Die ‚Seevölker‘. Können wir ihren Namen ein Gesicht geben?

Hier geht es gleich weiter zur PDF-Datei der Ausarbeitung zum Thema. Nachstehend ein paar Hinweise zu den Gründen, diese Quellenarbeit anzugehen.
Und hier geht es wieder zurück zur Übersicht über andere Beiträge zum Themenkreis der ‚Seevölker‘.

 

Rekonstruktion der Tempelanlage von Ramses III. in Medinet Habu (Grundriss)

Abbildung: Rekonstruktion des als Festung ausgebauten Totentempels von Ramses III. in Medinet Habu, Oberägypten (Regentschaft von 1184 bis 1153 v.u.Z.).
Rot: der Tempel in der Festungsanlage mit (von rechts) zwei Pylonen und zwei Höfen, an die sich das eigentliche Tempelareal anschließt.
Lila: Der Palast Ramses III., aus dem er über ein „Fenster des königlichen Erscheinen“ in den ersten Tempelhof eintreten konnte.
Grün: älterer, von Ramses III. integrierter Tempel aus der 18. Dynastie (später unter Ptolemäern und Römern groß ausgebaut).
Hellocker: die beiden Befestigungstore West und Ost
Blaugrau: Wasserbecken am Ende des Kanals vom Nil her sowie Heilige Seen

 

Der Untergang

Im Jahr 2015 wurde in den deutschsprachigen Buchmarkt eine Übersetzung eines Buchs des amerikanischen Autors Eric H. Cline platziert, die unter dem Titel „Der erste Untergang der Zivilisation“ letzte Aufklärung über ein angebliches Schlüsseljahr der Geschichte, nämlich 1177 v.u.Z., geben wollte: über die Rolle der sogenannten ‚Seevölker‘ bei diesem „Untergang“.

Je mehr ich über dies Buch nachdenke und die Quellen durchsehe, die es kritisch zugrunde legen könnte (wenn Cline es denn wirklich getan hätte), desto abwegiger erscheinen mir seine Behauptungen über die ‚Seevölker‘, wie sie den Lesern von Beginn an aufgetischt werden (hier S. 1 des „Prologes“):

Es ist noch niemandem gelungen, eine antike Stätte als den Ort ihrer Herkunft oder den Ausgangspunkt ihrer Reisen zu identifizieren. Die Seevölker fuhren unaufhaltsam von Ort zu Ort und überrannten dabei ganze Länder und Königreiche.

Sie seien also angeblich aus dem Nichts gekommen, hätten aber aus diesem Dunkel eine solche Kampfkraft mitgebracht, dass sie alles, was es zum Ende der Bronzezeit an mächtigen Reichen gegeben hatte, nicht einmal mühsam militärisch niederringen mussten, sondern einfach „überrennen“ konnten.

Wenn man das Ende der Bronzezeit erklären will, wie es Clines Anspruch ist, so sollte man sich vor allem fragen, ob solche Eindrücke irgendetwas mit historischer Realität zu tun haben können. Aus dem Nichts kommen allenfalls intergalaktische Krieger mit überlegener Technologie und überrennen alles, was sich ihnen in den Weg stellt – wie etwa in H.G. Wells‘ berühmtem und von den Hörern damals als Realität missverstandenen Hörspiel von 1938 „Krieg der Welten“. Aber selbst die gewaltigen Kampfmaschinen von Wells Marsianern waren letztlich nicht erfolgreich und gingen an einem winzigen Gegner zugrunde, den sie nicht im Plan hatten.

Ebenso ging es den ‚intergalaktischen‘ Seevölkern, die nun allerdings an keiner Ironie des Lebens, sondern an der noch gewaltigeren Heroik des pharaonischen Ägyptens gescheitert sein sollen. Welch großartiges Hollywood-Szenario! Große Kriege, glänzende Königtümer, überlegendste Eroberer, und dann der Kantersieg.

Doch das Ende der Bronzezeit war nicht Hollywood.

Die panikschürende Wirksamkeit der damals ungemein innovativen Hörspielproduktion „Krieg der Welten“ gründete nicht nur in der Magie des neuen Mediums „Radio“, sondern auch im aufkommenden Faschismus Deutschlands, der sich dieses Medium ebenso effektiv verfügbar zu machen wusste. Das war die reale Bedrohung jener Zeit, die sich leicht in eine intergalaktische Bedrohung projizieren ließ.

Unsere heutige Bedrohungslage darf als kaum weniger fragil gesehen werden. Eine Abfolge von Kriegen in Asien, die dort die ganze technologische Überlegenheit „des Westens“ ausspielte, hat dazu geführt, dass sich der zunächst nur in Netzwerken organisierte „Terrorismus“ inzwischen als „Islamischer Staat“ geriert, in Syrien gar ein Staatsgebiet etablierte und in den Ländern des „arabischen Frühlings“ den Terror einziehen ließ. Inzwischen lassen alle nur irgendwie dazu technologisch fähigen Akteure über Syrien Bomben, Raketen, Granaten abregnen, die alles treffen, was sich nicht gerade im Palast des Gewaltherrschers Assad und in den im Lande wuchernden russischen Militärbasen eingebunkert hat. Sie werden nur noch schrecklicheres gebären.

Auch Eric H. Cline greift diese Aktualität auf (gleich auf S. 1 des Vorworts) … und merkt nicht, wie er einer Propaganda auf den Leim geht, wenn er dies Szenario als „genauso wie die Situation bereits vor mehr als 3000 Jahren im Jahr 1177 v. Chr.“ einordnet. Alles Wesentliche, was Cline zur Charakteristik der Seevölker schreibt, entspringt der Propaganda des ägyptischen Pharaos Ramses III. Der war nicht an ‚Geschichtsschreibung‘ interessiert, als er über Hunderte von Quadratmetern seine Glanztaten im Krieg gegen die Seevölker  und sonstige Feinde im gesamten Erdkreis auf den Wänden seiner Tempelanlage in Medinet Habu verewigen ließ. Sondern der wollte allein seinen Ruhm mehren, seine Größe ins Göttliche überhöhen, als der Einzige dastehen. Für diesen Zweck wurde alles passendgeformt, was an Inschriften und Bildern von den ägyptischen Künstlern in Szene zu setzen war.

Noch Anfang des 20. Jahrhunderts, vor den Zerstörungen der Jetztzeit durch Krieg, Tourismus und industrialisierte Luftverschmutzung, konnten Archäologen diese über 3000 Jahre alten Bilder aufnehmen und für die leider nur kleine interessierte Nachwelt in PDF-Dateien ‚sichern‘ – die wahrscheinlich nicht einmal das 21. Jahrhundert überleben werden. Aber heute können wir uns noch damit beschäftigen und zu Erkenntnissen gelangen, die offensichtlich eine hohe Aktualität haben.

Vielleicht ist das ja eine Qualifikation, die ich in Jahren aufreibender politischer Aktivität erlangt habe, dass ich den taktischen Lügen der politischen Akteure (jedenfalls der meisten, ob grün oder blau gefärbten) kritisch hinter die Kulissen sehe. Einem Archäologen ist eine solche Sicht sicherlich fremd. Und so nimmt er für bare Münze, was der Pharao an seine Tempelwände reliefieren ließ.

Seit ich 1999 auf einer Studienreise nach Ägypten im Totentempel des Pharaonen Ramses III. von Medinet Habu auf die „Seevölker“ aufmerksam wurde, habe ich immer wieder nach Quellen gesucht, die eine Antwort auf die Frage nach der historischen Realität dieses Seevölker-Szenarios liefern. OK. mit etwas Anstrengung hätte ich vielleicht schon früher auf die einschlägige Literatur stoßen können, die ich in der PDF-Version zu diesem Thema (dort unter „5. Literatur“) nun für interessierte Leser zusammenstelle, denen ich damit die mühsame Suche ersparen will. Aber Cline hat das alles seit langem in seiner Institutsbibliothek stehen – und macht nichts draus.

Anfangs war ich bei der Sichtung der Dokumente über den Tempel von Medinet Habu enttäuscht. Ich wollte wissen, ob zu den bekannten Namen der Seevölker (jedenfalls den Namen, die ihnen die Ägypter gaben), Identifizierungsmerkmale zu finden sind, die Rückschlüsse auf ihre Herkunft liefern. Insofern ist das Ergebnis nicht zufriedenstellend. Bis mir dann dämmerte, dass das gar nicht die entscheidende Frage ist.

Diese „Seevölker“ waren bewaffnete Migranten, aber auch „Flüchtlinge“, die  durch langjährige Kriege in ihren Heimatgebieten entwurzelt auf die Wanderung gegangen sind, vor allem auch über Land, über den kleinasiatischen Subkontinent. Nach dem Zusammenbruch des hethitischen Großreichs, das sich in Kriegen mit dem ‚mykenischen‘  Reich Achijawa aufgerieben hatte (aber keinesfalls von ‚Seevölkern‘ „überrannt“ worden war), gelangten diese Migranten nach Kilikien, in die Levante und bis nach Libyen. Dabei gerieten sie auch in Konflikt mit Ägypten, das Teile dieser Migrationszielgebiete als sein Herrschaftsgebiet ansah. Alles weitere, das „Überrennen“ aller bronzezeitlichen Reiche usw., ist pharaonische Propaganda und Phantasie.

Die Frage nach der Herkunft, der Bestimmung ihrer „ethnicity“,  wie das der ebenso am Thema interessierte Forscher Frederik C. Woudhuizen anging, bleibt dennoch auf der to-do-list.  Vorerst aber sind die Sondierungsergebnisse zur Identität der Seevölker aus den Quellen von Medinet Habu hier nachzulesen:

Die Ausarbeitung ist – trotz aller Konzentrationsbemühungen – etwas länger geraten. Die (auch im Ausdruck besser lesbare) PDF-Version  findet sich hier: Die ‚Seevölker‘ – Können wir ihren Namen ein Gesicht geben?
Und hier geht es wieder zurück zur Übersicht über andere Beiträge zum Themenkreis der ‚Seevölker‘.