„Homer in völlig neuem Licht“
...so titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) am 22. Dezember 2007 eine Art von ‚Weihnachtsgeschichte‘, die den (für weite Kulturkreise) „Begründer der europäischen Literatur“ in einen ganz anderen Kontext stellte, nämlich in einen orientalischen. Das passte gut zu Weihnachten, wo doch der Namensgeber des Christentums ebenfalls ein Orientale war – ein palästinensischer Jude, was gerne von jenen Fans ‚europäischer Identität‘ gedanklich ausgeblendet wird.
Über vier FAZ-Vollseiten hinweg konnte seinerzeit der österreichische Schriftsteller Raoul Schrott seine Forschungsergebnisse erläutern, die ihn zu der Hypothese geführt hatten, dass Homer ein griechischer Schreiber in assyrischen Diensten gewesen sei und sein räumlicher Lebensmittelpunkt im Bereich Kilikiens gelegen haben dürfte. Diese am Golf von Iskenderun zwischen Taurus-Gebirge (mit der kilikischen Pforte) und Amanus-Gebirge (mit der syrischen Pforte) gelegene Tiefebene mit ihrer heutigen Hauptstadt Adana war in Homers Zeit ein militärisch hart umkämpfter Interessenbereich des Assyrischen Großreichs.
Die etablierte Altertumsforschung weiß so gut wie nichts über Homer. Umso rührseligere Geschichten („blinder Dichter“) sind in Umlauf. Und im Ägäisraum streiten sich an die 20 Orte um ‚Homers Heimat‘. Dennoch fiel die etablierte Historikerszene über Raoul Schrott her, als drohe der Untergang des Abendlandes (siehe: „Der Latacz“). Es schien für jene einfach nicht hinnehmbar, dass das erste literarische Großwerk, das bislang allein der europäischen Geschichte zugeschrieben wurde, aus fremdem ‚barbarischen‘ Kontext stammen könnte. Wozu hatten die Griechen Europa vor dem Sturm der orientalischen Perser gerettet und damit (angeblich) erst die Identität Europas begründet, wenn nun der größte Literat dieser unserer Identitätsbegründer ein im Orient verwurzelter Schreiber gewesen sein soll?!
Nun gut, mit den heutigen Griechen ist nicht mehr viel los – so sehen es zumindest unsere ‚Europa-Fans‘; sie müssen ihrerseits „gerettet“, und mit irrwitzigem Milliardenaufwand in „Europa“ gehalten werden. Sie repräsentieren heute so gar keine politisch brauchbare Kontinuität mehr in jene ‚grandiosen‘ Sphären der Antike im ersten vorchristlichen Jahrtausend. Da darf offenbar nicht auch noch die historisch-literarische Legitimität Europas in Gestalt von Homer abhandenkommen.
Aspekte dieser Website
- Der Konflikt zwischen Raoul Schrott und seinen „Kritikern“ hat mithin eine eminent politische Dimension... und Politik war mein halbes Leben, interessiert mich (zumindest beobachtend) noch immer ein wenig. Daraus ergibt sich, dass auf dieser Website auch noch ein paar politische Fäden weitergesponnen werden sollen (insbesondere in der Abteilung „Darmstadt“).
- Raoul Schrotts Buch „Homers Heimat“ erschien als eine Art Begleitkommentar zu seiner im Auftrag des Hessischen Rundfunks gefertigten Ilias-Übersetzung, die sodann – gesprochen vom Schauspieler Manfred Zapatka – über den Äther lief (prämiert mit dem Deutschen Hörbuchpreis – vgl. die Quelle im Wikipedia-Zapatka-Artikel) und außerdem als Tonträger produziert wurde. Die Diskussion um Raoul Schrotts Homer-Buch führte zu unzähligen Beiträgen in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern. Umso erstaunlicher ist es, dass nie eine gleichnamige Website erschien. Hier ist sie nun und gibt Gelegenheit, weitere aufklärende Beiträge zum Thema auch im Web zu veröffentlichen.
- Mich reizt zudem die Vorstellung, die von Raoul Schrott beschriebenen Orte in Kilikien zu bereisen, um seine Argumentation vor Ort nachzuvollziehen. Dies ist mir bislang nicht gelungen – auch weil spezielle Angebote von Reiseunternehmen in diesen Raum immer wieder zurückgezogen oder nicht umgesetzt werden. Merkwürdig, dass dies Bereisungsinteresse nicht auch bei anderen Schrott-Lesern entsteht. Oder fehlt einfach nur der Kondensationskeim? Dann könnte diese Webseite ihn vielleicht bieten; auch für Leser, die eine solche Reise bereits durchgeführt haben und hier darüber berichten wollen.
Nachtrag 2015: Eine erste große Reise nach Kilikien habe ich im Frühjahr 2015 durchgeführt und dabei einige von Raoul Schrott erörterte Lokalitäten besucht und geprüft. Auswertungen sind auf der Regionenseite Kilikien zusammengefasst.
- Ebenso wäre es interessant, die Troas – also den gesamten Raum zwischen Troia und dem Ida-Gebirge nördlich des Golfs von Edremit – auf den Spuren der Ilias zu bereisen. Eine solche Reise würde sich auf eine ungleich intensivere Erkundung richten, als sie Touristen möglich ist, die im Bus auf der Durchreise von (z.B.) Canakkale nach Pergamon mal eben für 2 Stunden in die Ausgrabungsstätte herausgelassen werden und dann ratlos vor dem Chaos der vielschichtig zuzuordnenden Trümmer stehen. Eine auf das Umfeld gerichtete einwöchige Erkundung hatte ich bereits im Jahre 1999 im Kontext eines anderen Erkenntnisinteresses unternommen. Erneut wäre sie auf dem Hintergrund von Raoul Schrotts Thesen ein faszinierendes Projekt (erste Notizen auf der Troas-Seite).
- Die Beschäftigung mit „Homers Heimat“ bietet vielfältige Anknüpfungspunkte zum Entschlüsseln einer lange zurückliegenden Geschichte. Ein solches historisches Entschlüsselungsinteresse treibt mich eigentlich meist bei Reisen, auch wenn sie nichts oder nur wenig mit Homer zu tun haben. Das betrifft z.B. eine andere, ebenfalls auf dieser Website behandelte Wurzel unserer Geschichte im bronzezeitlichen Zypern. Auch in diesem Kontext stößt man dann allerdings immer wieder auf ... Homer.
- Ein wichtiger Erkenntnishebel zu interessanten Reisezielen, die sich nur jenseits vom Sandstrand-Dösen finden lassen, sind neben kulturgeschichtlichen Hintergründen auch die naturgeschichtlichen Rahmenbedingungen. Meist liefern Informationen über die Geologie eines Orts erst die relevanten Grundlagen, die Spezifika oder gar die Identität eines Ortes zu erkennen und einzuordnen. Deshalb schwingt in vielen meiner Beiträge auf dieser Website dieser Aspekt zumindest mit, wenn er nicht gar als wesentlicher Verständniszugang entfaltet wird – auch wenn die Geologie nicht mein Fachgebiet ist. Ich hoffe aber, dass es mir gerade deshalb (mehr oder minder) gelingt, die geologische Einordnung eines Ortes so darzustellen, dass sie nicht als unverständlicher Jargon ‚rüberkommt‘. Wäre diese Website so bedeutend wie „Homers Heimat“ von Raoul Schrott, so würden vermutlich allerlei Gralshüter der geologischen Wahrheit auch über mich herfallen.
Ich wünsche den Besuchern dieser Website eine anregende Lektüre ... und mir das / die / den eine oder andere Feedback / Ergänzung / Beitrag / Kritik / Verriss / Bericht / Quellenhinweis ... sowie irgendwann einmal eine Reise an die Stätten der assyrischen Herrschaft über Kilikien, die einen „Homer“ zu den unzähligen dichterischen Details seiner Ilias angeregt haben könnten.
Diese Ende 2013 gestartete Website ist noch sehr fragmentarisch. Das wird prinzipiell auch so bleiben ... wie die wohl nie komplettierbaren Fragmente unseres Wissens über Homer. Insbesondere fehlen noch ausgesprochen zentrale Teile über Kilikien, über Homer und Zypern (das betrifft vor allem die „Kypria“ als wesentliche Quelle über den Troianischen Krieg) oder über jene geheimnisvollen „Seevölker“ vom Ende des 2. Jahrtausends vor Christus, denen aus meiner Sicht der Verfasser der „Odyssee“ ein literarisches Denkmal gesetzt hat.
Michael Siebert, im September 2013
...mit dem Nachtrag aus 2015, dass meine erste große Reise nach Kilikien in diesem Jahr stattgefunden hat. Der Einstieg in deren Dokumentation findet sich hier.
Eine weitere Reise in diese so spannenden Gebiete wird aber jedenfalls vor 2019 nicht möglich sein. Denn es ist nicht zu erwarten, dass die diktatorische Entwicklung in der Türkei vor einer zu erhoffenden Wahlschlappe des aktuellen Präsidenten in diesem Wahljahr in irgendeiner Weise korrigiert werden kann – im Gegenteil.
Raoul Schrotts „Homers Heimat“ – Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe“ sowie „Homer Ilias – Übertragen von Raoul Schrott“ sind im Hanser-Verlag München 2008 erschienen. Seine Ilias-Übertragung ist auch von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt (WBG) in ihr Programm übernommen worden.