Für eine neue Verkehrspolitik in Darmstadts „Weststadt“

Übersicht

 

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Die ‚verfahrene‘ Situation und ihre Entstehung

Kaum im Amt, erregte die nach ihrem eigenen Anspruch ganz besonders auf Nachhaltigkeit verpflichtet neue grün-schwarze Koalition mit einem Plan Aufsehen, der Autofahrer „Schneller durch den Westen Darmstadts“ bringen soll (DE-Schlagzeile v. 10.08.2011). Grün-Schwarz will dafür ein wesentliches Stück Westwald roden.

War das schon die Rolle rückwärts, nachdem man sich unter dem Druck eines Bürgerentscheids dahin bewegt hatte, die Nordostumgehung allmählich abzuwickeln? Zaghaft wurde die hingegen ungebrochene „Notwendigkeit“ einer Westtangente aus angeblichen vertraglichen Bindungen mit dem Entwickler des Telekom-Geländes südlich der Rheinstraße / westlich des Kavalleriesandes gerechtfertigt. Doch der insofern geschlossene städtebauliche  Vertrag mit dem Projektentwickler „Sireo“ gab dazu nichts her. Als „notwendige“ Straßenanschlüsse und Umbauten werden dort lediglich  vier Anschlussknoten genannt, die inzwischen realisiert sind.

Dann wich man auf jene diesem Vertrag zugrundeliegende Verkehrsuntersuchung aus (Verkehrsgutachten des  Büros von Mörner+Jünger aus 2002). Aber auch dies Gutachten liefert keine Begründung für eine Westtangente – im Gegenteil: Betrachtet man obige Abb. 1, so sieht man die vier heute realisierten Anschlüsse des Telekom-Geländes (hier noch mit seinem historischen Namen „FTZ“ bezeichnet) im Nordwesten, Norden, Osten und Süden.

Aus dieser Planskizze wird offensichtlich, dass kein Autofahrer die bereits eingezeichnete Westtangente nach Süden, dann nach Osten in die Hilpertstraße und von dort zurück nach Norden in die T-Online-Allee fahren würde, um das Telekom-Quartier zu erreichen. Er hat bereits im Nordwesten und Norden zwei sehr viel direktere Alternativen.

Inzwischen hat sich die grün-schwarze Koalition auf die Begründung verlagert, die sich südlich anschließenden ehemaligen Militärflächen benötigten im Zuge ihrer Konversion diese westliche Randerschließung. Für diese Flächen gab es zwar weder Planung noch Planungsgrundlagen, als dies Argument hervorgezaubert wurde, die Westtangente musste aber schon mal unbedingt sein. Inzwischen hat man einen Rahmenplan in die örtliche Presse lanciert (ohne dass dieser zeitgleich in das parlamentarische Verfahren gegeben worden wäre) – dazu später in Abb. 5.

All diese austauschbaren Rechtfertigungen können aber nicht überdecken, dass die Westtangente aus einem ganz anderen Kontext stammt. Die Idee entstand in den 1970-er Jahren, als Darmstadt mit einem Ringsystem von Schnellstraßen umgeben werden sollte. Von diesen Plänen hat man sich scheibchenweise teils freiwillig (Südostumgehung), teils erzwungen (Nordostumgehung) verabschiedet. Und so ist lediglich noch die Westumgehung / Westtangente Teil der formal gültigen Planungen: Element des Verkehrsentwicklungsplans und in konkreter Form auch informatorischer Bestandteil eines Bebauungsplans, des W 23 vom 14. Mai 1976:

Ausschnitt aus dem Bebauungsplan W23 mit geplanter Westtangente

Abb. 2: Die „geplante Westumgehung“ im Bebauungsplan W 23 von 1976 – Ausschnitt auf der Höhe Pupinweg (dieser am rechten Rand)

 

Es ist nicht zu viel verlangt, wenn an die grün-schwarze Koalition die Erwartung gerichtet wird, endlich auch diese aus einem völlig anderen Verkehrsplanungsdenken her stammende Trasse aufzugeben und zu tatsächlich nachhaltigeren Verkehrsformen zu streben. Denn schon früheren Magistraten wurde diese Einsicht kredenzt. So befasste sich im Jahre 1988 der Magistrat wieder einmal mit der Westumgehung, weil man damals Donnersbergring und Heidelberger Straße entlasten wollte. Er beauftragte das Büro Retzko+Topp mit einer „Verkehrsuntersuchung Darmstadt Westumgehung“, das zu diesem Ergebnis kam:

Die Untersuchung hat gezeigt, daß keine der untersuchten Trassen zu einer maßgeblichen Verkehrsentlastung ... führt. Der Nutzen einer Westumgehung liegt je nach Alternative im Wesentlichen in einer größeren oder geringeren Verbesserung der Erschließung der westlichen Gewerbezone. Als Nachteile sind vor allem die erheblichen Eingriffe in wichtige Waldflächen  und Grünanlagen zu nennen, ferner die enormen Kosten für den Bau von Brücken, Tunnels und Stützmauern und der Umstand, dass alle solche zusätzlichen Straßenbauten den prinzipiellen Schnelligkeitsvorsprung des Autofahrers vor dem öffentlichen Nahverkehr und Fahrradverkehr weiter verstärken

Es gibt keinen Grund, diese Einschätzung heute, 14 Jahre später, zu revidieren. Insbesondere der letzte Satz sollte einer deklarativ auf Nachhaltigkeit und Verkehrswende verpflichteten Koalition in den Ohren klingeln.

Der fehlende öffentliche Nahverkehr im Darmstädter Westen

Mit der „Entwicklung“ des ehemaligen FTZ-Geländes durch den Projektentwickler Sireo ging eine enorme Verdichtung einher. Hatten zuvor Postbedienstete in ehemals locker gestellten Kasernengebäuden an ihren fernmeldetechnischen Ideen gearbeitet, so stehen nun mächtige neue Baumassen auf diesem Gelände, das für an die 7.000 Arbeitsplätze gut ist. War früher das Gelände für die Öffentlichkeit unzugänglich, so ist es heute in das innerstädtische Straßennetz integriert und beherbergt als „Gewerbepark“ nicht nur Betriebe der Deutschen Telekom. Anderenorts in Darmstadt wäre das nur noch mit einer Arbeitsplatzkonzentration vergleichbar, wie sie die Firma Merck im Norden mitbringt. Die wird ‚selbstverständlich‘ von Straßenbahnlinien im 7-Minutentakt angefahren. Und welche Erschließung mit Öffentlichem Nahverkehr hatte man für die „Telekom-City“ übrig? Leider so gut wie gar keine. Abb. 3 zeigt die Situation vor und nach der gewerblichen Entwicklung des Geländes:

Führung der Weststadt-Buslinie um/im Telekom-Quartier

Abb. 3: Verkehrsgutachten von 2002, Ausschnitte aus den dortigen Abbildungen 7.1 (S. 32) und 7.2 (S. 33) – Vergleich der ÖPNV-Erschließung vor und nach der Sireo-Gewerbentwicklung: eine Haltestelle wurde umgelegt, eine Buslinie ist weggefallen

 

Vor der Entwicklung führte der K-Bus um das FTZ-Gelände herum, da dies ja nicht für öffentlichen Verkehr zugänglich war. Nach der Entwicklung ist gerade mal eine zuvor außerhalb gelegene Haltestelle in das Gelände hineinverlegt worden. Der in Abb. 3 noch hellblau eingezeichnete W-Bus in den Pupinweg verkehrt nicht mehr. Kein Wunder, dass der K-Bus überlastet ist, auch wenn am Ende seiner Trasse noch „Tote Hose“ herrscht, weil dort die Welt noch am Zaun des Nathan Hale Depots endet.

Zudem hat man dem Öffentlichen Nahverkehr weitere ‚Gemeinheiten’ eingebaut: Die Hauptachse des Quartiers, die T-Online-Allee ist (trotz tausender Arbeitsplätze) wie eine verkehrsberuhigte Wohnquartiersstraße ausgebaut – eng und mit einer Verschwenkung versehen, die das Tempo drosseln soll. Da quält sich nun der K-Bus an den vielen Telekom-Dienstwagen vorbei. An eine eigene ÖPNV-Trasse (egal ob für Bus oder Straßenbahn) hat man bei alldem nicht gedacht.

Das schon angesprochene Verkehrsgutachten von 2002 betonte auf der einen Seite: „Das Untersuchungsgebiet ... ist sehr günstig an leistungsfähige Straßen des Hauptstraßennetzes angeschlossen“. Zur Versorgung mit öffentlichem Nahverkehr begnügt es sich mit dem Hinweis, „dass aufgrund der räumlichen Nähe zum Hauptbahnhof grundsätzlich ein attraktives ÖPNV-Angebot besteht“. Außer der K-Bus-Haltestellenverlegung wurden keine weiteren Vorschläge gemacht. Der „modal split“ (die Verteilung zwischen motorisiertem Individualverkehr und hier buchstäblich dem „Rest“)  wird völlig un-ambitioniert so festgelegt:

Die Daten für die in diesem Gutachten fehlende Bearbeitung einer Strategie zum öffentlichen Nachverkehr werden geradezu irreführend präpariert. Dies geschieht bereits in der Titelgrafik, die dann im Gutachten selbst als Abb. 4 (S. 29) noch einmal erscheint –in hiesiger Abb. 4 links:

Verkehrsmengen in die Weststadt nach Himmelsrichtungen

Abb. 4: links die Darstellung des Gutachtens (dortige Abb. 4 / S. 29): nach den Pfeilen zu urteilen erscheinen die Verkehrsmengen von allen Seiten gleich mächtig.

Rechts die gleichen Verkehrsmengen in proportionaler Darstellung (Dicke der Pfeile). Erst jetzt sieht man: die Hauptmasse kommt von Osten.

 

Nach grafischer Darstellung des Gutachtens strömen die Verkehre von allen Seiten gleichmäßig ein – das soll womöglich implizit nahelegen, die Westtangente zu bauen. Stellt man die Individualverkehrsströme hingegen proportional dar (Abb. 4 rechts) so schwinden die für eine Westtangente ggf. relevanten Verkehrsströme und die Dominanz der östlichen Pendler wird deutlich.

Wie kann Verkehrsplanung auf diese Situation reagieren? Das für die Sireo-Planung grundlegende Gutachten verweigert dazu jegliche Überlegung. Dabei liegt auf der Hand, dass für die östlichen Verkehrsmengen – will man sie nicht weiter durch die Stadt (Heinrichstraße) hindurchleiten – nur über die Bahn alternative Angebote entwickelt werden können. Dann muss aber von Hauptbahnhof und Südbahnhof eine attraktive Weiterleitung der Verkehre ins Quartier entwickelt werden, die über einen K-Bus (nur vom Hauptbahnhof her) und im Übrigen die Aufforderung „dann lauft mal schön“ weit hinausgeht.

Das fehlende leistungsfähige ÖPNV-Angebot wird sich vollends zum Desaster entwickeln, wenn im Süden des Telekom-Quartiers die Entwicklung der Konversionsflächen hinzukommt. Hier stellt sich die Stadt die Gestaltung erneut rein straßenbautechnisch vor, wie sie es am 18.08.2012 schon einmal im Darmstädter Echo lanciert hat (Abb. 5)

Es böte sich an, die T-Online-Allee als leistungsfähige Binnenerschließung nach Süden fortzusetzen – das passiert aber nicht (wohl weil man deren aktuell fehlende Leistungsfähigkeit sieht – als Verbindung ist nur eine Fuß- und Radwegverbindung vorgesehen!). Stattdessen sollen die Verkehre vom Rand her kommen und ein Straßensystem speisen, das sich in einem abgekoppelten Gewerbequartier isoliert südlich an die Hilpertstraße anhängt.

Erneut ist von ÖPNV nicht die Rede. Nicht einmal eine Buslinie ist eingezeichnet. Wie die potentiellen Fahrgäste vom Hauptbahnhof besser ins Telekom-Quartier und nun auch noch weiter in das Konversionsgebiet gelangen sollen, bleibt völlig offen.

Ein erster Schritt müsste darin bestehen, die Binnenerschließung im Zuge der T-Online-Allee zu ertüchtigen, die man bei der FTZ-Entwicklung auf eine Weise reduziert hat, wie sie diesem intensiv genutzten Quartier unangemessen ist. Womöglich hatte das aber auch seinen Hintergrund in der seit über vier Jahrzehnten in den Köpfen der städtischen Planer weitervererbten Konstanten einer Westranderschließung, die ja unbedingt noch kommen sollte. Verabschiedet man sich jedoch von dieser Altlast und erörtert ernsthaft auch die Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer deutlich besseren Erschließung durch Öffentlichen Nahverkehr, so dürfte man zu einer ganz anderen Lösung kommen:

Eine neue Straßenbahn als Rückgrat der westlichen Verkehrserschließung

Ein höherer modal split ist nur durch eine zentral im Quartier geführte, leistungsfähige ÖPNV-Erschließung zu erreichen, die an die Bahn v.a. am Hauptbahnhof, aber möglichst auch am Südbahnhof anknüpft. Bereits im Quartier nördlich der Hilpertstraße ist mit 7000 Arbeitsplätzen zu rechnen. Hinzu kommen Wohnungen und eine Schule. Südlich der Hilpertstraße werden weitere Arbeitsplätze entstehen, vielleicht auch Wohnungen. Südlich der Eschollbrücker Straße schließt sich mit der Heimstättensiedlung ein großes Wohngebiet an, das ebenfalls eine Verbesserung seiner ÖPNV-Anbindung erwarten kann. Denn es wird bislang nur durch die H-Bus-Linie erreicht, die sich zuvor durch manche Teile der Weststadt schlängeln muss.

All diese geballten potentiellen ÖPNV-Nachfragen schreien förmlich nach einer Straßenbahn. Ihre Führung wird hier in zwei Abschnitten vorgeschlagen, von denen jedenfalls der erste realisiert werden sollte, der sich vorteilhaft durch einen zweiten ergänzen ließe:

a)  Abschnitt „Hauptbahnhof – Eschollbrücker Straße“

Siehe Abb. 6 rechts: Vom großen Umsteigeknoten am Hauptbahnhof führt die Linie nach Süden über die Rheinstraße hinweg und findet im breiten Mittelstreifen der Berliner Allee bereits so etwas wie eine freigehaltene Trasse vor.

Die Brücke über die Bahn müsste verbreitert werden, es folgt eine ruderale, noch nicht genutzte Zone ehe die Bahn nach Süden in die T-Online-Allee einbiegt, in der ein IV-Streifen zu verlegen ist, damit in der Mitte ein zweigleisiger Bahnkörper Platz findet.

Die Linie führt (mit nur einem leichten Knick) geradlinig nach Süden durch die Konversionsflächen hindurch bis zur Brache westlich des Supermarkts, wo eine Haltestelle für die Heimstättensiedlung und eine Wendeschleife entstehen kann.

Betrieblich bietet es sich an, bis hierhin die Linie 3 fortzusetzen. Damit bekommen alle Haltestellen im West-Quartier über die Bismarckstraße auch eine Anbindung an das Darmstädter Zentrum.

 

b) Abschnitt „Eschollbrücker Straße – Südbahnhof – Landskronstraße“

Siehe Abb. 7 unten: Vollwertig würde eine solche Straßenbahn erst mit der Durchbindung nach Süden, so dass vor allem eine Umsteigebeziehung mit der Main-Neckar-Bahn am Südbahnhof entsteht, die durch eine Haltestelle über den Gleisen realisiert werden kann. Führt man die Linie weiter über die Rüdesheimer Straße bis zur Landskronstraße, so entsteht eine Vernetzung mit dem System der Linien 6-8:

Straßenbahn-Trassierung - Abschnitt Süd

Abb. 7: Verlängerungsvarianten zwischen der Wendeschleife südlich der Eschollbrücker Straße zum Südbahnhof (blaue Pfeile = Main-Neckarbahn) und weiter zur Landskronstraße (blaue Pfeile = System der Straßenbahlinien 6-8)

 

Gestrichelt sind mögliche Trassenalternativen im Bereich Eschollbrücker Straße eingetragen. Die hier ebenfalls berücksichtigte direkte Weiterführung über die Wendeschleife hinaus dürfte angesichts der kleinteiligen Bebauung in der Heimstättensiedlung aber kaum machbar sein.

Betrieblich bietet es sich an, auf der somit vollständigen neuen Trasse zwischen Landskron­straße und Hauptbahnhof die Linie 1 verkehren zu lassen, die heute im Abschnitt „Heidelberger / Rheinstraße“ eine unnötige Doppelbedienung fährt. Ab Eschollbrücker Straße nach Norden würde sie dann auf der neuen Trasse die dorthin verlängerte Linie 3 zum attraktiven 7-Minutentakt ergänzen.

 

Den Verlauf der vorgeschlagenen Straßenbahn zeigt auch eine Bildergalerie auf der Übersichtsseite zur Weststadtentwicklung. Hier der direkte Link: Bildergalerie Weststadt-Straßenbahn.

Michael Siebert, November 2013