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Der gehörnte Moses


Übersicht:


 

1. Michelangelos Werk

Eins der bedeutendsten Werke des italienischen Renaissance-Künstlers Michelangelo Buonarroti (1475 bis 1564) ist seine Marmorfigur des Moses. Sie bildet das Zentrum eines zweistöckigen Grabmals für Papst Julius II. in der Kirche San Pietro in Vincoli. Diese sehr alte Kirche gründet in Rom auf baulichen Resten, die bis ins 2. Jahrhundert zurückreichen, sie steht nur 300 m nördlich des Kolosseums. Es lohnt, sich mit der dort aufgestellten Moses-Statue wieder einmal zu befassen – den konkreten Anlass werde bzw. kann ich aber erst am Ende nennen.

Bitte betrachten Sie zunächst ganz unvoreingenommen das Portrait, wie es Michelangelo aus Marmor geformt hat (Abb. 1). Welche Stimmungen sehen Sie in seiner Mimik? Was drückt das Gesicht aus? Vielleicht notieren Sie ihren ersten spontanen, wie auch ihren zweiten reflektierteren Eindruck. Sie werden diese Ihre Empfindungen später mit den von mir und anderen gesammelten Eindrücken vergleichen können.

Portrait der gehörnten Moses-Figur von Michelangelo

Abb. 1: Portrait des Moses von Michelangelo, Foto von Jörg Bittner (Nachbearbeitung M.S.).

 

Vordergründiger Anlass für eine Befassung mit Michelangelos Moses könnte sein, sich mit dem Unfug auseinanderzusetzen, den in diesem Falle Wikipedia verbreitet. Dort wird zwar korrekt festgehalten, dass es sich um „eines der wichtigsten Werke Michelangelos“ handelt. Dann aber geht es so weiter:

Sie [die Statue] zeigt Mose, der mit den Gesetztafeln vom Berg Sinai zurückkommt, in dem Moment, als er die Israeliten beim Tanz um das goldene Kalb findet. Die Hörner auf seinem Kopf gehen auf einen Übersetzungsfehler zurück: Im hebräischen Urtext, der keine Vokale kennt, steht das Wort „krn“. Als man später darangeht, den Text mit Vokalen zu versehen, setzt man zwei „e“ ein. Aus „krn“ wird „keren“ und das heißt „gehörnt“.

Schaut man sich eine Totale des ‚Untergeschosses‘ jenes Grabmals für Julius II. an, so sagt bereits der Augenschein, dass Wikipedia mit seiner Darstellung gleich im ersten zitierten Satz nicht richtig liegen kann (Abb. 2).

Sockelgeschoss des Grabmals für Papst Juli II. mit dem Moses von Michelangelo sowie den Frauen Jakobs, Lea und Rachel

Abb. 2: Das untere der beiden Geschosse des Grabmals für Papst Julius II. Foto von J.C. Benoist (Nachbearbeitung M.S.)

 

Moses kommt nicht von einem Berg zurück, sondern er sitzt und schaut. Drumherum ist auch nirgends ein Tanz um das ‚Goldene Kalb‘ inszeniert. Vielmehr wird Moses (abgesehen von den starren Säulenbüsten oberhalb) von zwei Frauen umstanden. Bei ihnen handelt es sich um Lea und Rachel, also um die beiden Frauen des biblischen Erzvaters Jakob, der mit ihnen (sowie deren Mägden Silpa und Bilha) insgesamt 12 Söhne gezeugt hat (1. Mose/Genesis, Kapitel 46). Elf dieser 12 Männer – von Ruben bis Benjamin –, waren mit ihren Familien und ihrem Gefolge in der Not nach Ägypten zu ihrem zuvor dorthin verkauften Bruder Josef gezogen und bildeten nun das Volk Israel mit seinen 12 Stämmen. Moses sollte es – so die Erzählungen der Bibel – später aus Ägypten herausführen, was im 2. Buch Mose, dem so genannten „Exodus“, beschrieben ist.

Moses stammt nach diesen Erzählungen als Ur-Ur-Enkel in direkter Linie von Erzvater Jakob aus dessen Beziehung mit seiner Erstfrau Lea ab – nämlich von Jakobs Sohn Levi, dessen Sohn Kehat und dessen Sohn Amram, der Moses und seinen Bruder Aaron zusammen mit Jochebed, der Schwester seines Vaters zeugte, also mit einer Frau, die ebenfalls aus direkter Linie von Jakob abstammt (Exodus 6.14 ff). Die Platzierung des sitzenden Moses zwischen den beiden Frauen ist somit eine Allegorie auf die erzväterliche Abstammungsgeschichte dieses Mannes und weist deshalb in die lange Geschichte dieses Volkes, nicht aber auf ein ‚Goldenes Kalb‘.

Doch warum trägt dieser Moses zwei nicht sonderlich dominante, aber doch deutlich herausragende Hörner auf seinem Kopf? Sie bilden neben den beiden Gesetzestafeln unter seinem rechten Arm das wohl bedeutendste Attribut an dieser Figur. Sollte man dem größten italienischen Künstler der Renaissance – so Wikipedia –wirklich die Schludrigkeit zutrauen, dieser herausragenden Person der Religionsgeschichte ein so auffälliges und höchst befremdliches Merkmal auf den Kopf gesetzt zu haben, nur weil irgendjemand eine Bibelstelle falsch übersetzt habe?

Wikipedia findet sich mit seiner Darstellung, was die Einordnung der Figur in die Szene mit dem goldenen Kalb angeht, immerhin in prominenter Gesellschaft kluger Köpfe, die sich in einer Zeit ausführlich zu Michelangelos Kunstwerk geäußert haben, die noch nicht von der heute herrschenden Hektik, Aufgeregtheit und gedankenlosen Kurzatmigkeit geprägt war. Da sind insbesondere der Schweizer Kunsthistoriker Jacob Christoph Burckhardt (1818 bis 1897) und der österreichische Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud (1856 bis 1939) zu nennen. Beide seien sich darin einig gewesen – wie DIE ZEIT in einer noch relativ unaufgeregten, allerdings schon 12 Jahre zurückliegenden Rückschau festhielt –, dass

der Moses des Michelangelo in jenen Moment gebannt sei, da der jüdische Religionsstifter, vom Berg Sinai kommend, sein abtrünniges Volk um das Goldene Kalb tanzen sieht und sich anschickt, die Gesetzestafeln zu zerbrechen.

Freud zitiert in einer Weitschweifigkeit, die heute kaum noch jemand lesen mag, zahlreiche Autoren, die dieser seiner Meinung zustimmen. Zudem drängt sich – liest man diese Ausführungen dennoch – der Eindruck auf, dass die Auswahl der Meinungen recht tendenziös ausfällt. Denn der alternativen Spur „einiger Autoren, die sich nicht gerade für die Szene des goldenen Kalbes entscheiden“ geht Freud nicht weiter nach, sondern weidet sie nur dahingehend aus, wie sie dennoch zu seiner Position passend gemacht werden kann: diese Autoren würden jedenfalls mit Freuds Deutung zusammentreffen, „dass dieser Moses im Begriffe sei aufzuspringen und zur Tat überzugehen“ (was dann die aus unbändigem Zorn gespeiste Zertrümmerung der Gesetzestafeln wäre und somit doch wieder die gleiche Situation berührte).

Ist dies Arrangement vieler zustimmender Meinungen um seine eigene schon für einen geradezu naturwissenschaftlichen Deuter der menschlichen Seele befremdlich genug, setzt Freud noch einen entscheidenden Akzent obenauf. Er hält es für besonders pfiffig und ergiebig, auf die Deutung des Kunstwerks eine Methode der Psychoanalyse anzuwenden. Freud habe dies sein Verfahren in der Arbeit eines russischen Kunstsachverständigen wiedererkannt, der Originale von Fälschungen zu unterscheiden wusste, „indem er vom Gesamteindruck und von den großen Zügen eines Gemäldes absehen hieß und die charakteristische Bedeutung von untergeordneten Details hervorhob.“ Ebenso gehe die Psychoanalyse vor, die „aus geringgeschätzten oder nicht beachteten Zügen, aus dem Abhub – dem » refuse« – der Beobachtung, Geheimes und Verborgenes“ errät.
Nach dieser methodologischen Weichenstellung – sozusagen zur Konzentration auf das Unwesentliche – befasst sich Freud vornehmlich mit einem Detail an der Figur Michelangelos: mit deren rechter Hand. Jörg Bittner (Wikipedia) hat dankenswerterweise auch diese Sicht auf die Figur in einem sehr gut aufgelösten Foto dokumentiert (Abb. 3).

Freud geht eingehend Fragen wie jener nach, ob die rechte Hand eher ausgeruht oder nervös mit den Bartsträhnen spielt. Er kommt dann irgendwann zum Ergebnis, dass in dieser Hand- bzw. Armhaltung das Ende eines Bewegungsablaufs eingefroren sei, der zunächst die rechte Hand zornig-erschreckt auffahren ließ, um sie alsbald wieder zurückzuziehen, weil die Gesetzestafeln abzugleiten, herabzufallen und zu zerspringen drohten. Daraus zieht Freud eine nachgerade tollkühne Schlussfolgerung, die jedenfalls in krassem Widerspruch zur biblischen Geschichte steht, nach der Mose die Gesetzestafeln angesichts der Verehrung des Goldenen Kalbs durch sein Volk im Zorn zertrümmert habe. Freud hingegen unterlegt Michelangelo folgende Darstellungsabsicht:

Was wir an ihm [Moses] sehen, ist nicht die Einleitung zu einer gewaltsamen Aktion, sondern der Rest einer abgelaufenen Bewegung. Er wollte es in einem Anfall von Zorn, aufspringen, Rache nehmen, an die Tafeln vergessen, aber er hat die Versuchung überwunden, er wird jetzt so sitzen bleiben in gebändigter Wut, in mit Verachtung gemischtem Schmerz. Er wird auch die Tafeln nicht wegwerfen, daß sie am Stein zerschellen, denn gerade ihretwegen hat er seinen Zorn bezwungen, zu ihrer Rettung seine Leidenschaft beherrscht.

Natürlich muss sich Freud die Frage stellen, ob es Michelangelo tatsächlich gewagt haben könnte, sich so in Gegensatz zur biblischen Geschichte zu setzen. Er fragt also: Dürfen wir Michelangelo diese Freiheit zumuten, die vielleicht nicht weit von einem Frevel am Heiligen liegt?

Es würde hier zu weit führen, die bibelexegetische Rabulistik von Freud und seine Interpretationen mittelalterlichen Bibelverständnisses zu referieren, über die er seine Position zu untermauern sucht (das kann leicht im Quelltext nachgelesen werden, der im Web zur Verfügung steht – siehe Literatur unten). Entscheidend ist nämlich ein ganz anderer Aspekt: Freud beschränkt sich allein auf die Szene um das goldene Kalb, nimmt aber weder die Entwicklung bis dorthin, noch die Entwicklung danach aus der Darstellung des „Exodus“ zur Kenntnis. Freud wird also auch insofern ein Opfer seiner Methode der Zentrierung auf Details, statt seine Sicht auf das Ganze zu richten.

2. Erzählungen vom Exodus

Es ist durchaus empfehlenswert, einmal den gesamten Exodus zu lesen – nicht so sehr mit Blick auf die allseits bekannten Geschichten von den zehn Plagen, die über Ägypten kamen oder von der Durchquerung des trocken gefallenen Roten Meeres und dem Untergang der pharaonischem Armee in dessen zurückschwappenden Fluten. Daneben könnte dann ein anderer Wesenszug dieser Geschichte auffallen: Das Volk Israel schwankt beständig zwischen der Bereitschaft, Moses zu folgen und seiner Wut darüber, dass Moses es aus Ägypten weggeführt hat.

Es sind immer wieder alltägliche wüstentypische Probleme, die dies Wanken auslösen und gegenüber dem Darben in der Wüste das zurückgelassene Leid in der ägyptischen Fron erträglicher erscheinen lassen. Meist ist es fehlendes Wasser (Moses schlägt es dann aus einem Stein), mal fehlende Nahrung (Moses lässt Manna regnen). Mal ist es die erlahmende Kraft des Anführers, etwa beim Kampf mit dem Stamm der Amalekiter: Die Israeliten obsiegen solange, wie Moses auf dem Berg über dem Schlachtfeld seine Arme erhebt. Der Kampf dauert und Moses Arme werden müde. Der Sieg wird nur errungen, weil Bruder Aaron und Diener Hur seine erhobenen Arme bis zum Sonnenuntergang auf ihren Schultern stützen (Exodus, 17.8 ff).

Und mal ist es einfach nur die lange Abwesenheit Moses, der seinen Herrn auf dessen Berg aufsucht und dort über viele Tage verbleibt. Ohne ihren Anführer fallen die Israeliten alsbald in vormonotheistische Traditionen zurück und fertigen sich ein Gottesbild, das sie anschauen und ihrer Wanderung vorantragen können, das nicht so abstrakt ist, wie der Gott Moses‘ und seiner Erzväter, der nicht einmal einen Namen hat und daher Herr zu nennen ist.

Demgegenüber hat das Götterbild, das sie sich fertigen, einen einfachen Namen und eine klare Gestalt: es heißt „Stier“ und es ist aus wertvollem Gold. Selbst Moses Bruder Aaron fällt vom Gott der Erzväter ab. Denn er ist es, der den Stier aus dem in Ägypten geraubten Gold fertigt. Die Ägypter waren von den großen Plagen, die über das Land gekommen waren, so gelähmt, dass sich die Israeliten kurz vor ihrem Auszug gar noch ägyptischen Schmucks bemächtigen konnten (Exodus 12.35 f), der nun in der Wüste eingesammelt und eingeschmolzen wird. Ägyptisches Gold wird zu einem ägyptischen Gottesbild, denn schon in Ägypten wurde der Stier als Gott verehrt – konkret etwa in Hep (gr. Apis), dem heiligen Stier von Memphis, der als Verkörperung des Gottes Ptah verehrt wurde. Oder in der Himmels- und Muttergöttin Hathor, die zwischen ihren Kuhhörnern die Sonnenscheibe trug.

An dieser Stelle ist der popularisierten Begriffsbildung vom goldenen „Kalb“ entgegenzutreten, die heute das Allgemeinbewusstsein beherrscht. Wikipedia berichtet insofern treffend: Da die Stierkulte in der Bibel negativ gewertet wurden, verwendeten die Übersetzer das Wort Kalb, um die Verehrer eines „Kälbchens“ damit zu verspotten. Die abwertende Bezeichnung als „Kalb“ diente also zur Abwertung eines vormonotheistischen Götterkults, um den einzigen Gott Moses und seiner Vorfahren durchzusetzen. Denn das an der fraglichen Stelle verwendete hebräische Wort עגל für „Kalb“ bezieht sich auf ein männliches Tier, weil es für die weibliche Färse, die junge Kuh ein eigenes Wort עגלה gibt.
Ähnliche Funktion hatte etwa die Stigmatisierung der Schlange in der Genesis, die zuvor ein wesentliches, positiv besetztes Attribut matriarchalen Götterkults war (konkret etwa bei der Kretischen Schlangengöttin; vgl. allgemein die Arbeiten von Marija Gimbutas).

Das Motiv beständigen Wankens zwischen Gefolgschaft und Abkehr, das für das Verhältnis des israelitischen Volkes zu Moses so prägend ist, hatte sich schon in Ägypten selbst gezeigt, als der aufkeimende Wunsch nach Auswanderung durch den Pharao mit verschärfter Fron beantwortet wurde. Dies Motiv prägt die Wanderung in der Wüste und kulminiert, als die Wanderung endlich am Berg Gottes angekommen ist, der heute allgemein als Berg Sinai bezeichnet wird.

Moses besteigt diesen Berg keineswegs einmal, um die Gesetzestafeln zu holen und dann im Zorn über sein abgefallenes Volk zu zertrümmern. Ich zähle im Exodus mindestens vier Besteigungen dieses Berges. In sich geradezu quälend lang hinziehenden Zyklen von Aufstieg und Rückkehr geht es immer wieder darum, das Volk Israel auf die Gesetze des Erzvätergottes einzuschwören, das aber ebenso regelmäßig immer wieder wankt und vom Glauben an diesen Gott abfällt.

Bei der ersten Bergbesteigung erscheint dieser Gott als Vulkan, dessen Feuer- und Rauchsäule schon zuvor wegleitend gewesen war (Ex. 19.18):

Der ganze Berg Sinai aber rauchte, weil der Herr auf den Berg herabfuhr im Feuer; und der Rauch stieg auf wie der Rauch von einem Schmelzofen, und der ganze Berg bebte sehr.

Bei der zweiten Besteigung, bei der sich der Berg erneut als Vulkan gibt, empfängt Moses die berühmten „Zehn Gebote“ (Ex. 20.1 ff), aber auch allerlei weitere „Rechtsordnungen“ (von denen die „gute“ evangelische Kirche heute lieber nicht mehr so gerne spricht, weil sie so leicht an „bösen“ Islamismus erinnern).

Erst die dritte Besteigung führt zur Beschriftung jener Tafeln, die Moses nach Rückkehr angesichts des erneuten Abfalls seines Volkes zertrümmert.

Mit der Zerstörung beider, des goldenen Stiergottes wie der Gesetzestafeln des Herrn, ist die Geschichte aber nicht vorbei. Denn nun kommt es zur vierten und letzten Bergbesteigung – die von Burckhardt wie Freud und all den anderen von Freud herangezogenen Literaten schlicht übergangen wird. Wie schon angemerkt: Freuds methodologische Zentrierung auf Details lässt die gebotene Sicht auf das Ganze schwinden, mit fatalen Folgen für die Deutung des Kunstwerkes.

Im Zuge seiner vierten Bergbesteigung werden neue Steintafeln wiederum mit den Gesetzen beschriftet. Moses bringt sie erneut herunter und schwört sein Volk ein weiteres Mal auf diese Gesetze ein. Das Volk folgt ihm wieder einmal.

Freud hätte also gar keine Situation durch waghalsige interpretatorische Pirouetten erfinden müssen, dass Michelangelos Moses die Gesetzestafeln nicht zertrümmert, weil er seinen Zorn über die Verehrung des goldenen Stiers bezwänge. Freud hätte nur das Standbild von Michelangelo in die einzig richtige Situation einordnen müssen, nämlich in die nach der vierten und letzten Bergbesteigung, in der die Tafeln tatsächlich nicht ein zweites Mal zertrümmert worden sind.

Die Bibel bemüht sich sehr, diese letzte Szene einer erneuten Einschwörung des Volkes auf die göttlichen Gesetze nach der vierten Bergbesteigung deutlich von der Zornesszene nach der dritten Bergbesteigung zu unterscheiden – durch ein Merkmal, das Freud in seinem Aufsatz (wie schon vermerkt) völlig ignoriert, obwohl es doch das auffälligste und befremdlichste an Michelangelos Standbild ist: Die Hörner auf Moses Kopf.

Im Grunde diskreditiert hier Freud seinen methodischen Ansatz, der von Nebensächlichkeiten das Wesentliche erschließen soll, so grundsätzlich, dass die Frage nicht weichen will, warum er so verfahren ist. Die Hörner scheinen ihm offenbar so wenig ‚nebensächlich‘ zu sein, dass er ihnen keinerlei Gedanken widmet, womit ihm aber das Wesentliche entgeht. Obwohl Freud sogar einen Hinweis aus der Literatur auf diese Hörner zitiert, folgt er der sich aufdrängenden Frage nicht, was diese Hörner bedeuten könnten, er stößt sich nicht einmal am Zitierten. Als Einstieg in seine Erörterung, warum diese Statue „rätselhaft“ sei, bezieht er sich auf den „Kunstschriftsteller“ Max Sauerlandt mit dessen Ausspruch: Über kein Kunstwerk der Welt sind so widersprechende Urteile gefällt worden wie über diesen panköpfigen Moses.

„Pan“ ist zweifellos ein völlig falsches Bild (Abb. 4). Dabei handelt es sich um jenen griechischen Hirtengott mit Ziegenunterleib und Ziegenhörnern, der weder von seiner deutlich späteren kulturgeschichtlichen Einordnung noch von seinen Attributen in irgendeiner Weise passt.

3. Das strahlende Horn

Zum Wesentlichen dringen wir nur vor, wenn wir den eingangs zitierten Unfug aufklären, den Wikipedia mit dem angeblichen „Übersetzungsfehler“ in der Bibel verbreitet:

Zum Ende des biblischen Buches (deutsche Übersetzung), wo der „Exodus“ den letzten Abstieg vom Berg schildert, wird mehrfach hervorgehoben, dass die Gesichtshaut Moses „glänzte“. Sie glänzte so sehr, dass er sie mit einem Tuch überdecken musste, wenn er seinem Volk gegenübertrat. Denn das konnte diesen Glanz kaum ertragen (Ex. 34 29 ff). Diese Bedeutung „Glanz“ bzw. „glänzen“ wird dem alten hebräischen Wort קרן – umschriftlich „krn“ – zugeschrieben, das im hebräisch/aramäischen Urtext an den zitierten Stellen steht (vgl. dazu die hebräische Interlinear-Bibelübersetzung zu Exodus Kap. 34). Das Hebräische ist eine linksläufige Konsonantenschrift, kennt also keine Buchstaben, mit denen Vokale verschriftlicht werden. Ein Hebräer benötigt solche Vokalzeichen auch nicht. Wenn er ein Wort kennt, weiß er, wie es – ergänzt um Vokallaute – auszusprechen ist. Hingegen wurden explizite Vokalisierungsnotationen entwickelt, um für literarische Texte eine bestimmte Aussprache festlegen zu können. Da dies aber erst um 500 nach Christus geschah (Zauzich S. 33), sind diese Vokalisierungszeichen für die hier in Rede stehenden Zeiten einer realgeschichtlichen Spur des „Exodus“ irgendwann nach Pharao Merenptah ohne jeden Belang.

Ich habe einen klugen Bekannten befragt, der mit Hebräisch als Muttersprache aufgewachsen ist. Seine Aussage: dem Wort „krn“ (vokalisiert auf „keren“) sind zwei Bedeutungen zu eigen: die eine ist „Strahl“, was die deutschen Bibeln nicht korrekt mit „Glanz“ übersetzen, die andere Bedeutung „Horn“ (auch Grubrich-Simitis – vgl. Literatur – referiert Belege für diese Sicht auf S. 61, übernimmt aber die Fehlübersetzung „Glanz“). Strahl und Horn sind zwei miteinander originär verbundene Bedeutungsvarianten dieses alten hebräischen Wortes. Dabei ist zu berücksichtigen, dass hier „Horn“ im Sinne eines Prototypen (hilfsweise könnte man sagen „Singular“) verstanden werden muss, da es reale Wesen mit einem einzigen Horn (außer in der Mythologie) nicht gibt. Ist von konkreten Hörnern die Rede, treten die als Paar auf den Köpfen gehörnter Tiere auf und werden mit „karnayim“ verbalisiert.

Auch eine kunsthistorische Studie aus dem Jahre 1991, die zum ersten Mal mit der Freud’schen Interpretation von Michelangelos Moses brach und die sodann wesentlicher Hintergrund der noch umfassenderen Studie von Grubrich-Simitis aus dem Jahre 2004 wurde, kommt zu diesem Ergebnis, dass Horn und Strahl synonym zu sehen sind und in der Kunstgeschichte auch so gesehen wurden (Verspohl S. 160; auch dieser Autor spricht aber, der gängigen deutschen Bibel-Übersetzung angelehnt, von „Glanz“ statt „Strahl“).
Der hebräische Urtext des Alten Testaments wäre also ebenso korrekt übersetzt, wenn statt dem „strahlenden“ Kopf des Moses der „gehörnte“ Kopf des Moses formuliert worden wäre, weil ein solches Horn zugleich den vom Kopf ausgehenden Strahl symbolisiert. Die lange Zeit gebräuchliche lateinische Bibelübersetzung der Vulgata hat dies unter Verwendung des Wortes „cornutus“ = „gehörnt“ auch genau so getan:

Qui videbant faciem egredientis Moysi esse cornutam, sed operiebat ille rursus faciem suam, siquando loquebatur ad eos.
(Und sie sahen, dass das Gesicht des Moses gehörnt war. So legte Moses jederzeit den Schleier über sein Gesicht, wenn er zu ihnen sprach.)

Im Mittelalter war womöglich das Bewusstsein über die Bedeutungsambivalenz des hebräischen Urworts teilweise verloren gegangen. Auch hatte man schon damals die beiden Szenen gerne stark ‚vereinfachend‘ zusammengezogen und Moses mit kräftigen Hörnern (ein Verweis auf die letzte Bergszene in einer ungleich drastischeren Ausführung als bei Michelangelo) im Zusammenhang mit der Verehrung des goldenen Kalbs in der vorletzten Bergszene abgebildet (Abb. 5). Diese ‚Vereinfachung‘ hat sich offenbar prägend durch die Jahrhunderte geschleppt und sogar den ‚klugen Kopf‘ Sigmund Freud erfasst.

Michelangelo dürfte allerdings in klarer Kenntnis der Bedeutungsambivalenz von Horn und Strahl gearbeitet haben. Denn die Hörner sind Michelangelos Figur in einer Dezentheit aufgesetzt, die jedenfalls nicht an jene plumpe Behörnung von William de Brailes anschließt. So wie Michelangelos Hörner zudem etwas asymmetrisch vom Kopf aufragen, nehmen sie Darstellungen von Strahlenkronen auf bzw. vorweg, wie wir sie bis zur New Yorker Freiheitsstatue kennen. Diese Hörner haben in ihrer prototypischen Gestalt, die keinerlei Anklang an irgendwelche konkret geformten Hörner bestimmter Wesen aufkommen lässt, ganz offensichtlich symbolischen Charakter. Und genau das gibt ihnen ihren Sinn. Denn wie sollte Michelangelo das biblische Strahlen vom Kopf des Moses darstellen, wenn seine polierte Marmorfigur schon in toto strahlt? Er hat – so ist gegen den bislang kolportierten „Übersetzungsfehler“ zu schlussfolgern – geschickt die Bedeutungsvarianten im hebräischen Wort „krn“ genutzt um „Strahlen“ durch „Hörner“ auszudrücken.

Aus Michelangelos Zeit gibt es zudem ganz eindeutige Belege, dass die beiden Szenen, die Brailes zusammenwirft und die Freud gar nicht mehr unterscheidet, sehr wohl als verschiedene Szenen erkannt wurden. Es gehörte ja eigentlich nicht viel dazu, lediglich die Lektüre des Bibeltextes. Vers­pohl hat insofern einige Belege gesammelt, u.a. die Arbeit von Cosimo Rosselli La Discesa dal monte Sinai aus den Jahren 1481/82, mithin ein halbes Jahrhundert vor Michelangelos Werk (Abb. 6).

Rosselli-Gemälde, Moses steigt vom Berg Sinai herab

Abb. 6: Drei Szenen in einem Bild von Cosimo Rosselli: Moses empfängt die Gesetze von Gott (obere Mitte), sein Volk verehrt den goldenen Stier auf einem Altar (darunter), weshalb Moses die Tafeln aufwirft (links daneben). Im linken unteren Bildsechstel hingegen präsentiert Moses in einer dritten Personifizierung die Tafeln aus der zweiten Fertigung seinem Volk. Auf seinem Kopf leuchten zwei kegelförmige Strahlen wie stark stilisierte Hörner (in diesem Abbildungsmaßstab kaum noch zu erkennen); Bildquelle Wikipedia.it(nachbearbeitet).

 

Damit ist zugleich eindeutig und unzweifelhaft bestimmt, dass der Mose von Michelangelo in die Szene nach der vierten und letzten im Exodus geschilderten Bergbesteigung einzuordnen ist. Man muss nicht über Armbewegungen spekulieren, die die Gesetzestafeln vom herabrutschen und zerspringen bewahren sollen, denn diese Tafeln blieben in dieser Szene unversehrt. Man muss Michelangelo keine der Bibel krass widersprechende Sicht unterstellen, denn er befindet sich absolut im Einklang mit der wohl verstandenen Urbibel.

Es bleibt die Frage, ob auch der Gesichtsausdruck seines Moses mit dieser Szenerie harmoniert. Haben Sie eine Notiz über Ihre Eindrücke beim Betrachten des Portraits in Abb. 1 angefertigt?

Auch Freud hat Eindrücke gesammelt. Die Sicht eines Guillaume von 1876 will er sich nicht zu eigen machen, der da befand, Moses zeige „nur stolze Einfachheit, beseelte Würde, Energie des Glaubens. Moses' Blick gehe in die Zukunft, er sehe die Dauer seiner Rasse, die Unveränderlichkeit seines Gesetzes voraus.“ Hingegen begeistert Freud die Sicht eines Thode, der eine „Mischung von Zorn, Schmerz und Verachtung“ aus Moses Gesicht las, „den Zorn in den dräuend zusammengezogenen Augenbrauen, den Schmerz in dem Blick der Augen, die Verachtung in der vorgeschobenen Unterlippe und den herabgezogenen Mundwinkeln.

Kein Wunder, dass Freud diese Wahrnehmung toll fand, bestätigt sie doch seine bereits gefestigte Deutung, man sähe hier einen vor Zorn bebenden Moses, der die Anbetung des Götzenbildes durch sein Volk erlebt. Auch der ‚kluge Kopf‘ und zudem Psychoanalytiker Freud liefert somit den Beleg für eine ganz banale Erfahrung, dass man sieht, was man sehen will. Daher mein Vorschlag eines Tests zu Beginn dieses Textes, wo vielleicht noch Unbefangenheit erwartet werden konnte.

Die Stimmungen, die ich auf diese Weise selbst eingeholt habe, entwickelten meist einen recht einheitlichen, aber ganz anders ausgerichteten Grundton: Moses erscheint kritisch beobachtend, skeptisch, zweifelnd, gar enttäuscht, geprägt von Sorge und Furcht, vielleicht sogar von Angst. Wenn Michelangelo diese Stimmungen tatsächlich ins Gesicht Moses meißeln wollte und konnte, dann hat er als großartiger Künstler genau die biblische Situation getroffen.

Moses musste nach seiner gesamten Lebensgeschichte, seinen Kämpfen in Ägypten und auf der großen Wanderung bis zum Berg des Herrn viele Erfahrungen sammeln, die den Zweifel begründeten, ob sein Volk zumindest diesmal standhaft bleiben wird, nicht erneut wankt und vom Glauben abfällt. Diese Skepsis steht ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Michelangelo hat die Mahnung in Stein gebannt, zu glauben. Was hätte einem guten Papst auf dessen Grabmal angemessener sein können.

4. Eine Hypothese zur Hornsymbolik

Bis hierher – so denke ich – ist meine Deutung gut belegt, während die Interpretateure von de Brailes bis Freud in ihrem Unverständnis (schon nach Verspohls und Grubrich-Simitis‘ Arbeiten) demaskiert dastehen. Zu meiner Antwort auf eine letzte Frage kann ich allerdings keinen schlagenden Beleg bieten, weil mir dazu die nötigen linguistischen bzw. etymologischen Spezialkenntnisse zum Hebräischen fehlen, und weil diese sehr konkrete Frage trotz viel versprechender theoretischer Erklärungsansätze (Zauzich) vielleicht gar nicht mehr geklärt werden kann.

Die Frage ist, wie ursprünglich in jenem alten hebräischen Wort קרן (keren) die Bedeutungen „Horn“ und „Strahl“ zusammenfließen konnten.

Die biblische Moses-Geschichte dürfte kaum als historisch einzuordnen sein. Allerdings gibt es Andeutungen über ein Volk „Israel“ im pharaonischen Ägypten (Merenptah-Stele aus der Zeit der Seevölkerkriege), das später in die Levante zurückgekehrt sein mag. Im dortigen räumlichen Vorfeld des ägyptischen Herrschaftsgebiets wanderten immer wieder Völker ein, wurden aber auch von Ägypten selbst dort angesiedelt. Jedoch: Sprachen jene Menschen, die in Ägypten „Israel“ genannt wurden und dann vielleicht in die Levante zurückzogen, hebräisch bzw. aramäisch? Das wissen wir nicht. Diese Menschen werden sicherlich viel von ägyptischer Kultur assimiliert haben, nachdem sie zunächst aus Kanaan nach Ägypten eingewandert waren. Sie werden die ägyptischen Stierkulte kennengelernt und erfahren haben, dass die Hörner eines vergötterten Stiers golden strahlen.

Für die Verankerung dieses Bildes auch in Ägypten dürften im Zweifel die Minoer gesorgt haben, die mit Ägypten enge Handelskontakte pflegten, sogar in ägyptischen Wandmalereien verewigt wurden und Stiere mit goldenen Hörnern modellierten (Abb. 7). Horn und strahlendes Gold waren also in dieser mediterranen Späten Bronzezeit bereits als Synonym präsent. Die offene Frage ist also nur, ob sich diese Bedeutungskombination während Israels ägyptischem Exil im hebräischen Wort „keren“ niedergeschlagen hat und mit diesem Wort im Zuge des Exodus aus Ägypten mitgenommen wurde.

Der Ägyptologe Karl-Theodor Zauzich (* 1939) hat – man könnte sagen: als Lebensleistung – die Theorie entwickelt, dass sowohl die hebräischen Buchstabennamen als auch in der Nachfolge die griechischen auf die Namen jener ägyptischen Hieroglyphen zurückgehen, die im komplexen Hieroglyphensystem für gut 20 Konsonantenbuchstaben stehen. Selbst der tiefe Sinn hebräischer Worte (und nicht nur die Stiersymbolik) wurzelt also in ägyptischer Schrift und Sprache. Zudem hat Zauzich Hinweise gefunden, dass der Buchstabenname Qoph (phonetisch „k“), der das hebräische  Wort „keren“ einleitet, auf ein ägyptisches Wort zurückgeht, das mit der Bedeutung „Stier“ in Bezug steht (Zauzich S. 75). Bedeutungen werden im Hieroglyphensystem durch sogenannte „Determinativa“ festgelegt, die einem Wort nachgestellt, aber nicht mitgesprochen werden – und hier findet sich das Determinativum „Stier“...

Nummer E1 in der Gardiner-Liste und mit dem Bild links in der Unicode-Liste standardisiert (Unicode-Nummer 130D2)

Verspohl wie Grubrich-Simitis meinen, mit dem Strahlen seines Gesichts beim Abstieg vom Berg sei der „Glanz Gottes“ auf Moses übergegangen. Wie selbstverständlich gehen beide davon aus, dass das der göttliche Glanz jenes Gottes war, der in der Bibel „Herr“ genannt wird. Beide geben sich keine Rechenschaft über die Prämisse, die dieser Interpretation zugrunde liegt. Denn diese Interpretation gründet allein im Glauben, dass es diesen Gott gibt und dass er sich auf dem Berg, den Moses bei allen vier Aufstiegen erklommen hat, Moses offenbar habe. Da Moses immer allein auf dem Berg gewesen sei, war kein Zeuge zugegen. Rein phänomenologisch hat sich lediglich ein Vulkan mit Feuer und Rauch ‚offenbart‘, auf den eine von der Bibel „Moses“ genannte Person mehrfach gestiegen sei – und auf dem sich diese Person vielleicht durch die Strahlung der heißen Lava das Gesicht gerötet haben mag.

Auch von der Symbolik her erscheint es abwegig, dass die Begegnung mit diesem Gott ausgerechnet durch das Synonym von Horn und Strahl ausgedrückt werden soll. Horn und Strahl haben weder etwas mit einem Vulkan, noch mit Attributen des Erzvätergottes zu tun, so man denn überhaupt in den Texten Hinweise auf solch göttliche Attribute findet. Horn und Strahl sind hingegen eins mit den alten Stiergottheiten, die die Israelis in Ägypten kennen gelernt haben, zu denen sie zurückgekippt sind, und die Moses auszulöschen versuchte. Damit bleibt als einzig sinnvolle Interpretation, dass die unbekannten Autoren des ‚Exodus‘ das Strahlen der goldenen Stierhörner auf Moses übergehen ließen. Das soll ganz einfach ausdrücken: Moses hat den ägyptischen Gott besiegt, sein Bild zerstört und zugleich einen neuen an dessen Stelle gesetzt (der bereits der Gott der Erzväter war). Er hat aber die Attribute des ägyptischen Gottes nicht mitzerstört, sondern auf seinem alten erneuerten Gott übertragen.

Wir sehen damit in Horn und Strahl eine vor-monotheistische göttliche Symbolik, die über die Figur des Moses in die monotheistische Religion mitgenommen wurde – um die von ihm angeführten Menschen in diese Religion mitzunehmen.

Auch die akustische Untermalung des Geschehens bekräftigt diese Deutung der biblischen Geschichte. Auch sie rekurriert nämlich auf Hörner und tut dies genau in jenen Situationen, in denen sich der Erzvätergott als Vulkan offenbart. Dafür gibt es im „Exodus“ gleich zwei sehr ähnliche Belegstellen: 19.19 und 20.18. An beiden Stellen erhält der rauchende und feuerspuckende Berg eine Stimme, die nicht nur Moses, sondern das gesamte Volk hören kann. Unsere heutigen Bibeln übersetzen sie als „Posaune“. Hier die zweite Belegstelle in 20.18:

Und alles Volk wurde Zeuge von dem Donner und Blitz und dem Ton der Posaune und dem Rauchen des Berges. Als sie aber solches sahen, flohen sie und blieben in der Ferne stehen…

Tatsächlich aber steht im hebräischen Urtext nicht der Name dieses sehr viel jüngeren Blechblasinstruments, sondern eines der ältesten Instrumente der Menschheitsgeschichte, die Urform des Naturhorns, das Schofar, hebräisch שׁוֹפָר. Es war in den Kult Israels eingegangen, weil seine Symbolik eine vergleichbare Rolle gespielt hatte wie die Symbolik der strahlenden Hörner des Moses: Es symbolisiert den Übergang von vormonotheistischen Kulten zur Huldigung des Gottes der Erzväter. Das Schofar erinnert an den Erzvater Abraham, der fest entschlossen war, seinem Gott ein Menschenopfer zu bringen, nämlich seinen eigenen Sohn Isaak. Die Bibel tauscht dann im Vollzug dieses archaischen Kults das Menschenopfer gegen einen (gehörnten) Widder aus und vollzieht somit den Übergang zum Monotheismus zugleich ab Abkehr von archaischer Grausamkeit. Wenn sich der Erzvätergott nun aus dem Vulkan als Schofar, also als Stimme eines Tierhorns vernehmen lässt, wird auch für den Klang dieser Offenbarung keine eigene originäre Symbolik konstituiert, vielmehr erneut eine Anleihe an ein Symbol des abzulösenden Kultes genommen.

An diesem Schlusspunkt der Argumentation kann ich nun auch verraten, was mein eigentlicher Anlass gewesen ist, mich mit dem gehörnten Moses zu befassen:

Es bleibt auch nach allen vorangegangen Überlegungen immer noch befremdlich, einen Menschen mit Hörnern auszustatten, zumal einen Propheten des Monotheismus. Es wurde schon angedeutet, dass Michelangelo dies Attribut sehr behutsam auf den Kopf seines Moses gesetzt hat, um jedenfalls keine Assoziationen zu bestimmten hörnertragenden Wesen in Gang zu bringen. Die Hörner sind also reine Symbolik.

Eine solche Symbolik war auch das Ergebnis einer meiner Untersuchungen zur Aufklärung des ‚Seevölker-Rätsels‘ (vgl. „Die Kronen der Krieger“ auf homersheimat.de). Ich hatte mich auf die Suche gemacht, im Mittelmeerraum jene Kriegertypen wiederzufinden, die auf ägyptischen Tempelreliefs als Seevölkerkrieger vielfach abgebildet sind. Irgendwo mussten sie ja hergekommen sein und – so die Fragestellung – in ihren Herkunftsregionen sollten sich korrespondieren Bilder dieser Krieger finden lassen. Ziel dieser Untersuchung war es natürlich, bessere Belege über die Herkunft der immer noch als „geheimnisvoll“ apostrophierten Seevölker zu sammeln.

Jedenfalls meine Untersuchungen blieben insofern ergebnislos. Nirgends ließen sich (zumindest keine verlässlichen) Bilder finden, die die Kriegertypen auf den ägyptischen Tempelreliefs auch in möglichen Herkunftsländern dargestellt hätten. Hinzu kam, dass insbesondere die Hörnerhelme eines der Seevölker – „Shardanen“ genannt – eine absolut dysfunktionale Passivbewaffnung darstellen. Jeder Schwerthieb auf den vom Helm eigentlich zu schützenden Kopf würde auf beiden Seiten entlang von einem der beiden Hörner just ins Zentrum dieses Kopfes gelenkt.

Hörnerhelmkrieger der Shardanen auf ägyptischem Tempelrelief

Abb. 8: Hörnerhelmkrieger (Shardanen-Seevolk) auf ägyptischen Tempelreliefs (Umzeichnungen mit farbiger Unterlegung wichtiger Attribute) – links mit mykenischen Schwertern im Kampf gegen ägyptische Soldaten, rechts mit Sonnenscheibe zwischen den Hörnern und ägyptischer Metallkeule in ägyptischen Diensten, beide mit dem gleichen Schurz bekleidet.

 

Es konnte sich bei diesen Hörnerhelmen also nur um Symbolik handeln, nicht aber um eine reale historische Helmform. Insofern kommen für mich vor allem die ‚mykenischen‘ Eroberer Kretas als „Shardanen“ in Frage, die die minoischen Kultur umfassend adaptiert haben – und damit auch deren Stierkult. Meine Interpretation zielt also darauf ab, dass diese Shardanen auf den ägyptischen Tempelreliefs rein symbolisch durch Hörnerhelme identifiziert wurden. Diese Symbolik setzte sich im Übrigen dort fort, wo gefangene Shardanen von Ägypten in militärische Söldnerdienste übernommen wurden. Dann sieht man die Helme zwischen den Hörnern um eine Sonnenscheibe ergänzt – wie bei der ägyptischen Göttin Hathor (Abb. 8).

Die Untersuchung zum gehörnten Moses führt nun zum gleichen Ergebnis. Hörner sind einerseits reale Attribute von vergöttlichten Tieren, andererseits wesentliche Symbole dieser Vergöttlichung. Da auch diese Symbolik aus Ägypten stammt, wird die Interpretation der Hörnerhelme jenes Shardanen-Seevolks als reine Symbolik bekräftigt.

 

Literatur

 

Widmung

Ich widme diesen Essay einem Israeli namens Sigi Keren (Foto M.S. von 1995). Er trägt das für die Moses-Interpretation so konstitutive „Strahlen“ als Synonym zu „Horn“ in seinem Namen. Er gehörte zu jenen deutschen Juden, die noch vor Hitler fliehen konnten, mit ihren großen Überseekisten und darin verpackten Habseligkeiten an einem sumpfigen Strand Nordisraels landeten, diesen trocken legten und die Stadt Naharija entwarfen. Dort wurden die großen Kisten zu Keimzellen neuer Häuser, die emigrierten Juden zu Gründern eines liberalen Israel und Sigi Keren zum Vizebürgermeister mit großer freundlicher Ausstrahlung. Seine Generation wurde dann von russisch-stämmigen Migranten majorisiert und beiseite gedrückt, die viel zum heutigen verkrusteten Israel beigetragen haben. Sigi Keren hat auch in dieser Situation seine Strahlkraft bewahrt. Er war ein Moses, auch weil er – wie Moses – seine Vision nicht mehr vollenden konnte.

 

Michael Siebert, November 2016

 

 

Diesen Essay gibt es auch in einer (besser druckbaren) PDF-Version von knapp 2 MB: Der gehörnte Moses (PDF). Die Datei öffnet auf einem separaten Reiter.