Die mit der Erkundung der hier beschriebenen Steinbrüche einhergegangene Entdeckung des gewaltigen Bewässerungssystems in Ostanatolien wird auf einer separaten Seite beschrieben: Die Industrialisierung der südostanatolischen Landwirtschaft durch künstliche Bewässerung.

Und zur Übersicht über Themen in der Region Südostanatolien geht es hier zurück .

 

Die Höhlen von Harran

Karge Hinweise aus dem Web im Allgemeinen wie auch von einer Webseite des türkischen „Ministery of Culture and Tourism“ im Speziellen hatten die Idee aufkommen lassen, unsere Reise nach Harran mit der Besichtigung der sogenannten Bazda-Höhlen zu verknüpfen. Meist laufen sie unter dem englischen Titel „Bazda Caves“, in der türkischen Sprache heißt das „Bazda-Mağaralari“. Es soll sich um unterirdische Steinbrüche handeln, aus denen die Baustoffe des historischen Harran (und weiterer historischer Städte) gewonnen worden seien.

Doch wo sind sie zu finden?

Die Bazda Steinbrüche - aus Google Earth-Sicht eine narbenartige Struktur im Fels

Abb. 1: Narbenartige Strukturen in den Felsen der Steinwüste östlich von Harran, gestört von Infrastrukturbaustellen (helle Überblendungen in den Google Earth-Bildern): die „Bazda Caves“.

 

Die undeutlichen Web-Informationen weisen von Harran aus sowohl in nordöstliche als auch in südöstliche Richtung. Wir hatten uns für die nordöstliche Trasse entschieden (zur Begründung vgl. den Beitrag über Künstliche Bewässerung in der südostanatolischen Landwirtschaft) und prompt in gewisser Weise falsch gelegen. Denn das Tourismushighlight der größten dieser Höhlen findet sich an der Straße Richtung 4 Uhr, die später auch noch die Karawanserei Han al-Ba’rur (an der heute „Göktaş“ genannten Ortslage) erreicht, und zwar an dieser Stelle: Geoposition auf OpenStreetMap. Erst ab Zoom-Stufe 17 zeigt OSM eine winzige Beschriftung, die diese Lokalisierung bestätigt. Google Maps setzt hingegen an diese Stelle einen Pin mit der Beschriftung „Tek Tek Dağları Milli Parkı“, was nicht korrekt ist. Denn die Örtlichkeit ist nicht Bestandteil dieses Nationalparks, der weiter östlich die kahlen, heißen und trockenen Felslandschaften um das Tal von Şuayb und Soğmatar schützen will – durch das aber gerade unverdrossen große Infrastrukturbauten (Schnellstraße, Bewässerungshauptkanal) gehauen werden.

Nicht einmal das Ministerium bietet auf seiner Website für touristische Ziele in der Region Urfa einen Plan, an dem man sich orientieren könnte. Eine überall gleiche Art von – sagen wir – ‚sehr stilisiertem‘ Standortplan gibt es erst an den Örtlichkeiten selbst. Das ist ein wenig absurd, denn dann hat man sie ja gefunden. Es muss auch schon eine Weile her sein, dass diese Tafeln aufgestellt wurden. Denn heute sind sie mehr oder weniger verblichen, verrostet, verbeult, zerschlagen, heruntergebrochen  oder sonstwie unleserlich geworden. Eine der noch am besten erhaltenen Tafeln dieser Art zeigt Abb. 2.

Der große „Plan“ ist auf allen Tafeln der gleiche, spezifisch ist je Standort nur der Text in der rechten Randspalte. Man sieht schon an der knappen dreisprachig vertretenen Betextung (türkisch, englisch, arabisch) dass von diesen Infotafeln nicht viel Information zu erwarten ist. Die Tafel zu den Bazda Caves hat lediglich folgenden dahinholpernden Inhalt – der englische Text ist mit der vollständigen originalen Zeichenkette zitiert:

BAZDA CAVES
There are historical Stone pits on both sides of the world as of the 16th km of the Harran- han el barur way. It is understood from the inscriptions written on rocks in arabic language that this Stone pit was used actively in the 13th century. as thousand of Stones were bought fort he buildings around Harran, şuayb şehri and han el ba’rur,there are so many square,tunnel and galleries constructed in these two caves. furthermore, exists to different sides of the mountain is provided by long galleries and tunnels.

Dazu passt sehr schön eine Übersetzung, wie sie das Google-System fabriziert:

Es gibt historische Steingruben auf beiden Seiten von der Welt als des 16. km der Harran- han el barur Weg. Es wird aus den Inschriften auf den Felsen in arabischer Sprache, dass dieser Stein Grube war aktiv im 13. Jahrhundert verwendet schriftliche verstanden. als tausend Steine wurden für die Gebäude rund um Harran, Suayb şehri und han el ba'rur gekauft haben, gibt es so viele Platz, Tunnels und Galerien in diesen beiden Höhlen gebaut. Darüber hinaus besteht auf verschiedenen Seiten des Berges ist durch lang Galerien und Tunnels zur Verfügung gestellt.

Da stellen sich (mal abgesehen von der Irritation, wer das wohl ins Englische übersetzt haben mag und warum der Google-Übersetzer noch immer nicht brauchbar programmiert ist) mehr Fragen, als Antworten gegeben werden.

Etwa: Sind die Steinbrüche wegen arabischer Inschriften wirklich sinnvoll und erschöpfend nur auf das 13. Jahrhundert datierbar? Das bedeutendste und noch immer in Ruinen sichtbare Bauwerk in Harran ist jene Große Moschee, die als älteste in der Türkei gilt und bereits in der Mitte des 8. Jahrhunderts aus Kalksteinquadern errichtet wurde (Abb. 3).

350 Jahre später ist von der „großen Festung Harran“ die Rede, die von den Kreuzrittern nicht erobert werden konnte. Die hatten mit der Grafschaft Edessa (=Urfa) einen zeitweise durchaus stabilen Stützpunkt weit im Osten besetzen können, verloren aber die Schlacht von Harran im Jahre 1105 vernichtend, obwohl das fränkische Heer aus „dreitausend Reisigen [= berittene Dienstleute der Kreuzritter] und etwa dem Dreifachen an Fußvolk“ bestand (Steven Runciman, Geschichte der Kreuzzüge, S. 352 f).

Diese zwei Beispiele sollen nur andeuten, dass wesentliche, nicht auf Lehmziegel gestützte Bautätigkeiten in Harran sehr viel früher einsetzten und große Baustoffmengen benötigte, die aus Steinbrüchen der nahen Steinwüste beschafft werden mussten. Die Ebene von Harran selbst bietet allenfalls Baustoff für Lehmziegel. Denn sie besteht aus mächtigen Lagen tiefroter Verwitterungsböden, die aus den darob kahl gewordenen Kalkhöhen im Westen und Osten angeschwemmt worden sind („Terra Rossa“, vgl. Abb. 4).

Eine andere, weder vom Ministerium noch von den kargen Bazda Caves-Webseiten angesprochene, aber m.E. auf der Hand liegende Frage richtet sich darauf, wieso die Bauleute aus Harran und den anderen Städten ihre Steine nicht einfach aus dem anstehenden blanken Fels gewonnen haben – so wie man bei uns heute einen Steinbruch betreibt –, sondern aus Höhlen holten, so dass unter Tage jene „Plätze, Tunnel und Galerien“ entstanden sind.

Für eine solche Vorgehensweise gibt es große historische Vorbilder:

Im Jahre 416 v.u.Z. weitete der Stadtstaat Athen den schon länger wütenden Peloponnesischen Krieg durch einen Flottenangriff auf das sizilische Syrakus aus. Der Angriff geriet zum Fiasko. Die gesamte nach der Schlacht verbliebene Besatzung der Athener Flotte verschwand in den Steinbrüchen von Syrakus (und ging dort zugrunde). Diese Steinbrüche waren gigantische Kavernen, in denen unter einer von mächtigen Pfeilern gehaltenen Deckplatte der Kalksteinabbau vorangetrieben wurde (Abb. 5).

Latomia del paradiso in Syrakus

Abb. 5: Inzwischen ist die Decke über den Steinbruchskavernen von Syrakus eingebrochen und die sie vormals haltenden Pfeiler sind umgestürzt (Bildmitte). Die Steinbrüche (Latomia) tragen den pikanten Namen „Latomia del Paradiso“;.

 

Das hatte einen praktischen Grund: Unter Tage ist das Gestein feucht. In diesem Zustand lässt es sich wesentlich leichter aus dem Gesteinsverband herauslösen und bearbeiten. Auf die Felsoberflächen prasselt hingegen in diesen südlichen Gegenden die Sonne, heizt sie auf und macht schon deshalb eine Bearbeitung kaum möglich. Diese Erfahrungen haben offenbar auch die Baumeister in Südostanatolien gemacht und ihren nassen weichen Kalkstein unter Tage gewonnen.

Die Website „Travel to Eat“, die viele schöne Bilder der Bazda Caves-Hauptkaverne zeigt, weiß auch über praktische Nutzungen dieser Höhle zu berichten:

The entrance, like the caves themselves is huge, large enough to drive a small camper truck into the caves... Because they are cool, even on a hot day, kids would do just that, and have parties in the caves. The government briefly considered making a recreational area inside but found the rocks unstable and scrapped the idea. They did build the walkway with steps to keep people from driving in.

Das dröge „Ministery of Culture and Tourism“  kann also nicht einmal mit den Unterhaltungsbedürfnissen der eigenen Jugend etwas anfangen. Nun muss man nicht unbedingt mit Trucks in die Höhle hineinfahren. Was aber möglich wäre, zeigt das Beispiel der Kalksteinbrüche von Les Baux-de-Provence (Südfrankreich). Dabei geht es nicht um den (ehemaligen) Bauxit-Tagebau von Les Baux, der diesem Rohstoff der Aluminium-Industrie seinen Namen gegeben hat. Es geht um Kalksteinabbau für die Stadt selbst und ihr Château. Auch in der Provence hat man den dafür verwendeten Kalkstein nicht im Tagebau, sondern – wohl aus den gleichen Gründen wie in den Latomia von Syrakus – aus Kavernen abgebaut. Diese Kavernen wurden (anders als in Harran) von herabgebrochenen Trümmern gesäubert, so dass sie gefahrlos betreten werden können. Jedes Jahr wird unter einem besonderen künstlerischen Thema eine eindrucksvolle Son et Lumière-Show in den Unter-Tage-Steinbrüchen veranstaltet, so dass sie heute „Carrières de Lumières“ heißen. 2015 war ihr Thema der Maler Gustav Klimt und sein Wien im „Zeitalter von Gold und Farben“ (Projekt-Website). Einen Eindruck vom Raumgefühl in diesen Veranstaltungen gibt Abb. 6:

Les Baux-de-Provence - lightshow in den Kavernen des Kalksteinbruchs

Abb. 6: Projektionen auf die Wände der Steinbruchskavernen von Les Baux in den Veranstaltungen des Jahres 2015.

 

Doch zurück zu den Bazda Caves in Ostanatolien.

Aus der Satellitenbildanalyse (vgl. noch einmal Abb. 1) ging hervor, dass sich historische Kalkstein-Abbauspuren weiträumig am Steinwüstenrand östlich von Harran entlangziehen. Dabei lassen sich zwei Zentren ausmachen, die gut 20 km weit voneinander entfernt sind und mit den beiden Zufahrtsstraßen von Harran zur Wüste korrespondieren. Diese erst in jüngster Zeit im Zusammenhang mit den großen Bewässerungskanälen ausgebauten ehemaligen Pisten dürften deshalb auf eine lange Wegetradition zurückblicken. Abb. 1 mit den Luftbilddetails und Abb. 7 mit der Luftbildtotale gliedern den nördlichen Schwerpunkt in die Komplexe „Nord A“ und „Nord B“. Im südlichen Schwerpunkt liegt vor allem die vielzitierte große Höhle mit den Stockwerken, Tunnels und Galerien (die Geokoordinaten – jeweils fixiert auf einen mittigen oder nahen Punkt der nächsten Straße – lauten: Nord A = 36.945308° N / 39.182695° O, Nord B = 36.931291° N / 39.189592° O, Süd = 36.827832° N / 39.219495° O)

Lage der Steinbruchsareale Bazda Caves im Wüsenrand vor Harran

Abb. 7: Die beiden Steinbruchskonzentrationen Nord und Süd am Rand der Kalksteinwüste, jeweils mit den sie erreichenden Straßen von Harran her (rote Linien).

 

Die Höhle im südlichen Komplex ist sicherlich die spektakulärste. Doch auch die Abbauspuren im Nordbereich sind aufschlussreich. Hier fällt besonders das streifenorientierte Vorgehen auf. Die Steinbruchsarbeiter haben vermutlich eine Abbaufront geöffnet und sich dann unter einer stehen gelassenen Kalksteindecke in den Berg hineingearbeitet. Nur so lässt sich erklären, dass diese Abbaustreifen entstanden sind und nicht nach beiden Seiten zu einem flächigen Abbau geweitet wurden. Die ursprünglichen Decken über diesen Streifen dürften später eingestürzt und der Bruch sodann weiterverarbeitet worden sein. Manchmal sind auch noch Reste von Pfeilern in breiteren Abbaustreifen zu erkennen (vgl. Bildergalerie am Schluss).

Auch im Komplex Nord B gibt es noch Kavernen, die nicht eingestürzt sind. Sie sind nicht groß, offenbaren jedoch das typische Vorgehen. Abb. 8 zeigt meine Rekonstruktion einer kleinen Kaverne im Komplex Nord B nördlich der Straße, die in der nachfolgenden Bildergalerie ebenfalls mit zwei Bildern vertreten ist.

Kartierung einer Kaverne der Bazda Caves

Abb. 8: Schematische Kartierung einer kleinen Kaverne der Bazda Steinbrüche im Komplex Nord B, nördlich der Straße. Lagemarkierung im kleinen Bild. Neben der Abbaukante des historischen Steinbruchs breiten sich die Aushubhalden der nahen Kanalbaustelle mit ihrem typischen Noppenmuster der letzten abgekippten LKW-Ladungen aus.

 

Man sieht zweierlei:

All dies sind Beobachtungen, die auf einer Stippvisite am Ort (und nachträglicher Recherche) beruhen. Es gibt (oder gab) sicher irgendwo auf der Welt einen Archäologen, der all das genauer untersucht hat, der sich mit der Abbautechnik der historischen Steinmetzen befasste, der die Steinbrüche kartierte, der Beziehungen zwischen dem Gestein der einzelnen Brüche und verbauten Quadern in den historischen Stätten suchte und mit dabei gewonnenen Erkenntnissen auch an Datierungen gearbeitet hat usw. usf. Aber das viel zu oft und viel zu sehr gerühmte Internet gibt nicht das Geringste her, was auf diesen Menschen hindeuten würde.

Auf den türkischen Staat kann man da sowieso nicht bauen. Ihm ist kulturelles Vermächtnis offensichtlich egal. Seine Informationstafeln – so sie überhaupt aufgestellt sind – wahren nicht einmal die Form einer zumindest sprachlich korrekten Kurzinformation, noch werden sie gepflegt und lesbar gehalten. Nicht mal das viel einfacher zu realisierende Angebot einer durch Karten und Quellen ergänzten Information im Web müht sich das „Ministery of Culture and Tourism“ ab.

Ist das denn wirklich selbst jenen Besuchern egal, die sich erfolgreich an diese Orte vorgearbeitet haben? Ich mag es nicht glauben. Doch ein Aufstand oder auch nur ein Shitstorm gegen diese türkische Kultur- und Tourismusverwaltung lässt auf sich warten.

Bildergalerie aus den Bazda Caves im Komplex Nord B

Michael Siebert, September 2015

 

Die mit der Erkundung der hier beschriebenen Steinbrüche einhergegangene Entdeckung des gewaltigen Bewässerungssystems in Ostanatolien wird auf einer separaten Seite beschrieben: Die Industrialisierung der südostanatolischen Landwirtschaft durch künstliche Bewässerung.

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