öffnen im Browser jeweils auf einem eigenen Reiter und sind auch über die Navigationsspalte rechts erreichbar).

All dies ruft nach Entwicklung einer Definition, was eigentlich unter „mykenischen Palästen“ verstanden werden sollte. Am einfachsten dürfte noch sein, die Einflüsse minoischer Kultur  abzugrenzen. Schwieriger wird es, aus den wenigen ‚offiziellen‘ Palaststandorten auf eine politische Struktur des archaischen Griechenlands zu schließen.  Zum einen passen die gängigen Palaststandorte so gar nicht zu Homers Schiffskatalog und der daraus folgenden landschaftlichen und politischen Gliederung, vielmehr ballen sie sich im Raum der Argolis, während andere wichtige Landstriche insbesondere des Peloponnes riesige Leerstellen zeigen.

Ich nehme mir eine gründliche Antwort an dieser Stelle erst für einen späteren Zeitpunkt vor – wenn meine Aufarbeitung der Studienreise auf diesen Webseiten weiter fortgeschritten ist und die Analyse der einzelnen Palaststandorte genügend Material geliefert hat, um diese Grundfrage anzugehen.

Derweil will ich hier die knappe Auseinandersetzung mit einer Publikation einstellen, die sich des Themas ebenfalls angenommen hat:

Die Antwort der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt

Welche Definition entwickelt das im Sommer 2017 neu erschienene Werk der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt (WBG), der Bildband von Josef Fischer mit dem Titel „Mykenische Paläste“, für sein Thema? Der Autor plaudert zunächst an die hundert Seiten lang über dies und das, ehe er erst auf S. 99 zu seinem Titelthema findet (und ist dann nach nur 23 Seiten, die vor allem mit Bildern aufgefüllt werden, mit diesem seinem Thema schon wieder durch und das Buch zu Ende). Dort hebt er an:

Charakteristisch für die Blütezeit der mykenischen Kultur ist die Existenz der mykenischen Paläste, welche die politischen, wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Mittelpunkte der mykenischen Staaten darstellten.

„Mittelpunkt für nahezu alles“ reicht als Definition für „Palast“ nicht aus, weil ein Palast vor allem ein Gebäude ist, das architektonisch beschrieben und klassifiziert werden müsste – was Fischer aber nicht tut. Bleibt also das Stichwort ‚Mittelpunkt von „Staaten“‘. Diese Einordnung ist kühn. Nicht nur, weil Fischer keine weitere Überlegung darauf verwendet, was eigentlich einen ‚Staat‘ auszeichnet und damals – sehr lange vor Perikles‘ Athen – speziell einen ‚mykenischen Staat‘ ausgezeichnet haben könnte. Deshalb kommt Fischer auch nicht auf die Idee, dass die politisch-gesellschaftliche Organisationsform „Staat“ aus ihrer Logik heraus kein Gebäude als „Mittelpunkt“ haben kann. Zu klären wäre auch, was einen solchen mykenischen ‚Staat‘ von jenen ihm angeblich historisch vorangehenden  „Herrensitzen“ unterscheiden könnte, von denen aus – nach Fischer -–„die jeweiligen Fürsten über ihr Territorium in frühmykenischer Zeit“ geherrscht hätten. Auch diese Abgrenzung ist in seinem Buch kein weiter verfolgtes Thema. Vielmehr konterkariert Fischer seine laxe Einordnung von ‚Staat‘ postwendend, ohne dass ihn der aufbrechende Widerspruch zu weitergehenden Überlegungen veranlassen würde:

„Dass vermutlich freilich [vermutlich freilich?!] nicht jeder Palast Mittelpunkt eines eigenständigen Reiches war, zeigt die Situation in der Landschaft Argolis. Denn dort befinden sich mit Mykene, Tiryns und Midea drei palatiale Anlagen auf engstem Raum…

Aus „Staat“ wird hier ganz beiläufig ein „eigenständiges Reich“, aus Palast nur noch eine „palatiale Anlage“ – und dies ausgerechnet bei Nennung jener ‚Anlagen‘, die nach allgemeinem Verständnis die Inkarnation mykenischer Paläste schlechthin darstellen: Mykene, Tiryns und Medea. Wenn es damals wirklich „Staaten“ gegeben habe, dann dürften diese drei ‚Anlagen‘ ziemlich sicher innerhalb eines einzigen „Staates“ gelegen haben. Das gäbe  Anlass, sich mit funktionalen Unterschieden zwischen diesen ‚Palästen‘ innerhalb des gemeinsamen Staatsgebildes  zu befassen. Doch Fischer verfolgt auch diesen Gedanken nicht weiter. Statt dessen bläst er das Thema mit seinen Palastlisten weiter auf und erzeugt noch mehr Durcheinander statt Klarheit:

Seine Listen sind daran zu messen, dass die Forschung – jedenfalls nach dem Maßstab der großen Antiken-Enzyklopädie „Der Neue Pauli“ – nur sehr wenige Orte im spätbronzezeitlichen Griechenland als mykenische Palaststandorte einordnet (dritte Spalte der nachfolgenden Tabelle). Fischer hingegen zählt deutlich mehr Palaststandorte auf, präsentiert aber im Text eine signifikant andere Liste als in der zugeordneten Kartenabbildung 93, auf die er im Text explizit verweist. Dies Kunststück, vor dem offenbar auch das WBG-Lektorat in die Knie gesunken ist, wird bei Umsetzung in eine Tabelle am deutlichsten. Sie zeigt links Fischers Palastliste im Text, in der Mitte seine Palastliste in der zugeordneten Abbildung und rechts anschließend als Referenz die Liste der DNP-Enzyklopädie. Ganz rechts ist noch vermerkt, welchen Orten – die aber nicht nur aus seinen Listen stammen – Fischer eine Erörterung gönnt (etwaige kurze Erwähnungen im sonstigen Buch sind nicht berücksichtigt, weil ich nicht den Masochismus aufbringe, auch noch das fehlende Register im WBG-Buch nachzuarbeiten).

Fischers Palastliste
im Text

Auszug aus der Palastliste in Abb. 93

Der Neue Pauli (DNP-Atlas)

Erörterung bei Fischer

 

Teichos Dymaion (Elis)

 

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Pylos (Messenien)

Pylos

Pylos

S. 114-116

 

Nichoria (Messenien)

 

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Menelaion (Lakonien)

 

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Agios Yasileos (Lakonien)

 

 

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Mykene (Argolis)

Mykene

Mykene

S. 100-107

Tiryns (Argolis)

Tiryns

Tiryns

S. 107-111

Midea (Argolis)

Midea

Midea

S. 111-113

Athen (Attika)

Athen

Athen

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Theben (Boiotien)

Theben

Theben

S. 117-119

Orchomenos (Boiotien)

Orchomenos

Orchomenos

kurz auf S. 119

 

 

 

Gla S. 119-120

Volos (Thessalien)

 

 

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Iolkos (Thessalien)

Iolkos

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Lefkandi (Euböa)

 

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Knossos (Kreta)

Knossos

 

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Chania (Kreta)

Kydonia (Kreta)

 

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Fangen wir unten an – ohne auf alles eingehen zu können, was hier kritisch kommentiert werden müsste: Die minoischen Paläste auf Kreta, die Mitte des 15. Jh. von ‚mykenischen‘ Griechen gewaltsam erobert wurden, in die Liste „mykenischer“ Paläste einzuverleiben, ist ungefähr so frech wie der Gedanke, das Louvre nach Eroberung von Paris durch die Nazis hinfort in den Annalen als „Deutsches Museum“  zu führen. Angesichts dieses Fehlgriffs wollen wir darüber hinwegsehen, dass „Chania“ (in der Abbildungsliste „Kydonia“) nicht gerade als kretischer Palaststandort berühmt geworden ist (nicht einmal als minoischer).

Die interessante Festung Gla wird in den Listen gar nicht erfasst, aber im Abschnitt „Paläste“ von Fischer erörtert (vgl. vierte Spalte der Tabelle). Sie ist aus Fischers Sicht zwar „kein Palast im eigentlichen Sinne, wohl aber die größte mykenische Burganlage“. Leider hat er zum „Palast im eigentlichen Sinne“ nie eine Definition gegeben. „Große Burg“ wäre angesichts von Gla offenbar kein hinreichendes Palast-Kriterium.

Was Fischer mit den eklektisch ergänzten weiteren Namen verbinden will, bleibt sein Geheimnis. Sie werden zwar gelistet, sind auch in archäologischer Hinsicht mehr oder weniger interessant, fallen aber weder in die Hochzeit mykenischer Paläste, noch erfüllen sie das Gla-Kriterium „große Burg“. Und vor allem: sie werden im Palastteil seines Buches weder beschrieben noch in ihren angeblichen Palastfunktionen diskutiert. Fischer bleibt also jede Begründung schuldig, warum diese Orte zu den „mykenischen Paläste“ gezählt werden sollen.

Die auffälligen Diskrepanzen zwischen Fischers  Palastlisten in Text und Abbildung könnten sich daraus erklären, dass Karten und Pläne dieses Buches durchgängig nicht aus Publikationen der wissenschaftlichen Archäologie entnommen wurden. Als Quelle all dieser Unterlagen wird allein der Berliner Kartengrafiker Peter Palm ausgewiesen (Bildnachweis S. 143). Der erstellt seine Auftragsarbeiten erklärtermaßen (auch) auf Basis eigener Recherchen (mare-online). Und da hat er wohl seine ganz persönliche Palastliste zusammengestellt und zu roten Punkten in seiner Karte gemacht (Abb. 2).

Warum aber weder der Autor Fischer noch das WBG-Lektorat auf eine Korrektur gedrungen haben, ist weniger ein Rätsel als eine schlampige Unverschämtheit gegenüber Käufern (und Lesern) dieses Buchs. Sie wird nur noch getoppt durch die Beschriftung der referenzierten Paläste-Karte von Peter Palm, die ebenfalls jede Kontrolle beanstandungslos passiert hat: „Abb. 93 Karte mit mykenischen Palästen“. Diese Karte umfasst den ostmediterranen Raum zwischen Mazedonien, Libyen, Ägypten, der Levante und Ostanatolien. Darin sind zig Ortspunkte eingetragen – neben jenen in obiger Tabelle viele weitere Orte von Troia an den Dardanellen bis Bethel in Israel. Nach Fischer, der WBG und ihrem Kartengrafiker Palm sind das erklärtermaßen allesamt „mykenische Paläste“! (vgl. Abb. 2 mit Ausriss des rechten Kartenteils und deren Beschriftung darüber)

Selbstredend ist Fischers lax dahingeworfener Definitionsversuch, die Paläste seien Zentren mykenischer „Staaten“ gewesen, in dieser Abbildung längst untergegangen, die nicht einmal den Versuch macht, im Darstellungsraum „Staaten“ abzugrenzen.

Anmerkung zu den Fischer-Quellen

Das im August 2017 auf den Markt geworfene Buch der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt (WBG) „Mykenische Paläste. Kunst und Kultur“ von Josef Fischer erschien in der Reihe „Zaberns Bildbände zur Archäologie“. Der traditionsreiche Zabern-Fachverlag für archäologische Themen hat längst seine Eigenständigkeit eingebüßt und ist nach Übernahme durch die WBG zu einem bloßen „Imprint“ geworden – wie andere Fachverlage, die unter dem Dach der WBG verschwunden sind. Unter diesem Dach an der Darmstädter Hindenburgstraße überlegt man sich jetzt, unter welchem Imprint die eine oder andere Publikation am besten „läuft“.

Der ‚Bildband‘ zum „Thema Mykenische Paläste“ ist ein Tiefpunkt in der Geschichte archäologischer Publikationen aus dem Hause der WBG. Während früher Archäologen über ihre Grabungen berichteten und die von ihnen erstellen Fotos und zeichnerischen Bauaufnahmen publizierten, speist sich der Fischer-WBG-Bildband aus den Produkten kommerzieller Bildagenturen, in deren garnierendem textlichem Umfeld der Autor erzählt, was er so alles zum Thema gelesen hat. Fast die Hälfte aller 135 Abbildungen wurde allein aus den Archiven von „akg-images“ entnommen (im Web: https://www.akg-images.de/; dazu auch Abb. 3).

Kein einziges Bild hat der Autor Fischer zu seinem Bildband „Mykenische Paläste“ selbst beigesteuert. Das finde ich – vorsichtig gesagt – befremdlich. Denn wer studiert ein solches Thema ohne Studienreisen? Und wer unternimmt Studienreisen, ohne ein einziges Bild mitzubringen?! Zudem ist grundsätzlich die Perspektive eines forschenden Archäologen eine andere als die einer kommerziellen Bildagentur, die ihre Produkte für maximale Rendite, d.h. für den Massengeschmack auswählt. Und so fallen deren Bilder anheimelnd, bunt, phantastisch oder auch mal skandalös aus. Aber was hat das im Produkt einer „Wissenschaftlichen“ Buchgesellschaft zu suchen?

Auch sonst –  gespeist aus vielen kleinen Ungenauigkeiten im Text  – verstärkt sich der Eindruck, als habe der Autor sein Thema nicht vor Ort studiert. Er erzählt, was er so alles gelesen hat, strukturiert dies Material aber nicht hinreichend für sein Thema und kontrolliert es weder an der örtlichen Anschauung noch an originalen Grabungs- und Ortsplänen. Das Buch ist deshalb auch nicht als Reiseführer zu den Orten seines Themas zu gebrauchen.

Das Buch eignet sich auch nicht als Einstieg in eine vertiefende Befassung mit dem Thema. Zwar hat Fischer seinem Werk eine „Bibliographie“ angehängt. Diese auf gut fünf dreispaltigen DIN A4-Seiten abgedruckte Liste sieht erst einmal so aus, wie sie ein studentischer HiWi aus einer einschlägigen Fachbibliothek in vielen mühevollen schlecht bezahlten Stunden aufgenommen haben könnte.  Die nur nach Autorennamen, nicht aber nach thematischen Aspekten, rein alphabetisch geordnete, in kaum lesbarer 7-Punkt-Schriftgröße abgedruckte, geradezu protzig lange Liste macht es unmöglich (oder inakzeptabel aufwändig), irgendeinem Thema gezielt nachzugehen.  Ein Buch, das sich für diesen Zweck sehr viel besser eignet – Louise Schofields „Mykene. Geschichte und Mythos“ –, hat die WBG aus dem Programm genommen. Der Vermerk „Zur Zeit vergriffen, Bestellungen werden registriert“ ist auf deren Website schon viel zu lange zu lesen.

Damit sich niemand in einen vertiefenden Einstieg zum Thema verirrt, hat Fischer seinen gesamten Text von jeglichen Quellenverweisen freigehalten. Seine Literaturliste ist also nur formal und praktisch unbrauchbar angeklebt. Fischer erzählt in seinem Text vor sich hin, ohne Hypothesen, ohne deren Prüfung und damit ohne konzeptionelle Aussage. Das ist der Typus textlicher Garnierung, den Anzeigenblätter um ihre Werbekunden-Botschaften drapieren, damit sie irgendwie an „Zeitung“ erinnern. Die WBG garniert mit Fischers Text eine Bildorgie aus kommerziellen Bildarchiven. Das so entstandene Produkt eignet sich für einen Leser mit rudimentärem Archäologie-Interesse, der es im Wartezimmer seines Zahnarztes durchblättert, um sich vom drohenden Eingriff ein wenig abzulenken.

Michael Siebert, August 2017

 

Ein aufschlussreiches Beispiel für Fischers Bildagenturen-Verwertungspraxis schildert Abschnitt 4 in meinem Beitrag zu Rekonstruktionen der Antike: Welche Bilder braucht der Mensch?

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