Die Geschichtsquelle des „Marmor Parium“
Eine der ersten Datierungen des Troianischen Kriegs
Übersicht:
Über die frühe und klassische Zeit Griechenlands und der Ägäis kennen wir zahlreiche Berichte und Dichtungen – überliefert sind sie jedoch meist nur aus sehr viel späteren Abschriften, Aufarbeitungen oder Zusammenfassungen. Eins der ältesten Originaldokumente ist eine große Marmortafel, die ob ihres Materials auch „Parischer Marmor“ genannt wird. Da man unter diesem Bezeichner aber allgemein den besonders sauberen weißen glänzenden Marmor von der Kykladeninsel Paros versteht, wird die daraus gefertigte Tafel zur besseren Abgrenzung vorzugsweise „Marmor Parium“ oder nach ihrem Inhalt „Chronicum Parium“ genannt.
Diese Marmortafel ist nur in drei Bruchstücken überliefert, die etwa ¾ der ursprünglich um die zwei Meter hohen Tafel ausgemacht haben dürften. Auf diesen Tafelfragmenten sind 107 Einträge überliefert, die – zusammen mit den fehlenden Einträgen – eine Chronik Griechenlands von 1582 bis 264 v.u.Z. zusammenstellen. Auf Grund der weit auseinanderliegenden Fundzeiten unterscheidet man ein größeres Tafelfragment A von dem sehr viel später gefundenen kleineren Tafelfragment B (Abb. 1).
Das insgesamt 92-zeilige Tafelfragment A gelangte bereits 1627 auf verschlungenen Wegen nach London, nachdem es zuvor im kleinasiatischen Smyrna (heute Izmir) aufgekauft worden war. Die Lokalisierung auf einen bestimmten Ausgrabungsort gab es also schon damals nicht mehr. Offenbar hat man aber die Tafel wegen ihres Materials der Insel Paros zuordnen können. In London wurde die Tafelaufschrift ein Jahr später in kommentierter Umschrift von John Selden publiziert. Nur in dieser Umschrift blieb der Inhalt des oberen Teils von Tafel A mit den Zeilen 1 bis 44 erhalten. Denn der obere Teil der Tafel A ging in den Religionskriegen unter Karl I (König von England, Schottland, Frankreich und Irland von 1600 bis 1649) verloren. Seldens Umschrift enthielt allerdings so viele Fehler und Ungenauigkeiten, dass der korrekte Wortlaut kaum noch wiederzugewinnen ist (vgl. dazu Jacoby S. XI).
Das im Original erhaltene und heute im Ashmolean-Museum von Oxford ausgestellte untere Stück von Tafel A hat eine Breite von 81 bis 82 cm und eine Höhe von 57 cm am linken sowie 34 cm am kürzeren, unten abgebrochenen rechten Rand. Zusammen mit dem verloren gegangenen oberen Stück dürfte die Tafel A eine Höhe von 109 bis 116 cm gehabt haben. Ihre Dicke betrug 11 bis 15 cm.
Tafelteil B wurde erst 1897 am östlichen Ende des Hauptorts Parikia auf Paros gefunden, sofort dem bereits bekannten Bruchstück in London zugeordnet und unter dem Titel „Ein neues Bruchstück der parischen Marmorchronik“ veröffentlicht. Er ist im Archäologischen Museum von Parikia auf Paros ausgestellt (Lokalisierung des Museums z.B. bei Fohrer, Kykladen, S. 282).
Abb. 1: Die Fragmente des Marmor Parium ungefähr in ihrer ursprünglichen Zuordnung. Im oberen Drittel kann lediglich die von Selden im Jahre 1628 gefertigte Majuskel-Umschrift wiedergegeben werden, darunter der erhalten gebliebene Teil von Tafel A. Im unteren Drittel steht der erst 270 Jahre später gefundene Tafelteil B mit Andeutung von verbleibenden Lücken darüber und darunter durch ergänzten Leerraum (Quelle: Hochschule Augsburg, Ulrich Harsch).
Am dem im Original überlieferten Tafelteil von A fehlt die rechte untere Ecke, im Tafelteil B ist die Beschriftung im Bereich der unteren Mitte durch spätere bauliche Nutzung des Steins zerstört. Zwischen den Tafeln A und B fehlt ein kleinerer Abschnitt, hinter B ein größerer.
Die Einträge der Chronologie werden als „Epistel“ bezeichnet (abgekürzt „ep.“). Die Epistel sind nicht mit den Zeilen auf der Marmortafel identisch, da der Text fast ohne Leerräume hintereinander geschrieben wurde.
Die nachfolgende Tabelle gibt eine Übersicht über die erhaltenen / überlieferten sowie verlorenen Bereiche. Sie unterteilt die Tafel A in die beiden Abschnitte des verlorengegangenen oberen Teils (Epistel A.1 bis A.29) und des erhaltenen unteren Teils (Epistel A.30 bis A.80). Geschätzte oder interpolierte Zahlenangaben sind in eckige Klammern gesetzt, die im Original oder auch nur in Umschrift überlieferten Teile sind Hellrot hinterlegt.
Jahre v.u.Z. |
Epistel |
Zeilen |
Zeilenanzahl (incl. Vorspänne) |
Höhe in cm |
---|---|---|---|---|
1582 bis 907 |
A.1 bis A.29 |
A.3 bis A.45 |
45 |
[54] |
895 bis 355 |
A.30 bis A.80 |
A.46 bis A.92 |
47 |
57 |
|
|
[Fehlraum] |
[13] |
[15] |
336 bis 299 |
B.1 bis B.27 |
B.2 bis B.32 |
31 |
39 |
|
|
[Fehlraum] |
[28] |
[35] |
|
|
Summen: |
[164] |
[200] |
Eingangs wurde schon angemerkt, dass mit dieser Marmortafel eine der ältesten originalen Quellen zur griechischen Geschichte der Bronze- und Eisenzeit vorliegt. Wie kann diese Quelle – also die Chronologie auf der Marmortafel – selbst datiert werden?
Diese Datierung ergibt sich recht einfach aus dem Tafelinhalt. Denn alle zurückliegenden Jahreszahlen wurden dort in Bezug auf das Erstelldatum der Tafel angegeben. Dadurch konnte die Chronologie insbesondere im zeitlichen ‚Nahbereich‘ mit uns bereits bekannten historischen Daten synchronisiert werden. Wenn es zu den vielen Informationen über die Alexanderzeit zum Beispiel heißt, dass Alexander der Große „vor 68 Jahren“ Babylon erobert hatte, so lässt sich aus der bekannten Datierung auf 331 v.u.Z. die Entstehung der Marmortafel selbst auf 264 v.u.Z. datieren. Entsprechend transferieren sich nun alle Daten dieser Chronologie in unser Zeitsystem.
Inhalte des „Marmor Parium“
Von den überlieferten Zeilen deckt die erste Hälfte (Zeilen A.1 bis A.53) den Zeitraum von 1582 bis 479 v.u.Z. ab, also insgesamt 1.103 Jahre. Die zweite Hälfte der überlieferten Zeilen (A.54 bis B.26) umfasst den Zeitraum von 477 bis 302 v.u.Z., also insgesamt nur 175 Jahre. Man sieht schon aus dieser Aufteilung, dass sich die Chronologie vor allem auf den historischen ‚Nahbereich‘ konzentrierte, während weiter zurückliegende Ereignisse eher knapp berichtet wurden.
Die Chronologie beginnt mit dem König Kekrops, der ab 1.582 v.u.Z. (1.318 Jahre vor Erstellung der Chronologie) als König von Attika die Dynastie der Kekropiden begründet habe. Sein Name ist von gr. Κέκροψ = „der Geschwänzte“ abgeleitet und beschreibt eine Gestalt aus der griechischen Mythologie, denn Kekrobs sei unmittelbar von der Erde geboren worden. Er wurde vorzugsweise mit einem drachen- oder schlangenartigen Unterleib dargestellt (Abb. 2).
Wenn Kekrops unmittelbar von der Erde abstammte, so ist an die Göttin Gaia zu denken, durch die in der griechischen Mythologie die Erde verkörpert wird. In Gaia blieb zugleich eine Erinnerung an die Urmutter oder Urgöttin lebendig, die für die lange frühe Geschichte des Matriarchats steht. Die Abstammung von der Erde ordnet den König Kekrops also in eine Phase des Übergangs vom Matriarchat zum Patriarchat ein.
Historisch abgesichert fällt dies in eine Zeit, in der sich die militärisch aufgerüsteten Mykener aufschwangen, das seitherige kulturelle Ägäis-Imperium der Minoer zu erobern und zu übernehmen. Und so kommt der kretische König Minos in der Chronologie alsbald ebenfalls vor. Er wird ab 1506 v.u.Z. datiert (ep. 11):
From when Minos [the first became king of Crete and settled Apoll]onia, and iron was discovered in Ida, by Celmis [and Damnameneus] of the Idaean Dactyls, [____ years], when Pandion was king of Athens.
Auch wenn die von ihrem Ausgräber Arthur Evens so genannte „minoische Kultur“ ihren Namen nach diesem König Minos erhielt, bleibt Minos eine Figur der Mythologie – ebenso wie Kekrops und all die anderen Könige, von denen die Parische Chronologie in ihrem ersten Abschnitt erzählt, der in die Zerstörung Troias mündet. Man darf daher auch in den Angaben der vom Troianischen Krieg erzählenden Epistel 23 ff keine historischen Daten sehen, sondern Erzählungen, in denen sich Mythologie und Geschichte auf kaum trennbare Weise miteinander verweben.
Die (englische) Übersetzung der Epistel 23 bis 26 im Umfeld des Troianischen Krieges lautet (Quelle: Ashmolean-Museum, Oxford; Ergänzungen durch die Bearbeiter und Deuter der Chronologie in eckigen Klammern):
Jahr v.u.Z. |
Epistel / Zeile |
Übersetzung |
---|---|---|
1218 |
23 / A.38 |
From when the [Helle]nes marched against Troy, 954 years, in the 13th year that [Men]estheus was king of Athe[ns]. |
1209 |
24 / A.39 |
From when Troy was taken, 945 years, in the 2nd year that [Menesthe]us was king of Athens, on the 7th day before the end of the month Th[argelio]n. |
1208 |
25 / A.40 |
From [the trial] on the Areopagus of Orestes, son of A[gamemnon, and Erigone,] daughter of [Ae]gisthus, [on behalf of Ae]gisthus and Cly[taemnestra]; which case Orestes won, [since the votes were equal]; [9]44 years, when Demophon was king of Athens. |
1202 |
26 / A.42 |
From when Teucer founded [Salamis in] Cyprus, 938 years, when Demophon was king of Athens |
Der Aufbruch der Griechen („Hellenen“) gen Troia im Jahr 1218 v.u.Z. wird hier vor allem mit der Regentschaft des Athener Königs Menestheus zeitlich korreliert. Menestheus ist auch in der Ilias mehrfach erwähnt, nach der er ein Athener Kontingent von 50 Schiffen in den Feldzug nach Troia anführte (Ilias 2.552 ff). Da seinerzeit die troianischen Geschichten Allgemeingut waren, ist es nicht verwunderlich, dass der Fall Troias 10 Jahre später (auf 1209 v.u.Z. ) datiert wird.
Nach Erwähnung der Orest-Geschichte findet sich als weiterer Eintrag für das Jahr 1202 v.u.Z., also sechs Jahre nach dem Fall von Troia, die Gründung von Salamis auf Zypern durch „Teucer“.Das ist insofern interessant, als Teukros keinen (Athener) Griechen, sondern sozusagen die Kombattanten der Griechen in Troia repräsentiert. Denn Teukros sei der erste König von Troia gewesen (insofern geht hier die Chronologie etwas durcheinander, weil ja die Griechen – laut Homer – gegen den ‚amtierenden‘ troianischen König Priamos gekämpft hatten). Nach ihm werden die Troianer auch Teukrer genannt. Die Epistel zu 1202 ist aber vor allem deshalb interessant, weil sie darauf verweist, dass auch die (verbliebenen) Troianer nach Zerstörung Troias auf Reisen gingen und nicht nur im sogenannten „Seevölkersturm“ an der Verwüstung des östlichen Mittelmeerraums mitwirkten, sondern dort auch ansässig wurden. In dieser Rolle werden sie mit dem „Seevolk“ der Tjeker identifiziert (Woudhuizen S. 107 u.a.).
Quellen zum „Marmor Parium”
- Wesentliche Quelle zum „Marmor Parium“ ist noch immer das bereits 1904 in Berlin erschienene Buch: „Das Marmor Parium, herausgegeben und erklärt von Felix Jacoby, Privatdozent an der Universität Breslau, mit drei Beilagen“. Es enthält ein kurzes einführendes Vorwort, eine editierte und in den meisten Lücken ergänzte griechische Umschrift des Textes, eine umfassende Generalkommentierung sowie eine weitere Kommentierung als „Anmerkungen zur Chronologie“, schließlich ein Verzeichnis der griechischen Eigennamen.
- Das Jakoby-Buch wurde von Google gescannt und ist bei Open Library als Scan im PDF- sowie DjVu-Format bereitgestellt, u.z. auf der Seite Das Marmor Parium, Jakoby 1904. Die dort ferner vorgehaltene reine Textfassung (auf die sich die Google-Online-Suche stützt) ist kaum empfehlenswert, weil es sich um einen nicht nachbearbeiteten OCR-Scan handelt, der insbesondere alle griechischen Textteile nicht erfassen konnte.
- Über den Philologen Felix Jakoby (1876 bis 1959) informiert ein ausführlicher Wikipedia-Artikel. Das Marmor Parium-Buch war seine Habilitationsarbeit.
- Das Jacoby-Buch enthält keine Übersetzung zur griechisch-sprachigen Chronik! Eine englische Übersetzung hat hingegen das Ashmolean-Museum bereitgestellt, das den unteren Teil von Tafel A ausstellt. Die Webseite verweist auf eine ganze Reihe von Dokumenten zur Chronik Griechenlands, unter denen sich auch ein Abschnitt „239: Marmor Parium“ findet: http://www.attalus.org/translate/chronicles.html.
- Faksimiles des Marmor Parium (zum verlorenen oberen Teil von Tafel A nur als Umschrift) hat Ulrich Harsch auf der Website der Hochschule Augsburg veröffentlicht: http://www.hs-augsburg.de/. Diese Quellen sind zwar auch (als „drei Beilagen“) Bestandteil des Jakoby-Buches, doch Google hat diese eingefalteten Anlagen nur automatisch und damit so unsorgfältig gescannt, dass der Großteil der eingefalteten Einlagen ungescannt blieb.
- Im Rahmen der Quellenklärung sollte auch erwähnt sein, wie es seinerseits um die Quellen des Marmor Parium steht. Denn natürlich fußte diese in Marmor gefasste und wohl öffentlich präsentierte Darstellung wiederum auf Dokumenten, die damals von griechischer Mythologie und Geschichte erzählten, die aber weitestgehend nicht mehr im Original verfügbar sind. Jakoby untersucht im Vorwort zu seiner Herausgabe des Marmor Parium (S. XI ff), um welche Quellen es sich dabei im Einzelnen gehandelt haben könnte. Er unterscheidet dabei vier Gruppen von Notizen und deren unterschiedliche Quellen (atthidografische [Geschichte von Atthis / Lokalgeschichte von Athen]und universalgeschichtliche Notizen, Heuremata sowie Literatur- und Musikgeschichte).
- Zum Seevölkerkontext bzw. zur Zuordnung der aus dem troianischen Krieg bekannten Kombattanten zu Seevölkern, wie sie die Ägyptischen Quellen vermitteln, ist die Dissertation von F.C.Woudhuizen eine gute Quelle, die auch im Web als PDF-Datei zu lesen ist: F.C.Woudhuizen - The Ethnicity of the Sea Peoples