Diesen Essay gibt es auch in einer druckfähigen PDF-Version mit ergänzenden Anmerkungen und Literaturverweisen sowie einem weiteren Kapitel „Iklaina im Lichte der Linear B-Tafeln“: Iklaina – ein ‚neuer‘ ‚mykenischer‘ ‚Palast‘.

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Iklaina


Übersicht:


Diese 2. Version des Iklaina-Berichts wurde insbesondere zur Lage und zum Sichtfeld von Iklaina korrigiert (Abb. 3) bzw. erweitert (Abb. 4)

 

1. Spektakuläre Entdeckung

Man mag es kaum glauben: Erst seit 2006, in einer Welt 4.0, die alles zu wissen meint, deren global agierende Datensammler Landschaften wie Gehirne bis ins Detail gescannt haben, legen amerikanische Archäologen in den weitflächigen Olivenhainen auf der fruchtbaren Hochebene des kleinen messenischen Dörfchens Iklaina die Ruinen einer Anlage frei, die in ‚mykenischer‘ Zeit vor über 3.200 Jahren gebaut worden war (Abb. 1). Der Hinweis auf diese Ruine kam auch nicht von einem jener Datensammler, sondern schon vor langer Zeit vom griechischen Archäologen Spyridon Marinatos, der durch seine Freilegung des minoischen Akrotiri auf Santorin bekannt geworden war. Dort ist er 1974 in den laufenden Grabungen durch einen Unfall gestorben und konnte seine Entdeckung in Messenien nicht mehr weiter verfolgen, der Fundort geriet fast in Vergessenheit.

Der Archäologe Michael Cosmopoulos vom Department of Anthropology and Archaeology an der Universität von Missouri–St. Louis hat Marinatos‘ Entdeckung aufgegriffen und das Gelände in den Jahren 1999 bis 2006 zunächst weiträumig oberflächig untersucht (survey). Seitdem ist er in einem großen Team, mit beispielhafter Konsequenz und erfrischender Mitteilungsfreude engagiert, die Ruine in jährlichen Grabungskampagnen schrittweise zu öffnen und zu deuten. Das Projekt läuft unter dem Kürzel IKAP (= Iklaina Archaeological Project), im Web: http://www.iklaina.org/.

Diese Grabungen sind gut für eine Sensation. Doch deren Dimension erschließt sich erst auf dem Hintergrund einer Interpretation, die bislang das Bild der ‚mykenischen‘ Welt Messeniens in Wissenschaft und interessierter Publizistik bestimmt hat und die gerne Homers Erzählungen einbindet. In Kürze gesagt geht es um Folgendes:

Da gab es einen greisen und weisen König Nestor, der im troianischen Krieg nur noch als Berater, nicht aber als Krieger und Menschenschlächter tätig war. Nestor habe in einem prachtvollen Palast über Messenien im Westen des Peloponnes geherrscht. In den Jahren 1952 bis 1964 grub der Archäologe Carl Blegen in Messenien oberhalb des Golfes von Navarino einen Palast aus, der in ‚mykenische‘ Zeit datiert wurde. Auf dem Hintergrund einer gedanklichen Zuordnung von Homer und Archäologie wurde diese Anlage „Nestor-Palast“ genannt (die Wissenschaft sagt seit Blegens Veröffentlichung „Palace of Nestor“ und kürzt das meist mit „PN“ ab).

Die Platzierung der mythologischen Figur Nestors in diesen archäologisch-realen Palast war nur eine plakative Idee, nichts weiter. Real sei dieser Palast Zentrum eines Staates gewesen. Von hier aus wurden Produktion und Handel kontrolliert, was die Palastbediensteten auf Tontafeln mit Linear B-Beschriftung archivierten. Der König residierte im Thronsaal dieses Palasts an einer zentralen Feuerstelle, die für Opfer und Verzehr kompletter Ochsen groß genug war. Er herrschte über zwei Provinzen „diesseits“ und „jenseits“ des Aigaleon-Gebirges. Die westliche Provinz sei in neun, die östliche in sieben oder acht Bezirke eingeteilt gewesen.

Für die Verwaltung eines jeden Bezirks sei ein Subzentrum zuständig gewesen, das der Zentrale im Nestor-Palast unterstand. Die Namen dieser Subzentren sind auf den im Nestor-Palast gefundenen Linear B-Täfelchen (in wechselnden Konstellationen) vermerkt (dazu mehr in der separaten PDF-Version dieses Artikels), ihre konkrete Lage ist faktisch durchgängig unbekannt bzw. spekulativ.

Dennoch hat man eine Rekonstruktion versucht, die im Infopavillon vor dem seit 2016 wieder für Besichtigungen geöffneten Nestor-Palast auf einer Karte festgehalten wurde (Abb. 2). Von den „diesseitigen“ Bezirksverwaltungen sind in dieser Karte nur 6 (von 9), von den „jenseitigen“ nur 4 (von 7 oder 8) vage lokalisiert. Weil es für solche Lokalisierungen keine verlässlichen Hinweise gibt, wurden all diese Namen in der Karte ehrlicherweise mit einem Fragezeichen versehen.

Rekonstruktion des bronzezeitlichen Staates um den Nestor-Palast in Messenien

Abb. 2: Rekonstruktion des vom Nestor-Palast (roter Punkt) beherrschten Staates mit den beiden Provinzen „hither“ und „forther“ beidseits des Aigaleon-Gebirges. Grundlage waren Ortsnamen auf den Tontafeln des Linear B-Archivs aus dem Nestor-Palast, die teilweise in den Plan übernommen wurden (das sind die Wörter mit Silbentrennung durch Bindestriche). Die griechisch/lateinisch benannten dunkelgrünen Punkte markieren heutige Orte. (Foto einer Infotafel am Nestor-Palast, Bild 2017-6333)

 

Michael Cosmopoulos hat sich der Meinung des großen Linear B-Erforschers Emmet L. Bennett angeschlossen, dass der Linear B-Name „a-pu2-we“ aus dem Pylos-Archiv der Linear B-Tontafeln den Ort einer „diesseitigen“ Bezirksverwaltung bezeichnet, die nahe dem heutigen Dörfchen Iklaina lag (in Abb. 2 wenig rechts unterhalb des rot markierten Nestor-Palasts). Nach dieser Zuordnung war er davon überzeugt, dass der von ihm ausgegrabene mykenische Siedlungsort bei Iklaina diese vom Nestor-Palast abhängige Bezirksverwaltung war.

Diese Abhängigkeit Iklainas (=a-pu2-we) vom Nestor-Palast habe aber nicht immer bestanden. Zuvor habe es im frühen 14. Jh. eine palastartige Bebauung von Iklaina, und damit wohl eine eigenständige Herrschaft gegeben. Diese Bebauung sei in der Mitte des 14. Jahrhunderts (also gegen 1350) „durch einen feindlichen Angriff“ zerstört worden. Weil danach der Nestor-Palast weiter ausgebaut wurde und an Bedeutung gewann, während in Iklaina eine anders ausgerichtete, kleinteiligere Bebauung entstand, kam Cosmopoulos zur Ansicht, dass dies Iklaina vom Herrscher im Nestor-Palast erobert, zerstört und unterworfen worden war, der es dann als abhängige Bezirksverwaltung neu aufbauen ließ. So der Stand, wie ihn Cosmopoulos noch 2012 veröffentlichte.

Schauen wir uns zunächst etwas genauer an, wo dies Iklaina liegt. Die Karte in Abb. 2 ist da etwas tendenziös, weil sie den Nestor-Palast (roter Punkt) zu küstennah exponiert, während sie Iklaina zu weit ins Landesinnere zurücknimmt. Die reale Lage dieser beiden Orte zeigt die OSM-Karte in Abb. 3 besser.

Nach Rücksprache mit dem Grabungsleiter kann das Sichtfeld von Iklaina so definiert werden: Im Norden ist von einer erhöhten Position über der an den Plateaurand vorgeschoben großen zyklopischen Terrasse (also nicht vom Geländeniveau aus) an der nördlichen Bergnase vorbei gerade noch der Nestor-Palast in knapp 4 km Entfernung zu sehen. Nach Südwesten verdeckt der Elaiophyto-Höhenrücken den Blick auf den Golf von Navarino mitsamt seinem Vorgebirge und der dortigen „Nestor-Höhle“ (Abb. 4). Zentral fällt der Blick über das heutige Dorf Korifasi hinweg auf das Gelände der historischen Hafenanlagen mykenischer Zeit (vgl. dazu die in Abb. 3 eingetragenen Konturen), wie sie Eberhard Zangger rekonstruiert hat.

Sicht von Iklaina (Messenien) Richtung Küste über dei laufefnden Grabungen hinweg.

Abb. 4: Ergänzend beschriftetes Bild aus einem Grabungsvideo (Drohnenflug über das Grabungsgelände) mit Blick nach Westen; der „Nestor-Palast“ (Epano Englianos) liegt weit rechts außerhalb dieser Perspektive.

 

Damit lag Iklaina ähnlich ‚zentral‘ wie Epano Englianos – gegen Einblicke von der Küste aber etwas zurückgenommen wie etwa das große Vorbild von Knossos auf Kreta, dennoch mit guter Kontrolle über das wichtige Vorfeld.

Auf dem Hintergrund der Grabungen v.a. von 2016 hat nun Cosmopoulos seine bisherige Sicht korrigiert: Die Hypothese einer frühen Zerstörung von Iklaina, der sodann das Aufblühen des benachbarten Nestor-Palasts folgte, lässt sich nicht mehr halten. Die herrschaftlichen Bauten von Iklaina standen vielmehr zeitlich parallel zu Epano Englianos. Der Standort muss also als gleichwertig zum Nestor-Palast angesehen werden, er war jedenfalls kein untergeordnetes Bezirkszentrum, sondern vielmehr ein eigenständiger gewichtiger Standort. Wenn diese neue Sicht durch die zukünftigen Grabungen bestätigt werden sollte, wird es die geringste Konsequenz sein, dass die Verwaltung der Nestor-Palast-Grabungsstätte die oben abgebildete Karte (Abb. 2) einstampfen kann. Die komplette Hypothese zur Staatsorganisation im ‚mykenischen‘ Messenien um einen „Nestor-Palast“ von Epano Englianos herum steht zur Disposition.

In der Zusammenfassung des Grabungsreports für 2016 liest sich das so:

This year's excavations provided proof that the ambitious building program that was undertaken at Iklaina… can be dated to the LH III2[meint wohl: LH IIIA2]/IIIB period (ca. 1350-1250 BC)…

Based on the above, the existing hypothesis, grounded on hierarchy and clear vertical stratification of primary vs. secondary centers of power, needs to be adjusted. The revised hypothesis, according to which the formation of the state of Pylos was not the result of the forceful integration of lower-order centers by a higher-order one, but instead of the unification of centers of power more or less on the same level of hierarchy, will be explored in the next excavation season.

2. Gang durch Iklaina

Eine Beschreibung der Gesamtanlage von Iklaina ist noch schwierig:

Abb. 5 versucht, eine Übersicht zu geben:

Übersichtsplan zu den Grabungen von Iklaina

Abb. 5: Archäologische Bestandsaufnahme des spätbronzezeitlichen Areals bei Iklaina mit seinen z.Z. drei Grabungskomplexen. Wesentliche Baustrukturen sind farblich unterschieden. Die Legende oben links ordnet diese Farben näherungsweise einer Zeitskala zu. Der Ausschnitt unten rechts aus dem Nestor-Palast-Grundriss im gleichen Maßstab soll als Größenvergleich dienen.

 

In diesem Plan habe ich Teile der ausgegrabenen Strukturen farbig hervorgehoben (weitere nicht farblich zugeordnete Strukturen bleiben grau). Die links oben ergänzte Zeitschiene gibt ein wenig Orientierung für den Zeithorizont und ordnet – mit allen Vorbehalten – die farbig hervorgehobenen baulichen Strukturen im Plan zeitlich ein. Real dürften sich die Bauphasen deutlich komplexer differenzieren.

Gar nicht berücksichtigt sind in dieser Darstellung Spuren einer Besiedlung gegen Ende der Mittleren Bronzezeit (Mittleres Helladikum, bis ca. 1675/1600), die mit Zerstörung endete.

Eine Wiederbesiedelung erfolgte in der späten Bronzezeit ab der Phase LH II (Late Helladic II) – und damit in gleicher Zeit wie im benachbarten Nestor-Palast. Sie begann vor allem mit den blau eingefärbten Hausstrukturen, die sich leicht gekippt von NW nach SO orientieren. Diese Ausrichtung wurde ab LH II spät/Anfang LH III im Südwestkomplex durch neue große repräsentative Bauten aufgenommen, die somit eine gewisse Kontinuität zeigen. Anders war das in den Siedlungs- und Werkstättenkomplexen im Nordbereich, die nun mit ihrer Nord-Süd-, bzw. West-Ost-Orientierung die alten Strukturen überlagerten. In aktuellen Grabungsplänen (und auch in Abb. 4) erscheinen diese beiden nördlichen Komplexe nur deshalb voneinander abgetrennt, weil zwischen ihnen ein Feldweg durchs Gelände führte (gut in Abb. 1 zu sehen). Der ist jüngst östlich der Grabungserweiterung „new plot“ neu um das Grabungsgelände herum angelegt worden, damit die Bauern rundum ohne Störung der Grabungen ihre nach wie vor eng angrenzenden Olivenhaine erreichen können.

Im Norden sehen wir (nach den alten Baukörpern der Komplexe A und B aus der ersten ‚blauen‘ Phase) ein West-Ost-orientiertes Megaron (rot) mit der typischen zentralen flachen runden Feuerstelle und wohl auch den Basen von drumherum angeordneten Säulen. Wie der Größenvergleich mit dem Zentralteil des Nestor-Palastes zeigt (untere rechte Ecke der Abb. 4), fiel dies Megaron deutlich kleiner aus als das in Pylos.

Um das Megaron herum wurden (vielleicht etwas später – grün) bauliche Strukturen ergänzt, die schließlich auch zur Zerteilung des Zentralraums mit der Feuerstelle geführt haben. Ergänzende Raumfolgen um ein Megaron gibt es in allen mykenischen Palästen – meist aber wesentlich stattlicher. Eine Verkleinerung (bzw. Zerteilung) des Megaron fand man (bislang) aber nur in Tiryns, wo diese sehr späte Modifikation erst nach der Zerstörung all der ‚mykenischen‘ Paläste um 1200 datiert wird.

Der nördliche Megaron-Komplex wurde in einem abschließenden baulichen Akt nach Westen hin, also wenig oberhalb der dortigen steilen Geländekante, an der das Hochplateau von Iklaina endet, durch eine dünne Mauer abgegrenzt. Die kann aber ob ihrer geringen Mächtigkeit nicht als militärische Befestigungsmauer gewertet werden. Sie grenzt somit eher einen besonderen städtebaulichen Raum zum Außenbereich hin ab, in dessen Zentrum das Megaron stand.

Nach Süden hin geht dieser Stadtraum jedoch ohne Zäsur in ein ‚Gewerbegebiet‘ über, dessen mit Steinplatten abgedeckte Abflusskanäle (graue gekurvte Strukturen in Abb. 4) unmittelbar am Megaron vorbei zur Mauer – und dann wohl durch diese hindurch zum Steilhang – führen. In dieser „industrial area“ hat man u.a. einen Raum mit einer zentralen, runden, 10 cm flachen Feuerstelle nebst Säulenbasen drumherum gefunden sowie im Nachbarraum eine 80 x 50 cm große Badewanne. Die Situation ähnelt frappant einer gleichen im Nestor-Palast, die man dort als Raum der Königin (PN-Raum 46) nebst Bad für Gäste (PN-Raum 43) gedeutet hat. Die „Badewanne“ in Iklaina wird hingegen mit Textilproduktion in Verbindung gebracht, die Feuerstelle in einem Raum des ‚Gewerbegebiets‘ zunächst nicht weiter interpretiert.

Sollte die grundsätzliche Einordnung als ‚Gewerbegebiet‘ Bestand haben, so ähnelt diese Situation aus meiner Sicht jener innigen Integration von Werkstätten und sakralen bzw. herrschaftlichen Räumen, wie sie in Kition auf Zypern für die späte Bronzezeit nachgewiesen wurde (vgl. Kition auf homersheimat.de).

Nach Osten hin schließen sich an beide Areale – ans Megaron- wie ans Gewerbe­gebiet – größere Baukomplexe an, die als Wohnquartier gedeutet werden (Baugruppen M und N im „new plot“).

Im Süden verbleibt somit der wohl interessanteste Teil des antiken Iklaina, der als herrschaftlicher bzw. administrativer Kern der Ansiedlung gedeutet wird (das Megaron im Norden war ja recht klein und zeigt somit, dass dieser Gebäudetyp auch von anderen Leuten neben dem lokalen Herrscher gebaut und genutzt wurde). Dieser Südbereich weist Parallelen, vor allem aber Besonderheiten gegenüber anderen Palästen und insbesondere dem benachbarten Nestor-Palast auf:

Auffälligstes Objekt ist ein 23 x 8 m großes Terrassenbauwerk, das aus „zyklopischen“ Quadern errichtet (Abb. 6) und daher von den Ausgräbern Cyclopean Terrace Buildung (CTB) genannt wurde. Die Ausgräber interpretieren es als Sockel eines zwei- oder gar dreigeschossen Gebäudes. Für dies Gebäude oder gar seine Dreigeschossigkeit haben sie aber keine echten Argumente außer dem Verweis auf Reste von „Grundmauern“ im „Ashlar-style“ (sorgfältig behauene Quader) auf dem zyklopischen Terrassen­sockel.

Die etwas über die Kante des planen Hochplateaus hinausgeschobene Position dieser eindrucksvollen Terrasse spricht für einen besonderen repräsentativen Bau. In Mykene hat sich so knapp über dem steilen Felshang auf einem Zyklopenmauerwerkssockel das Megaron des lokalen Herrschers in Szene gesetzt.

Andererseits könnte man auch an eine Tempelterrasse denken, ähnlich der des alten Hera-Tempels über der argolischen Ebene (Abb. 7, dies Bauwerk wurde jedoch in eine deutlich spätere Zeit datiert). Die Zyklopen-Steine sind dort aus dem örtlich anstehenden Konglomerat gewonnen, trotz angeblich späterer Realisierung aber deutlich gröber und kaum bearbeitet. Der auflagernde Quader (in Abb. 7 mit den beiden Personen darauf) ist kein Gebäude-Sockelstein, sondern ein Rest der ehemaligen Tempelterrassen-Plattierung aus zugerichtetem Kalkstein.

Auch die Anrampung der Iklaina-Terrasse von Osten spricht für eine Tempelfunktion, denn sie korrespondiert mit den Rampenzugängen der späteren klassisch antiken Tempel. Schließlich ist festzuhalten, dass man früher die besten Lagen sowieso den Göttern eingeräumt hat. Das gilt auch für das oben bereits angesprochene Mykene, obwohl dort das Megaron – wie die Zyklopenterrasse von Iklaina – luftig exponiert über dem Abgrund errichtet wurde. Mykenes Tempel war jedoch auf der Kuppe darüber und somit auf der höchsten Stelle der Palastanlage angeordnet, eine „Kuppe darüber“ gibt es aber in Iklaina nicht.

Die Iklaina-Archäologen interpretieren die zyklopische Terrasse hingegen als Sockel eines Frontgebäudes zu einem Baukomplex, der sich nach Süden hin fortsetzte und dort auch Raumstrukturen einbezog, die bereits in der frühen „blauen“ Phase errichtet worden waren. Ferner werden die beiden in Abb. 5 nur angedeuteten, weil weitestgehend zerstörten gelben Gebäude südöstlich der Terrasse zu diesem Baukomplex gezählt. Im quadratischen Raum aus dieser ‚blauen‘ Phase hat man eine Treppe nach Süden hin offengelegt. Schon wegen ihrer Ausrichtung kann auch sie keine Mehrstöckigkeit in einem Gebäude begründen, das sich die Archäologen auf dem nördlich vorgelagerten Terrassensockel denken. Zudem besteht diese Treppe erneut – wie schon in Pylos – nur aus wenigen Stufen, die auf ein Podest oder eine andere erhöhte Position führen, damit aber noch kein zwingendes Argument für ein Obergeschoss liefern.

Ein besonders interessantes Gebäude schließt nach Osten an die Zyklopenmauer-Terrasse an. Es wurde – offensichtlich in Parallele zum Nestor-Palast und wohl von dem an beiden Orten engagierten Michael Nelson – „Gebäude X“ genannt. Es hat womöglich (noch ist nicht alles aufgedeckt) eine einfache Megaron-Form aus Vor- und Hauptraum sowie besonders mächtige Mauern. Zudem ist seiner südlichen Front ein Quadermauerwerk (ashlar-style) aus sorgfältig behauenen Steinen vorgeschalt (jedenfalls soweit das der erhalten gebliebene Sockel zeigt – Abb. 8). Diese Verkleidung macht die Südwand zu einer Schauseite und das Gebäude zu einem Objekt, das dem Hauptgebäude des Nestor-Palasts mit seiner nordöstlichen Schauseite oder dem Xeste 3 Gebäude auf Thera (Santorin) ähnelt.

Dazu passt hervorragend, dass vor der südlichen Schauseite dieses Gebäudes eine sorgfältig plattierte Straße entlangführt, die vielleicht sogar Teil eines dem Gebäude vorgelagerten Platzes war (die Archäologen nennen ihn „piazza“) – erneut wie vor Xeste 3 in Akrotiri/Thera. Diese Straße geht westlich (links unten in Abb. 8) in eine schräge Rampe über, die zur Zyklopenmauer-Terrasse und wohl auch zum westlichen Eingang von Gebäude X hinaufführte.

Auf der anderen Seite haben die Archäologen inzwischen freigelegt, dass die plattierte Straße dort nach Norden umknickte und durch eine Art Tor hindurchführte, das von zwei Quadern gebildet wurde (in Abb. 8 mit „1“ und „2“ markiert, vgl. auch Übersichtsplan in Abb. 4). Demnach kam der Zugangsweg in diesen zentralen herrschaftlichen Komplex Iklainas von Norden, d.h. aus dem Raum der nördlich angrenzenden Wohn- und Gewerbekomplexe. Dieser mehrfach gewinkelte Zugang zum Gebäude X bzw. zur Zyklopenmauer-Terrasse ähnelt wiederum auffällig jenen verwinkelten Zugängen, die bereits in Pylos oder Tiryns festzustellen waren und deren Herkunft vielleicht in den ‚labyrinthischen‘ Palästen Kretas zu suchen ist.

Schließlich ist in diesem Komplex noch eine ca. 2,5 m dicke Mauer aus bis zu 90 x 80 x 30 cm großen Steinblöcken zu nennen, die orthogonal zur zyklopischen Terrasse von deren Nordost-Ecke aus nach Norden führt und bislang auf ca. 13 m Länge freigelegt werden konnte. Nur teilweise aufgelöste Lehmziegel und Putzfragmente vor ihrer Westfront (d.h. hangseitig und somit außerhalb des bebauten Geländes) deuten auf einen inzwischen erodierten Lehmziegeloberbau hin. Man gewann keine Anhaltspunkte, dass es sich hier um ein militärisches Befestigungsbauwerk gehandelt hatte. Somit bleibt (abgesehen von einer möglichen Funktion der Hangsicherung) eine massiv repräsentative Anmutung. Zusammen mit der zyklopischen Terrasse hebt diese Mauer die Bedeutung der Eckbebauung über dem Hang und ihre optische Wirkung noch stärker hervor, so dass sie die bereits erwogene kultische Nutzung auf der Terrasse unterstreichen könnte. Vergleichend ist da an die Akropolis in Athen zu denken, deren Ummauerung in klassischer Zeit ebenfalls keine militärische Funktion hatte, sondern den erhabenen Eindruck dieser Tempelanlage auf dem Felspodest erhöhen sollte (Abb. 9).

3. Schlussfolgerungen

Zwar haben die Grabungen von Iklaina gewisse Ähnlichkeiten zum Nestor-Palast sichtbar gemacht doch insgesamt wirkt diese Anlage  (soweit sie bislang offengelegt wurde) signifikant anders. Die orthogonalen Raumstrukturen typisch ‚mykenischer‘ Paläste, in denen sich Gänge und Nebenräume um ein zentrales Megaron gruppieren, fehlen ganz. Zwar ist im Norden ein Megaron-artiges Gebäude (rot in Abb. 5) ausgegraben worden, doch es fällt deutlich kleiner aus als jene Raumfolgen mit Thronraum, wie man sie in Pylos, Mykene oder Tiryns gefunden hat. Auch die Anbauten an dieses Iklaina-Megaron sind eher hinzugebaut als architektonisch komponiert, es fehlen auch die typischen Erschließungskorridore.

Der offensichtlich bedeutendste Bereich im Südwesten des Geländes findet in Pylos städtebaulich keine Parallele (außer vielleicht bei jenem bereits angesprochenen gewinkelten Zugang, der aber noch weiter freigelegt werden müsste, um über die Wegeführung im Quartier belastbare Aussagen treffen zu können). Die städtebauliche Situation skizziert Abb. 10 mit rot verstärkten Raumkanten und deutlicher Unterscheidung von Innen- und Außenbereich. Vier Baukörper bilden ein Achsenkreuz. Das weitgehend verlorene Doppelgebäude im Süden und das Gebäude X im Osten formen einen Winkel um den (vermuteten) offenen Platz im SO-Quadranten. Diagonal gegenüber bilden die ‚zyklopische‘ Terrasse und die vergleichbar konstruierte Mauer CT 036 einen ähnlichen Winkel um den alsbald steil abfallenden offenen Außenbereich im NW-Quadranten. Die anderen beiden Quadranten waren (vermutlich) bebaut – für den SW-Quadranten ist das nachgewiesen, der NO-Quadrant muss noch freigelegt werden. Das befestigte platzartige Zentrum dieser Struktur wird diagonal von einer Rampe durchzogen, die aus dem SO-Platz kommt und auf die Ecke zum NW-Außenbereich zuläuft.

Das wäre eine Struktur von großer Harmonie – trotz oder gerade wegen ihrer leichten Unregelmäßigkeit. Sie ist jedenfalls nicht von jener kalten Strenge und ideenlosen Langeweile heutiger Rasterarchitektur.

Auf der Mauer CT-036 wie auf der Terrasse kann man sich in diesem Kontext Hochbauten nur noch schwer vorstellen, wie sie das IKAP virtuell aufgerichtet hat. Was jedoch angesichts der Raumfolgen insbesondere auf die zyklopische Terrasse passen würde, wären Altäre bzw. die in den Linear B-Tafeln genannten „Schreine“, ggf. mit Temenos-Überbauung, also ein Kultzentrum. An eine solche Nutzung hatte u.a. bereits die Assoziation an das Hera-Heiligtum in der Argolis denken lassen.

Es gibt noch einen weiteren Grund, hypothetisch ein Kultzentrum im Südwest-Areal von Iklaina anzunehmen: Im Nestor-Palast als Zentrum des bronzezeitlichen messenischen Staatswesens wurden (bislang) keine baulichen Strukturen gefunden, die ein Kultzentrum nahelegen. Es muss aber ein solches Zentrum gegeben haben, weil die Linear B-Texte davon zeugen (dazu mehr im Abschnitt 4 der PDF-Version dieses Artikels). Deshalb ist an eine großräumige Funktionsaufteilung zu denken, für die erneut die Argolis aus der gleichen Zeit ein deutliches Beispiel gibt: Hier hat man nämlich mit dem Heraion eine große Kultanlage als völlig selbständigen Komplex am Hang über dem Zentrum der argolischen Ebene eingerichtet, die mit keinem der anderen Zentren ortsidentisch war (Abb. 11). Was wir dort heute sehen, stammt zwar aus späterer Zeit, doch die kultische Nutzung dieses Standortes soll in mykenische Zeit zurückgehen.

Ein ebenso selbständiges Kultzentrum bei Iklaina, an der Hochplateaukante mit freiem Blick ins Zentrum des Landes und seiner dortigen Hafenanlagen (Abb.3), von allen Seiten gut erreichbar, geht auch mit der neuen Grabungserkenntnis konform, dass diese Anlage zeitgleich mit dem Nestor-Palast genutzt wurde und in den hierarchischen Strukturen des Staatswesens nicht unterhalb dieses Palastes eingeordnet war.

Dass sich um kultische Orte auch Werkstätten und Wohnbauten gruppierten, ist kein Widerspruch. Wie schon angemerkt, findet sich eine solche innige bauliche Integration auch im spätbronzezeitlichen Kition auf Zypern, mit dem die Mykener zweifellos engen Kontakt hatten. Und eine weitere Parallele lässt sich ziehen: Auf Sardinien zu früh-nuraghischer Zeit entstanden ganz ähnliche Strukturen weiträumiger Funktionsverteilung: Große Nuraghenburgen wurden auf halber Höhe errichtet, während im Zentrum dieser Burgenstruktur Mittelsardiniens auf der Serri-Hochebene ein selbstständiges großes Kultzentrum entstand, das auch einen großen Platz für Feste, Wohn- und Versammlungsgebäude sowie Werkstätten einschloss (vgl. Santa-Vittoria auf dem sardischen Serri-Plateau — PDF-Datei). Das war nicht etwa eine singuläre Entwicklung an einem ganz anderen Ort, denn bereits im 14. Jh. sind Kontakte zwischen Mykenern und dem nuraghischen Sardinien belegt.

Michael Siebert, September 2017

 

Diesen Essay gibt es auch in einer druckfähigen PDF-Version mit Anmerkungen und Literaturverweisen sowie einem ergänzenden Kapitel „Iklaina im Lichte der Linear B-Tafeln“: Iklaina – ein ‚neuer‘ ‚mykenischer‘ ‚Palast‘.

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