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Die Mopsos-Dynastie – eine Verbindung von Kilikien und Troia


Übersicht:


 

1. Der Seher Mopsos

Auch wenn ein wesentliches Buch zur wissenschaftlichen Diskussion von Raoul Schrotts Kilikien-Hypothese „Lag Troia in Kilikien?“ betitelt wurde (Ulf-Rollinger 2011), hat Schrott solches nicht behauptet (vgl. meinen Brief an Rollinger). Schrott hat nach Orten der Anschauung gesucht, aus der ein in Kilikien beheimateter Dichter als schriftkundiger Schreiber in assyrischen Diensten seine Details bezogen haben könnte, mit denen er die Ilias so reichhaltig ausgestattet hat.

Mit dieser Verortung des Dichters in Kilikien bekommt Schrott aber ein Problem: er muss erklären, wie der Kern der Troia-Sage, jene Kriegsgeschichten um die fern im äußersten Nordwesten Kleinasiens an den Dardanellen gelegene, von Achaiischen Griechen jahrelang belagerte Burg und Stadt Wilusa > Ilion > Troia  in das südöstliche Kleinasien am Golf von Issos (Iskenderun ) gekommen sein könnte, damit es Homer dort dichterisch aufgreifen konnte. Für diesen Transfer der Kernsage, die in den „Dunklen Jahrhunderten“ ohne schriftliche Überlieferungen von Sängern (Rhapsoden) immer wieder erzählt (und dabei auch verfremdet) wurde, macht Schrott vor allem die in mythologischen Überlieferungen erzählte Wanderung des Sehers Mopsos (und seines Gefolges) verantwortlich, der ursprünglich von der Ägäisküste Kleinasiens stammte, dann aber weit nach Osten bis Kilikien (und noch darüber hinaus bis in die Levante) gezogen sei. Der Mopsos-Mythos – so Schrott

„...der auf archäologisch nachweisbaren Wanderbewegungen nach 1200 beruht, die vorstellbar machen, wie eine im Nordwesten der Ägäis spielende Geschichte ins östliche Mittelmeer gelangte.“

[wäre R.S. doch nicht auch noch bei der Formulierung seiner Kernthesen oft so schlampig! Er meint natürlich „...eine im Nordwesten [Kleinasiens] an der Ägäis...“ bzw. „...eine im Nordosten der Ägäis spielende...“].

Handfestes hört man von Mopsos‘ Auftritt in Kilikien hinsichtlich einer Stadtgründung (Der Neue Pauly, Band 7, Sp. 391). Mopsos habe nämlich (neben anderen Städten) am Unterlauf des Pyramos-Stroms die Stadt Mopsuhestia gegründet – gr. Μοψον εστια , was „Herd des Mopsos“ bedeutet (Abb. 1).

Abb. 1: Alle Orte im ostmediterranen Raum, die in diesem Artikel angesprochen werden

 

2. Der Seher Kalchas

Um diesen „Seher“ Mopsos besser einordnen zu können, ist ein geweiteter Blick auf die Rolle von „Sehern“ in der bronzezeitlichen Frühgeschichte der Ilias-Erzählung hilfreich. Insofern ist eine Seherperson greifbarer, die die Achaier in ihrem gesamten Krieg um Troia– von seinen ersten vergeblichen Anläufen ab Argos bis zum Rückzug nach der Troias Zerstörung –  begleitet hat: Kalchas. Er wird in Homers Ilias gleich zu Beginn vorgestellt (I.68 ff):

       ... unter ihnen erhob sich
Kalchas, Thestors Sohn, von den Vogelflugdeutern der beste,
Der, was ist und was sein wird und früher Gewesenes wußte
Und nach Ilion hin der Achäer Schiffe geleitet
Durch seine Seherkunst, die ihm Phoibos Apollon gegeben.

Ein solcher Seher war also der geschichtlichen Erinnerung kundig, ferner eine Figur, die ihre Zeit mit wachen Augen über- und durchschaute und die aus dem Flug der Vögel sogar die Zukunft zu lesen wusste.

Seltsam nur, dass in der Ilias nirgends eine solche Deutung des Vogelflugs durch einen Seher beschrieben wird. Selbst die umfassendste und aufwändigste Enzyklopädie der Antike, Der Neue Pauly, unterliegt da der Suggestion von Kalchas‘ Titel als „Vogelflugdeuter“, als er zu Kalchas resümiert, der „dem in Aulis zur Abfahrt versammelten Heer aufgrund eines Vogelzeichens die Eroberung Troias im zehnten Kriegsjahr prophezeit.“ (zur Lage von Aulis vgl. Karte in Abb. 1).

Tatsächlich hat Kalchas – vgl. Ilias II.300 bis 330 –  eine Schlangenszene gedeutet. Eine Schlange – kein Vogel – „schoss“  in der Opferszene der „Festhekatomben... um die Quelle bei den geweihten Altären“ unter dem Altar hervor, fuhr hinauf auf eine Platane und fraß dort eine Sperlingskolonie von acht Küken nebst Muttervogel. Diesen Tod der neun Vögel mit nachfolgender Versteinerung der Schlange als „sichtbares Zeichen“ deutete Kalchas sodann als die vor den Achaiern liegenden neun langen Jahre, nach deren Ablauf Troia erst im zehnten Jahr erobert werden könne.

Vögel und deren Flug werden in der Ilias nicht einmal indirekt in Szenen ihres Auftritts mit einem Seher in Verbindung gebracht. Die Art ihres Erscheinens selbst ist äußerst gegensätzlich – aber immer einfach und unmittelbar verständlich: Zum einen dienen ‚edle‘ Vögel wie der Falke und insbesondere der Adler als Metapher zur Beschreibung von ‚Helden‘. Vor allen wird dem herausragenden achaiischen Kämpfer Achilleus (dem „Peliden“) mehrfach jene Eigenschaft zugeschrieben, wie ein Adler (oder Falke) zu agieren, z.B. in XXI.251 [siehe zur Adler-/Falken-Metapher ferner:  XII.200, 218, XIII.64, 821, XVII.675, 757, XXI.253, XXII.138]:

Und der Pelide entsprang, so weit der Wurf einer Lanze
Reicht, mit des Adlers Stoßkraft, des schwarzgeflügelten Jägers,
Welcher zugleich der stärkte ist und der schnellste der Vögel,
Dem gleich stürmte er hin...

Auch edle Rosse bewegen sich manchmal so geschwind wie Vögel (II.764). Ambivalent ist dann schon der Vergleich der – in ihrem Habitus gewalttätigen, nach Rache, Eroberung und Vernichtung dürstenden – Achaier in ihrer ungeheuer großen Zahl mit einem Vogelschwarm (II.459)... der über seine Opfer herfällt.

Diese Ambivalenz kippt voll ins ‚unedle‘, wo „Vögel“ – hier nun „anonym“, d.h. ohne Konkretisierung auf eine bestimmte Art und meist zusammen mit den noch heute im vorderasiatischen Raum verachteten Hunden – die Boten des Todes sind, weil ihnen die Leichen der Gefallenen zur weiteren Schändung und Ausweidung hingeworfen werden. Diese Rolle der Vögel wird schon in den allerersten Zeilen der Ilias, bei der Beschwörung ihres Leitmotiv vom Zorn des Achilleus, zum Thema [ferner in II.395, VIII.379, XI.395, XI.454, XIII.831, XVII.242, XXII.335, 354]:

Göttin, singe mir nun des Peleussohnes Achilleus
Unheilbringenden Zorn, der tausend Leid den Achäern
Schuf und viele stattliche Seelen zum Hades hinabstieß
Der Heroen, sie selbst zur Beute machte den Hunden
Und den Vögeln zum Fraß ...

Die Gegensätze verknüpfen sich auch bisweilen, wo etwa der ‚edle‘ Adler über andere Vögel herfällt (z.B. XV.690).

Dieser vielzahlige, gegensätzliche und damit bedeutende Auftritt von Vögeln in der Ilias einerseits, bei fehlender Verknüpfung mit den angeblich zu ihrer Deutung berufenen Sehern andererseits wirft die Frage auf, welche Rolle diese Seher in der bronzezeitlichen Kriegergesellschaft überhaupt (noch) gehabt haben.

Die Götter der Ilias / die Götter Homers

Denn eigentlich bedurfte es ihrer nicht. Die Götter waren in der bronzezeitlichen Frühgeschichte noch nicht fernab im Olymp platziert, wurden noch nicht wie später in der Antike in großen Tempeln verehrt und dort durch ein künstlerisch gefertigtes, aber ‚totes‘ Standbild lediglich repräsentiert, waren also noch nicht dem alltäglichen Treiben der Menschen entrückt.

Vielmehr sind die Götter der Ilias mit all den guten und vor allem vielen schlechten Eigenschaften von Menschen ausgestattet. Sie lieben, intrigieren, kämpfen und vernichten, sie sind sogar (im Kampf) körperlich verletzbar (z.B. in der „Götterschlacht“, wo Athene dem Kriegsgott Ares am Hals eine Wunde beibringt – XXI.392 ff). Sie treten in Menschengestalt auf und teilen ihre Wünsche oder Befehle unmittelbar mit. Sie personalisieren nicht nur Eigenschaften von Menschen (Liebe > Aphrodite, Kriegslust > Ares usw.), sondern auch die Naturwelt um die Menschen herum:

Der Himmel zeigt sich als Gott Uranos, die Erde als Gaia, der Vulkanismus als Hephaistos, das Meer als Ozeanos. Selbst all die Flüsse werden durch Götter repräsentiert, etwa die beiden Flüsse in der Ebene von Troia durch die Götter Skamandros und Simóeis (darüber hinaus vgl. z.B. Hesiods Theogonie: Himmel, Berge und Meer als Nachkommen von Gaia und Uranos, in Ziff. 126 bis 132).

Was soll da also noch ein Seher? Selbst der Neue Pauly widmet dieser Seher-Rolle keinen Artikel. Vielleicht weil eine ‚Soziologie der Frühgeschichte‘ fehlt oder nicht auf das Interesse von Althistorikern stößt [auf eine dahin gehende Web-Suche findet man vor allem die Umkehrung in „Frühgeschichte der Soziologie“, in der sich diese, meine, oft nur als Fliegenbeinzählerei betriebene Wissenschaft meist immer noch – oder wieder – befindet].

Zwischen all den Göttern, Helden, Stadtkönigen, Kämpfern sowie unzähligen namenlosen, als Ruderer, Soldaten und Gefallene mitwirkenden, einfachen Leuten, bei herausragenden Auftritten nur weniger Frauen, etwa der Gemahlinnen von Priamos und Hektor – Hekabe und Andromache –, sowie der Beutesklavinnen Chryseïs und Briseïs, nicht aber von Helena (vgl. dazu meinen Helena-Artikel), kommt dem Seher eine merkwürdig aus dem Rahmen fallende Rolle zu. Der im endlosen Entstehen begriffene Basler Ilias-Großkommentar von Latacz u.a. sortiert im einleitenden Prolegomena-Band im Zuge der Strukturierung des „Figurenbestandes der Ilias“ nach 18 Seiten über Götter (S. 115 bis 132) in nur 11 Seiten über menschliche Figuren (S. 133 bis 143) den Seher Kalchas unter Aufzählungsziffer 5 (von 6; S. 138) neben dem „hässlichsten Achaier Thersites“ oder dem nicht gerade berühmt gewordenen Herold Taithybios als achaiische „Figur mit Sonderrolle“ ein und qualifiziert ihn nur als „Sohn des Thestor II, bester Vogelschauer und Seher der Achaier“.

Bei einem solchen Qualitätsvergleich müsste es eigentlich auch noch andere ‚nicht so beste‘ Seher geben – gibt es aber nicht. Erwähnung findet in der Ilias nur noch ein Seher der mit Troia verbündeten Mysier mit dem Namen Ennodos (II.858, XVII.218; Mysien gab es aber erst zu Homers Zeit!) oder der von Apollon ebenfalls mit der Seher-Gabe ausgestattete Priamos-Sohn Helenos (VI.76), und ‚natürlich‘ (wirklich ‚natürlich‘? – jedenfalls nur ganz am Schluss des Epos und damit faktisch marginal) Kassandra (XXIV.699) – also allesamt „Seher(Innen)“ auf troianischer Seite.

Mit „Sehern“ im Kontext des bronzezeitlichen Kriegsgeschehens um Troia können also weder Der Neue Pauly noch der Basler Ilias-Kommentar etwas anfangen.

Es hilft weiter, dem Vogelmotiv (aber auch dem der Schlange!) zu folgen. Vögel sind in den Geschichten der griechischen Mythologie weder Menschen (auch nicht in Form von Metamorphosen) noch Götter, die sich sonst in allen möglichen Erscheinungsformen der menschlichen Umwelt verstecken.

 

3. Die Vogelgöttin

Vögel hatten aber eine große mythologische Bedeutung. Sie waren eine Erscheinungsform der Urgöttin, in der sich die Göttlichkeitsvorstellungen der schriftlosen Frühgeschichte – weit vor den Mykenern und Teukrern (Troianern) nebst ihren Bundesgenossen vor allem im Hethitischen Raum – personalisierten und konzentrierten.

Die interdisziplinär arbeitende Archäologin und Erforscherin des frühgeschichtlichen Matriarchats, Marija Gimbutas, hat diese Göttinnenfigur aus einer Vielzahl von Bildbelegen frühgeschichtlicher Kulturen herausgefiltert (Gimbutas 1998, insbes. S. 316 ff, s.a. den Wikipedia-Eintrag zu Marija Gimbutas).

Diese Göttinnenfigur (Beispiel in Abb. 2) entstand aus der Erkenntnis der Menschen, „dass das Leben auf der Erde einem fortwährenden Wandel unterworfen ist, einem beständigen und rhythmischen Wechsel zwischen Schöpfung und Zerstörung, Geburt und Tod.“ Dieser Wechsel ist auch ein Kreislauf von lebengeben, sich entfalten, absterben und sich erneuern. Da das Leben von Menschen allein von Frauen gegeben werden kann, bekam die Frau eine besondere Bedeutung in diesem Deutungszusammenhang. Ihre Fähigkeit als Lebensschöpferin erlangte göttliche Qualität.

Gimbutas lehnt jedoch eine Interpretation der Urgöttin als „Muttergöttin“ ab, weil diese Qualifizierung zu eng gefasst sei. Denn die vorrangig feststellbare Verkörperung der Urgöttin in Vögeln – und auch in Schlangen – lässt sich nicht mit einer alleinigen Rolle als Lebensspenderin zusammenbringen. Vielmehr repräsentiert diese Göttin alles – vom Leben geben bis zum Leben nehmen. Da sich in der Frühgeschichte keine Spuren einer Vaterfigur finden lassen, war die Urgöttin für beides ‚zuständig‘: „Lebenspenderin und Todbringerin waren ein und dieselbe Gottheit. Ihre Erscheinungsformen sind vielfältig: Sie kann ...  in Menschen- oder in Tiergestalt auftreten; sie kann ein Wasser- oder ein Raubvogel, eine harmlose oder eine giftige Schlange sein; doch letztlich ist sie eine einzige, unteilbare Göttin.“  Als Vogelgöttin ist sie „sowohl eine Todesbotin als auch die lebensschöpfende Göttin mit Brüsten ..., oder sie erscheint als Dreieck (Vulva) ... mit Geierklauen, als Biene oder als Schmetterling.“

Hier haben wir all die gegensätzlichen Eigenschaften beisammen, die noch in der Ilias den Vögeln zugeschrieben werden – die der Todesboten wie der Lichtgestalten, in der Ilias aber nicht mehr die Rolle der Lebensspenderin. Die Schlange tritt hier nur noch in der Rolle der Todesbotin auf (Geschichte der Opferung mit Fraß der Sperlingsfamilie), ein positives Bild fehlt in der Ilias.

Der „Seher“ Kalchas ist als „Vogelflugdeuter“ nur noch eine vage Erinnerung an die längst versunkene Zeit des Matriarchats. Er findet sich deshalb kaum noch in einer „Sonderrolle“ (wie im Basler Kommentar) sondern letztlich nur noch in immer bedeutungsloser werdender Stellung. Wo die Urgöttin nicht mehr verehrt wird, hat auch der Seher nichts mehr aus dem Flug der Vögel als Inkarnationen dieser Göttin zu deuten. Die Vorgeschichte einer sich in Vögeln und Schlangen verkörpernden Urgöttin wird vielmehr vielschichtig ‚abgewickelt‘. Beispielszenen aus der Ilias:

In beiden Fällen wenden sich verschiedene Inkarnationen der früheren Vogelgöttin gegeneinander. Dies war auch schon bei der Opferszene im Hafen von Aulis so, als die Schlange die Sperlingsfamilie fraß.

Die einzige Seher-Aktivität im Kontext mit Vögeln ist in der Ilias nur/noch mit einer Frau verbunden. Die Frauen haben in den mykenischen Zeiten des kriegerischen Patriarchats ihre gesellschaftliche Relevanz verloren, verkörpern aber das Geschlecht der Urgöttin. Drei  Frauen spielen am Ende der Ilias noch einmal  eine Rolle – und prägen deren letzten Gesang. Zunächst tritt Priamos‘ Gattin Hekabe auf, die ihrem Mann und König Erfolg bei der Rückholung des Leichnams ihres Sohnes Hektor verspricht, wenn „Kronion“ den zu erbetenden Vogel schickt (XXIV.290 ff). Dies ist also die einzige Szene der Verbindung von Sehertätigkeit mit einem Vogel:

Flehe du aber nun zum schwarzumwölkten Kronion,
Dem Idäischen, der auf das ganze Troja herabblickt,
Bitte ihn um einen Vogel, den schnellen Boten, der ihm selbst
Ist der liebste der Vögel und dessen Kraft ist die stärkste,
Dir zur Rechten, auf daß du selber mit Augen ihn wahrnimmst,
Daß du voller Vertraun zu den Danaerschiffen dann hingehst.

Nebenbei ist hier interessant, dass für dieses Zeichen nicht Zeus, sondern dessen Vater Kronos angerufen wird, also ein Gott weit zurück in der Göttlichkeitsgeschichte. Der schickt dann aber zeitaktuell einen Adler.

Sodann erhält noch die Tochter von Priamos und Hekabe, die Seherin Kassandra einen winzigen Auftritt, die ansonsten im Kontext der Ilias-Dichtung gar keine Rolle spielt: Priamos kehrt zusammen mit seinem Herold auf dem Wagen mit dem ausgelösten Leichnam Hektors vom griechischen Lager zurück. Er ist dort aus den Zelten des Achilleus auf Mahnung des Götterboten Hermes, der ihn am Vorabend mit weiteren Männern dorthin – unsichtbar für die anderen Griechen neben Achilleus – begleitet hatte, noch in der Nacht eilig aufgebrochen, um nicht Agamemnon und Co. als noch teurere Geisel in die Hände zu fallen. Nun geht die Sonne (Eos) auf, doch nur Kassandra „sieht“, was eigentlich gar nicht zu übersehen ist (XXIV.695 ff):

Eos im Safrangewand beschien schon ringsum die Erde;
Beide trieben zur Stadt die Rosse mit Jammern und Seufzen,
Und den Toten trug das Maultiergespann. Aber keiner
Sah sie unter den Männern und schöngegürteten Frauen
Vor Kassandra, schön wie Aphrodite, die goldne,
Wie auf die Burg sie stieg und den Vater, den lieben, gewahrte,    
Der auf dem Wagen stand mit dem stadtdurchrufenden Herold.
Und sie sah im Maultiergespann auf dem Lager den Toten.

Kein Vogel mehr, kein Bedarf an Deutung durch jene Frau, über die andere Legenden erzählen, sie habe den Fall Troias als bedeutende Seherin frühzeitig vorausgeschaut. Die Formulierung dieses nach dem Tod des Troia-Beschützers Hektor absehbaren Untergangs, der nicht mehr seherisch vorhergesagt werden muss, kommt – die Ilias abschließend – Andromache zu, der Frau Hektors:

»Mann, du verlorst so jung dein Leben und läßt mich als Witwe
Hier in den Hallen zurück; und dein Sohn, der ist ja ein Kind noch,
Den wir, du und ich, wir Unseligen, zeugten, und schwerlich
Kommt er zur Jugendreife; zuvor wird die Stadt hier von Grund auf
Ausgetilgt werden, da du, ihr Hüter, gefallen; ... ««Mit Troia und seinen Frauen und mit dem XXIV. Gesang der Ilias geht auch die Kunst unter, das Wirken der Urgöttin in ihrer Inkarnation als Vogel zu deuten, ja die Deutungsfähigkeit der Frauen überhaupt geht danieder in bloße Formulierung von Sichtbarkeit und Erwartbarkeit des grässlich Evidenten.

 

4. Der Seherwettstreit von Kalchas und Mopsos

Kommen wir zurück zu Kalchas, der zwar in seinem Berufsleben als „Vogeldeuter“ keine Vogelflüge gedeutet hat, doch immerhin im einen oder anderen Fall einen Rat zum Fortgang des Kriegsunternehmens liefern konnte. Einer dieser Ratschläge betraf eine Frau – die Iphigenie, Tochter von Agamemnon – ohne deren Opferung den Griechen aus seiner Sicht nicht die günstigen Winde Richtung Troia geweht hätten. Kann die Abkehr vom Matriarchat, die historisch auch durch die mykenischen Griechen vollzogen worden war, symbolträchtiger inszeniert werden als durch einen „Seher“, dessen Fähigkeit auf eine vage Erinnerung an die Urgöttin verkümmert ist und der dieser Erinnerung in Verkörperung durch eine Frau nun den Todesstoß geben will?

Nach dem Fall von Troia kamen Dramen über die erfolgreichen Griechen. Kaum einer kehrte direkt und unversehrt nach Hause zurück. Nicht nur der sprich­wörtlich gewordene Odysseus irrte durch das Mittelmeer, sondern auch der spartanische König Menelaos, der seine Helena wohl erst in Ägypten zurückerhielt (vgl. den Helena-Artikel auf dieser Website). Die „Helden“ wüteten und kolonisierten – nach Troia und dessen Umgebung – nun anderenorts im Mittelmeerraum:

Odysseus begann seine „Irrfahrt“ mit der Plünderung und Zerstörung der thra­kischen Stadt Ismaros, Hauptstadt der Kikonen, deren Männer er abschlachtete und deren Frauen er mitnahm (Odyssee IX.39 ff; vgl. zur Lage auch dieser Stadt wieder Abb. 1). Teukros hingegen gründete das zyprische Salamis. usw. usf. All diese Vorgänge scheinen ein Geschehen zu reflektieren, das nach dem Fall Troias als „Seevölker­sturm“ in die vage Erinnerung sowie in die Homer‘sche Odyssee-Dichtung einging, in manchen zeitgeschichtlichen ägyptischen Quellen aber auch präziser überliefert wurde.

Auf diesen Irrfahrten der von Troia wegströmenden Heerscharen soll der Seher Kalchas auch mit dem Seher Mopsos in Kontakt gekommen sein. Mopsos, der angebliche göttliche Apollon-Abkömmling, empfahl sich mit Gründung des Orakels von Klaros als Seher der Zukunft. Dies Klaros (hier die Geoposition von Klaros in den gut erhaltenen Grundmauern des dortigen Apollon-Tempels) lag an der kleinasiatischen Ägäisküste genau südlich von Smyrna (heute Izmir) in der Bucht von Ephesos und gehörte zur ca. 13 km landeinwärts gelegenen antiken Stadt Kolophon (vgl. auch hier wiede rzur Lage die Abb. 1).

Hier habe Mopsos den Kalchas zum Seherwettstreit herausgefordert. Dabei ging es nicht um Naturgewalten und andere bedeutende göttliche Zumutungen, sondern um ganz praktische Dinge landwirtschaftlicher Produktion. Der Vorgang sei hier in der Zusammenfassung aus Apollodors „Bibliotheke“ zitiert (Apollodor, Epitome 6, S3 und S4):

(S3)...Und als Kalchas sich bezüglich eines dastehenden Feigenbaumes erkundigte: »Wieviel (Ertrag) hat er? «, dieser aber sagte »Zehntausend, und zwar dem Maß nach einen Scheffel und eins darüber«, maß Kalchas nach und fand einen Zehntausender, und zwar einen Scheffel und ein Überschüssiges gemäß der Vorhersage des Mopsos.

Mopsos aber fragte bezüglich einer Sau, die dem Gebären nahe war, den Kalchas, wie viele Ferkel sie im Bauch habe; als der aber sagte: »acht«, lächelte Mopsos und behauptete: »Kalchas verhält sich zur genauen Orakelkunst gegensätzlich, ich aber, der ich ein Sohn des Apollon und der Manto bin, bin in der Scharfsicht der genauen Orakelkunst gänzlich reich und gebe das Orakel, daß sie, nicht wie Kalchas (sagt), acht, sondern neun im Bauch habe, und diese alle männlich, und daß sie morgen ohne Aufschub in der sechsten Stunde geboren werden. « Nachdem dieses nun geschehen war, starb Kalchas aus Niedergeschlagenheit und wurde in Notion begraben.

Mit praktischen Fragen zum Ertrag von Feigenbäumen und zum Nachwuchs von Säuen war der nun gänzlich aus der Zeit gefallene „Vogeldeuter“ Kalchas überfordert und starb, als er erkannte, wie obsolet er nun war. Demgegenüber war Mopsos als Matador der heraufbrechenden neuen Zeit – der griechischen Kolonisation, der Landwirtschaft und des Städtebaus – geistiger Herr der Lage und begann im Lichte dieses Ruhms seinen Weg in den Osten. Dabei könnte er auch – wie Raoul Schrott es vermutete – die Troia-Geschichte mitgenommen haben, die ihm von Kalchas und/oder anderen Teilnehmern an diesem Unternehmen sicherlich erzählt worden war.

 

5. Was lässt sich über Mopsos in Kilikien entdecken?

Solche Erzählungen wie die des Seherstreits sind sehr viel eher in den Horizont der Mythologie als in den realer Geschichtsschreibung einzuordnen. Real ist aber, dass nach dem Fall Troias Griechen in wachsender Zahl auch nach Kilikien einwanderten und dort Städte gründeten und dass die Mopsos-Geschichten in von Homer unabhängigen Quellen berichtet werden, aus denen auch der Dichter Homer geschöpft haben kann. Dräger identifiziert die Quellen der „Bibliotheke“, deren Zusammenstellungen selbst erst um die Zeitenwende erfolgten, in schriftlichen Sammlungen aus dem 5. Jahrhundert v.u.Z., wobei diese wiederum auf mündliche Überlieferungen zurückgehen, die jedenfalls ins 9. Jahrhundert zurückreichen (Dräger 2005, S. 883 ff). Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass die Mopsos- Geschichten auch im von Griechen besiedelten Kilikien bekannt waren.

Die scheinbar so konkreten Angaben über Mopsos dürfen aber nicht für bare Münze genommen werden. So sind über seine Todesumstände gleich zwei völlig unterschiedliche Versionen in Umlauf:

Wikipedia behauptet – ohne Angabe eines Literaturbelegs in dem sehr kurzen Eintrag – Mopsos sei in dem von ihm ebenfalls gegründeten kilikischen Mallos gestorben (zu den kilikischen Orten s. Abb. 3). Das könnte sich auf Strabon stützen, der über die Gründung von Mallos durch Mopsos folgendes berichtet (Strabo XIV.5 Ziff. 16):

In seiner [des Pyramos-Stroms] Nähe ist auch das auf einer Anhöhe gelegene Mallus, ein Anbau des Amphilochus und Mopsus, des Sohnes Apollos und der Manto, von denen vieles gefabelt wird....

Mopsus und Amphilochus, sagt man, gründeten, von Troja kommend, Mallus. Darauf ging Amphilochus nach Argos; allein mißvergnügt mit den dortigen Verhältnissen, kehrte er wieder nach Mallus zurück, und von der Teilnahme an der Regierung ausgeschlossen forderte er den Mopsus zu einem Zweikampfe heraus. Beide fielen und wurden begraben, jedoch nicht im gegenseitigen Anblicke. Noch jetzt zeigt man ihre Gräber bei Magarsa unweit des Pyramus.

A. Forbiger, Übersetzer und Kommentator der hier zitierten und bereits 1855 erstmals erschienenen Strabon-Ausgabe vermutete Mallos (lateinisch „Mallus“) unmittelbar an der Mündung des historischen Pyramos, wo heute der Ort Karataş liegt (Forbiger-Fußnote 50 zum 5. Kapitel – dem Kilikien-Kapitel – im XIV. Buch Strabons: Wahrscheinlich auf einem Hügel am östlichen Ufer des Gihun [= Pyramos] unweit seiner Mündung in der Nähe der Ruinen von Karadash zu suchen).

Hier dürfte aber nur der Hafen von Mallos gelegen haben, nämlich Magarsa. Erst seit Mitte der letzten Jahrhunderts weiß man aus einem epigraphischen Fund, dass das Mopsos’sche Mallos ca. 35 km vom historischen Hafen aus landeinwärts am Pyramos in der Nähe des heutigen Dorfs Kızıltahta zu suchen (aber kaum noch zu finden) ist (siehe zu allem ausführlicher die [vorerst nur geplanten] Ortsseiten zu Mopsuhestia, Mallos und Magarsa im Kilikien-Bereich dieser Website).

Bei Karataş – so behauptet Strabon – habe er noch die Gräber von Mopsos und Amphilochos gesehen. Die hätten so weit auseinander gelegen, dass man vom einen Grabe aus das andere nicht sehen konnte (so die Forbiger-Interpretation zu: „nicht im gegenseitigen Anblicke begraben“).

Von einem ganz anderen Todesort eines Mopsos spricht Der Neue Pauly (Band 8 Sp. 390). Danach starb er auf Reisen, „als er in Libyen von einer Schlange gebissen wird“. Dieser Mopsos dürfte aber eine andere Person als jener Seher gewesen sein, der in Kilikien besagte Städte gründete. Die Beziehung zwischen beiden sei noch unklar, vielleicht gab es eine Familie von Sehern dieses Namens, vermutet Der Neue Pauly. Bemerkenswert ist hier jedenfalls der Verweis auf Libyen, weil sich in Zeiten des „Seevölkersturms“ jene aus den Kombattanten vor Troia gespeisten „Seevölker“ mit den Libyern zum Sturm auf Ägypten verbündet hatten. In dieser Kunde leuchtet also eine weitere Verknüpfung in diesen Seevölker-Kontext auf.

Mopsos – der Dynastiegründer von Karatepe-Aslantaş

Es handelte sich aber bei jenen Mopsos-Figuren, wie sie sich in den unterschiedlichen Todesberichten spiegeln, nicht nur um zwei Personen, sondern um eine ganze Mopsos-Dynastie. Denn dafür besitzen wir seit noch nicht allzu langer Zeit eine sehr gute, weil buchstäblich „in Stein gemeißelte“ Quelle, die noch 500 Jahre nach dem Fall von Troia in Kilikien von dieser sehr lebendigen Dynastie spricht: die Inschriften der Festung Karatepe-Aslantaş (vgl. auch hier zur Lage die Abb. 1).

Azitawada, der Erbauer und Herrscher dieser Festung, die nach kurzer Blüte 667 v.u.Z. von den Assyrern zerstört wurde, ordnet sich selbst dem „Haus des Mopsos“ zu. Er habe die große Ebene von Adana von allen bösen Menschen befreit, die nicht Untertanen des „Haus des Mopsos“ waren. Er habe das Land mit Burgen befestigt, damit das Haus des Mopsos“ auch in Zukunft lebe. Hier als Beispiel ein Ausschnitt aus diesen Inschriften, die auf der Seite „Die Bilingue von Karatepe-Aslantaş“ vollständig wiedergegeben sind (I-13 ff):

... Und ich baute starke Befestigungen
an allen Enden auf den Grenzen an den Orten, an denen
böse Menschen waren, Bandenführer, von denen nicht ein Mann untertan
gewesen war dem Hause des Mopsos. Ich aber, Azitawada, legte sie unter meine Füße.

Zu diesen Inschriften gehörte in den Toranlagen der Festung Karatepe-Aslantaş inhaltlich und räumlich ein umfassenden Bildprogramm von Reliefs auf um die 100 Basaltplatten (Orthostaten). Diese Bilder harren noch immer der Deutung, für die auch die Inschriften herangezogen werden sollten. Die Bildplatten erzählen offenbar auch von der Geschichte jenes Staates, der zu den Blütezeiten der Festung von „Azitawada aus dem Hause Mopsos“ beherrscht war. Die historischen Bildverweise gehen zurück bis in die Zeit der Seevölker, als diese nach dem Fall von Troia ihre Kriege in den östlichen Mittelmeerraum trugen und dann dort u.a. in Kilikien ansässig wurden. Näheres dazu im Essay zur Deutung der Bildwerke: Von der Seevölkerschlacht zu den Lotosessern.