Homers Schiffskatalog:
Flottenschau vor dem „Seevölkersturm“
Es folgt die Web-Kurzfassung eines Beitrags, der über diesen Link (7,2 MB) auf einer separaten Registerkarte in einer PDF-Datei bereitgestellt wird.
Im PDF-Format kann er heruntergeladen, auch offline oder ganz ohne Bildschirm im Papierausdruck gelesen werden.
Die in dieses PDF-Dokument eingebetteten Hyperlinks mit Quellen und weiterführenden Hinweisen (dort wie allgemein üblich blau und unterstrichen statt wie hier gelb formatiert) lassen sich natürlich nur in der Datei ausführen.
Die nachfolgende Kurzfassung hat gegenüber der PDF-Version einen Vorteil, dass die Karten in den Abb. 2 und 3 interaktiv gestaltet sind.
Die Aufzählung von 29 Flottenkontingenten mit insgesamt 1184 gegen Troia segelnden Schiffen im zweiten Buch von Homers Ilias ist entgegen verbreiteter Meinung durchaus keine dröge Lektüre. Solche „Listen“ waren in der Antike geradezu beliebt. Zudem versteht es Homer, allerlei mythologische Geschichten zu den Heerführern und Herkunftslandschaften einzuflechten. Und so hat der „Schiffskatalog“ auch Roland Petersen angeregt, mit viel Computerpower diese riesige Flotte in einer opulenten Eingangssequenz seines Troia-Films von 2004 aufs virtuelle Meer zu pixeln.
Abb. 1: Die griechische Flotte in Petersens Troia-Film nähert sich der kleinasiatischen Küste
Nach Ansicht namhafter Homer-Interpreten habe Homer mit dieser Flottenschau unter der Hand „eine Art Landkarte Achaias“ (also Griechenlands) beschrieben. Merkwürdig nur, dass bislang keiner diese „Landkarte“ tatsächlich gezeichnet hat – auch Wikipedia-Autoren nicht, die sich nur an unzureichenden Skizzen in der einschlägigen Literatur bedienen (Wikipedia-Ressource Iliasschiff.jpg).
Hier folgt ein Versuch, diese Karte aus den vielen Informationen der letzten großen, knapp 800 Seiten mächtigen Arbeit zum Thema grafisch zu veranschaulichen. Sie bezieht sich auf Edzard Visser, Homers Katalog der Schiffe, Teubner 1997 (nähere Informationen hierzu und umfassendere Literaturübersicht in der PDF-Fassung auf deren letzter Seite).
Das Ergebnis ist, wenn man so will, immer noch enttäuschend. Denn es konnte – quellenbedingt – nur ein Flickenteppich entstehen, in dem die Gebiete meist nicht aneinandergrenzen, weil ihre Grenzen schlicht unbekannt bleiben. Viele der von Homer im Schiffskatalog genannten 187 Orte konnten nicht identifiziert werden, oft gibt es nur einen Zentralort und eine vage Ahnung, bis wohin das Herkunftsgebiet eines Flottenkontingents hätte reichen können.
Die Karte in Abb. 2 ist interaktiv gestaltet: Sie nummeriert die Herkunftsgebiete der Flottenkontingente in der Reihenfolge ihrer Nennung. Wenn die Computermaus (ohne Klick) über einer dieser Zahlen schwebt, wird ein Popup-Rahmen mit näheren Informationen zu diesem Kontingent eingeblendet, insbesondere zur Anzahl der entsandten Schiffe – ggf. mit einer näheren Qualifizierung durch ein Epitheton wie (in den meisten Fällen) „schwarze“ (Schiffe). Ferner sind der oder die Anführer sowie die Anzahl der von Homer im Herkunftsgebiet des Kontingents genannten Orte aufgeführt.
Abb. 2: Kartierung der Herkunftsgebiete aller 29 Kontingente im Schiffskatalog der Ilias nach Angaben im Visser-Buch. Zur besseren Unterscheidung der Bereiche wurden vier Rottöne verwendet (die darüber hinaus aber keine Aussage transportieren sollen). Die Nummern stehen für die Kontingente in der Reihenfolge ihrer Auflistung im zweiten Buch der Ilias. Ausgewählte Lokalitäten, Landstriche und Inseln sind ergänzend benannt, insbesondere rechts oben Troia an den Dardanellen.
Abgesehen von der Fleckenhaftigkeit der Herkunftsgebiete fällt in der Darstellung von Abb. 2 vor allem auf, dass nahezu die gesamte Inselwelt der Ägäis (mit Ausnahme von Kreta, Rhodos und den südlichen Sporaden) am Flottenaufmarsch gegen Troia nicht beteiligt gewesen sein soll. Dies ist befremdlich, weil sowohl die früheren Herrscher über diesen Raum – die sogenannten „Minoer“ auf Kreta – als auch die nachfolgenden so genannten „Mykener“ ihren Einflussbereich auf diesen Ägäis-Raum erstreckt hatten (warum die beiden Herrschaftsgebiete „so genannt“ wurden, steht in der PDF-Fassung im 3. Abschnitt: „Vergleich mit Realgeschichte: Minoer, Mykener und Achijawa“).
Die nachfolgende Karte (Abb. 3) ist über ‚Knöpfe‘ auf der linken und rechten Seitenmitte umschaltbar, die von der darüberschwebenden Maus eingeblendet werden. Sie zeigt den minoischen Einflussbereich in der mittleren Bronzezeit sowie das mykenische Herrschaftsgebiet der späten Bronzezeit. Zunächst standen die „Mykener“ noch unter dem Einfluss Kretas, bis sie im Zuge gewaltsamer Eroberung der größten Mittelmeerinsel deren Einflussbereich übernehmen konnten.
Aus lediglich zwei Angaben im Schiffskatalog zu den Besatzungsstärken der Schiffe wurde bislang meist auf ein viel zu großes Heer der Griechen geschlossen. Schiffe mit der für die Böoter genannten Anzahl von 120 Ruderern (= Kriegern) gab es zu mykenischer Zeit jedenfalls nicht, wahrscheinlich nicht einmal jenen Typ der fünfzigrudrigen Pentekontere (Abb. 4).
Insofern sollte als Standard eine Anzahl von 20 Ruderern/Kriegern je Schiff zugrundegelegt werden, wie sie Homer insbesondere in der Odyssee nennt.
Auch die Mengen der Schiffe, wie sie im „Schiffskatalog“ für die meisten Kontingente angeführt werden, dürften stark überzogen sein. Realistisch erscheint hingegen jenes kleine Kontingent von nur 12 Schiffen, wie es dem Odysseus zugeschrieben wird – auch weil es in gleicher Größenordnung in der Odyssee wieder auftaucht. So ergäbe sich für Odysseus ein Truppenkontingent von (12 * 20 =) um die 250 Männern, was auch den damaligen Siedlungsgegebenheiten und Bevölkerungsdichten angemessen gewesen sein dürfte.
Solche Größenordnungen stehen in auffälliger Übereinstimmung zu jenen Kontingentstärken und Schiffstypen, die in Ägyptischen Tempelinschriften für die sogenannten „Seevölker“ genannt werden. Dabei handelt es sich um im Original überlieferte, weil in Stein gemeißelte und seitdem nicht durch mannigfaltige Rezeption, Abschrift und Bearbeitung veränderte Schriftquellen.
Aus diesen ägyptischen Quellen sind sehr konkrete Angaben zu den „Seevölkern“ überliefert. In den Reliefs der Tempelanlagen werden sogar anschauliche Bilder gezeigt, aus denen Eigenarten wie Hörner- oder Büschelhelme, Rippenpanzer und Bewaffnung hervorgehen. Dennoch werden diese Seevölker meist noch immer mit dem Nimbus des Geheimnisvollen umgeben, als ob sie aus heiterem Himmel hereingebrochen und den gesamten ostmediterranen Raum verwüstet hätten.
Abb. 5: Ausschnitt aus einem Relief an der Nordmauer des Totentempels von Ramses III in Oberägypten (Umzeichnung des heute stark verwaschenen Bildes) – Seeschlacht mit Seevölkern. Links zwei ägyptische Schiffe mit Rudern (grau nachkoloriert), rechts oben ein „Seevölker‘-Schiff mit Borstenhelm-Besatzung, darunter ein Seevölkerschiff mit Hörnerhelm-Besatzung (beide Schiffe ohne Ruder, braungrau nachkoloriert). Hörnerhelme sind blau, Borstenhelme hellbraun, ägyptische Kopfbedeckungen lila und Waffen golden nachkoloriert.
Soweit ist sehe, wurde bislang nicht der Versuch gemacht, die Epen Homers mit diesen realhistorischen Vorgängen in Beziehung zu setzen. Dabei gibt es neben Hinweisen in den Homer‘schen Epen selbst auch aufschlussreiche Passagen in Sekundärquellen, insbesondere in den schon früher entstandenen „Kypria“ oder in späteren Arbeiten, etwa Apollodors Bibliotheke. Sie verweisen darauf, dass sich die aus dem griechischen Raum gestarteten Flotten eher sekundär mit Troia, hingegen primär mit der Eroberung und Verwüstung zahlreicher anderer Städte und Regionen im ostmediterranen Raum befasst haben. In diesen Flotten des Homer’schen Schiffskatalogs können daher wesentliche Kontingente jener „Seevölker“ gesehen werden, von denen die altägyptische Quellen berichten. Homers „Schiffskatalog“ könnte daher die Flottenschau jener Seevölker widerspiegeln, die sich (nach Ägyptischen Angaben) untereinander verabredet haben, um – nach vielen Zerstörungen im ostmediterranen Raum – im Bündnis mit dem benachbarten Libyen zum finalen Angriff gegen das pharaonische Ägypten anzusetzen.
Ägypten konnte diesen Angriff zweimal zurückschlagen. Doch die großen Imperien jener Zeit, aus denen die „Seevölker“ kamen oder die sie zuvor zerstört hatten, waren untergegangen: das ‚mykenische‘ Reich Achijawa, das Hethitische Reich in Kleinasien samt seinem Vorposten in Troia und die großen Handelsstädte wie Ugarit in der Levante. Ein halbes Jahrtausend später jedoch diente die dichterische Verarbeitung, Verwandlung und Überhöhung dieser Untergangsgeschehnisse in den Epen Homers als Mythos, der dem antiken Griechenland eine bis heute nachwirkende Identität gegeben hat.
Und hier geht es zur ausführlicheren PDF-Fassung von Homers Schiffskatalog – Flottenschau vor dem „Seevölkersturm“ (7,2 MB, öffnet auf einem separaten Reiter).