Helena – ein Traum des Altertums

Um diese Frau kreist die Geschichte der ilias, Homers Dichtung über den troianischen Krieg.Nach Ihr werden bis heute Kinder benannt, sie beseelt die Kunst vom Film bis zur Malerei. Warum fasziniert sie so, was ist dran an der Helena-Geschichte?

Eine druckfäige Version dieses Artikels findet sich hier: Helena.pdf (leicht aktualisierte Version von Herbst 2016)

 


Übersicht:


 

1. Helena in den troianischen Geschichten

„Homer“ und „Troia“ verbanden sich in meiner Jugend mit Gustav Schwabs „Schönsten Sagen des klassischen Altertums“. Aufregende Geschichten von Helden, Göttern, Kriegen und schönen Frauen („für die Jugend neu bearbeitet“) wurden verschlungen – trotz winzigem Satz in 9 Punkt-Schrift und einem ‚Schinken‘ von an die 600 Seiten.

Diese Textfülle lockerte sich nicht wirklich durch die wenigen beigegebenen Zeichnungen auf, zumal etwa die dort abgebildete Helena nicht gerade den Ausdruck erhabenster Schönheit illustrierte (Abb. 1). Die flüssige und anschauliche Schwab’sche Erzählweise setzte hingegen im Überfluss prachtvolle Bilder in der Phantasie frei.

Es blieb hängen, dass Paris die Helena raubte (weil ihm die Göttin Aphrodite die schönste Frau der Welt versprochen hatte) und er damit den Anlass für den Troianischen Krieg lieferte. Dem gehörnten Helena-Ehemann Menelaos rief sein Bruder Agamemnon, der wichtigste unter den Kleinkönigen der Griechen, ein mächtiges Heer zusammen, um Troia zu bestrafen und Helena zurückzuholen.... was dann nach zehn Kriegsjahren auch schließlich mit Hängen und Würgen, und eigentlich erst durch eine List („Troianisches Pferd“) gelang.

Heute werden wohl mehr Menschen ihre Kenntnisse über Homer und Troia aus Wolfgang Petersens Troia-Film aus dem Jahr 2004 bezogen haben, dessen Kosten-/Einspielverhältnis von 175 zu 497 Mio. US $ bereits seinen großen Erfolg signalisiert (Abb. 2, sowie Wikipedia). Allerdings hatte dieser Film nur noch sehr wenig mit Homer zu tun. All die Götter, die so bedeutend in die Troianischen Geschehnisse eingewirkt hatten, gab‘s hier gar nicht, dafür jede Menge muskulös glänzenden Brad Pit und schöne Frauen, vor allem Diane Kruger in der Rolle der Helena (wer’s nicht ganz so schlicht haben will, schaut die 3 Stunden und 10 Minuten-Fassung des Directors Cut, in dem wenigstens die verbliebenen Menschenrollen etwas besser zur Entfaltung kommen).

Aber wer hat schon Homer selbst gelesen? Die vorherrschenden Ilias-Übersetzungen versuchen, den Rhythmus und das Klangbild der griechischen Hexameter auch in den übersetzten deutschen Wortlaut hineinzudrechseln. Raoul Schrott meint in der Einleitung zu seiner eigenen, 2008 erschienenen Übersetzung von Homers „Ilias“, dass man in den klassischen Übersetzungen oft „herausfinden muss, wo bei ihren Versen hinten und vorne ist“, um dann zu schlussfolgern: Wenn „man hier erst einmal das Deutsch enträtseln muss, um zu verstehen, was gemeint ist, hat dies wesentlich dazu geführt, dass die Ilias heute kaum mehr gelesen wird.“ (S. XXXI f)

Liest man dennoch das Original, so wird man alsbald feststellen, dass die romantisch-grausige Geschichte vom Raub der Helena in diesem Werk gar nicht vorkommt. Homer konzentriert sich nämlich auf einen Handlungskern von lediglich sechs Tagen im letzten Kriegsjahr (mit 21 Tagen Vorlauf und 24 Tagen Ausklang – vgl. Latacz, Troia und Homer, 2010, S. 255), lässt also seine Themen in einem zeitlich ungemein eng konzentrierten Zeitabschnitt aufblühen – und das sind Themen, die nicht um „Frauenraub“ ranken.

 

2. Helena in Homers Ilias

Die Stellen, an denen Helena in der Ilias erwähnt wird, sind – gemessen an anderen Hauptakteuren – ausgesprochen rar. Sie konzentrieren sich auf das 3. Buch (3. „Gesang“), das sich mit einem für Paris peinlichen Zweikampf mit Menelaos befasst, dem legitimen Gatten Helenas und Königs von Sparta (Abb. 3). Zuvor erfolgt nur eine eher beiläufige Erwähnung Helenas im 2. Gesang (II.160 f), gefolgt von zwei Stellen, an denen schon mal vorbereitet wird, dass Helena „ihrem“ Paris nicht freiwillig gefolgt sei. Denn die Achäer (Griechen) wollen Rache nehmen für „Helenas Bangen und Seufzen“ (II.356 und 590).

Vor dem Zweikampf um Helena und – nicht zu vergessen – um die umfangreiche Beute, die mit diesen Frauenraub (wie damals üblich) verbunden war, kommt Homer nicht umhin, zunächst den Grund für diesen Zweikampf anzusprechen. Er tut dies nur knapp, ohne Details zu der vorangegangen Entführung und mit deutlicher Betonung einer gründlichen Distanz Helenas zu den Troianern im Allgemeinen und Paris im Besonderen:

Die Heere – Troianer und Achäer – nehmen Schlachtaufstellung. Bei den Troern tut sich sogleich der „göttergleiche Alexandros“ (= Paris) prahlerisch hervor (III.14 ff; alle nachfolgenden Zahlen beziehen sich auf die Verszählung dieses dritten Buchs), bis ihm Menelaos entgegentritt (21 ff). Da schreckt der eben nur „göttergleich“ scheinende, aber nicht wirklich „göttliche“ Alexandros kleinmütig zurück (31), wird von Hektor ob seiner Feigheit gescholten (38 ff), der ihn (im Gegensatz zu Homers Namen „Alexandros“) „Paris“ nennt und den Kriegsanlass ohne jedes Verständnis für Paris‘ Handeln nun indirekt wiedergibt:

Unglücks-Paris, sehr schön von Gestalt und Frauenverführer,
wärst du nie doch geboren und unvermählt doch gestorben...
bist ... über das Meer hin gefahren,
um dir bei fremden Leuten ein schönes Weib zu entführen,
aus entlegenem Land, die Schwägerin streitbarer Männer
deinem Vater zum große Leid, und der Stadt, und dem Volke ...

Nachdem sich die beiden auf einen einlenkenden Vorschlag des Paris (67 ff) geeinigt haben, die Angelegenheit per Zweikampf zwischen Paris und Menelaos auszufechten, schlägt Hektor dies den Heeren in einer Rede vor, für die Agamemnon dem Kampf Einhalt gebietet (86 ff):

Hört nun an ihr Troer und gutgeschienten Achäer
was Alexandros sagt, dessentwegen der Streit sich erhoben...
doch in der Mitte er selbst und dem Ares lieb Menelaos
sollen allein um Helena kämpfen und alle die Schätze...

Hektor fordert feierlich dazu auf, Opferlämmer für Gaia, Helios sowie Zeus herbeizuschaffen (104) und auch den troianischen König Priamos herbeizuholen. Die Rüstungen werden ausgezogen und niedergelegt. Auch Helena wird – durch die Götterbotin Iris – informiert (121 ff)

Zur weißarmigen Helena kam als Bote nun Iris,
ganz der Schwägerin gleich, des Antenoriden Gemahlin...

Die troianische Führung hat sich auf einem Turm hoch über dem Schlachtfeld gesammelt (153 ff), sieht Helena sich diesem Turm nähern und ist aus der Distanz zunächst kurz entzückt, dann irritiert und letztlich vernünftig:

Nicht zu verargen ist Troern und gutgeschienten Achäern,
daß sie um solch eine Frau so lange schon Schmerzen erleiden;
den unsterblichen Göttinnen gleicht sie schrecklich an Aussehn.
Aber auch so, obwohl sie so ist, sie kehre nach Hause,
Daß nicht unseren Kindern hernach zum Leide sie werde.

Ungeachtet dessen heißt Priamos die Helena in dieser Runde willkommen. Die erklärt ihm nun die Helden im achaiischen Heer, allen voran Agamemnon (173 ff, 199 ff). Priamos fährt sodann auf seinem Streitwagen an den Ort des Zweikampfs (260 ff), an den ihn zuvor (105) zwecks Beeidung des Zweikampfs Hektor angefordert hatte, bleibt dort aber stumm, während Agamemnon (mit Odysseus > 268) den Zweikampf beeidet und gegenüber Zeus versichert (281 ff):

Wenn jetzt den Menelaos niedermacht Alexandros,
dann soll er selbst die Helena haben und alle die Schätze,
wir aber kehren dann heim in den meerdurchfahrenden Schiffen.

Entsprechendes versichert Agamemnon für den gegenteiligen Ausgang, samt der Forderung nach zusätzlicher Buße durch die Troianer, für die der Krieg im Zweifel weitergeführt würde, bis sie geleistet sei (eine solche Buße war damals in Frauenraubs-Angelegenheiten üblich).

Priamos zeigt sich in diesen feierlichen Vorgang nicht involviert, scheint also nur schweigend dabeigestanden zu haben. Er erklärt sodann, dass er den Tod seines Sohnes (mit dem er offenbar rechnet) nicht ertrüge (306) und zieht sich nach Troia zurück, beeidet also weder in gleicher Form wie Agamemnon, noch nimmt er aktiv an der Opferung teil. Priamos ignoriert und unterläuft somit den Wunsch des edlen Kriegers Hektor, die Beendigung des Kriegs durch einen Zweikampf auch von troianischer Seite aus zu besiegeln.

Der Zweikampf verläuft alsbald elend für Paris, Menelaos schleift ihn nach einen Lanzentreffer am Helmgurt durch den Staub, bis Paris‘ Schutzgöttin Aphrodite den Helmgurt durchtrennt, Paris in einen Nebel hüllt und ihn darin verborgen in sein Schlafgemach entrückt, sodann Helena vom Turm herunter hinzukommandiert. Die aber sieht sich von Aphrodite getäuscht, weil sie offenbar einen Entscheid im Kampf erwartet hat, und geigt dieser nach Strich und Faden die Meinung (399 ff), ja verflucht sie gar (405 ff):

Geh und setze dich zu ihm [Paris] und weiche vom Pfade der Götter,
kehre nie mehr mit deinen Füßen zurück zum Olympos,
sondern plage dich dauernd um ihn, und behüte ihn ständig
bis er vielleicht zur Götting dich machen wird oder zur Sklavin...

Helena lässt sich dann aber doch noch von Aphrodite einschüchtern und geht aufforderungsgemäß zu Paris, gewinnt dort zunächst ihre Fassung zurück und scheltet nun diesen (428 f):

Kommst du vom Kampf? O wärest du dort zugrunde gegangen
von dem Manne bezwungen, der früher mein Gatte gewesen...

Helena knickt nach Paris‘ relativ plumper Replik erneut ein und lässt sich doch noch dazu bewegen, mit ihm ins Bett zu steigen, während draußen Agamemnon ob des offensichtlichen Siegs von Menelaos den Preis einfordert (436 ff). Hektor steht verraten da (muss aber später die Folgen ausbaden). Paris hat sich dem Zweikampf feige entzogen und gibt sich lieber dem Sex mit Helena hin. Und der König Priamos hat sich aus allem herausgehalten. Auf diese Weise steht nun das troianische Lager gründlich delegitimiert da. Jetzt (ab dem 4. Gesang) geht der Krieg erst richtig los. Der gebrochene, vor den Göttern beschworene Vertrag gibt dem achaiischen Krieg eine neue Legitimität – vielleicht überhaupt erst eine Legitimität –, wo der vorangegangene Frauenraub diese wohl gar nicht in dieser Form liefern konnte.

Die Rolle von Helena ist gespielt, sie findet in der Ilias keine besondere Erwähnung mehr.

 

3. Geschichten vom Frauenraub

Die vielschichtigen Geschichten und verborgenen Lehren, die uns Homer in seinem gewaltigen, detailliert ausgefeilten Epos erzählen will, interessieren sich nicht für Frauenraub. Denn der scheint in der damaligen Zeit durchaus üblich gewesen zu sein. Das wissen wir insbesondere von Herodot:

Der antike Historiker Herodot aus dem kleinasiatischen Halikarnassos (heute Bodrum, an der südwestlichen Küste gegenüber der Insel Kos gelegen) lebte bis ungefähr 424 v. Chr. und gilt als „Vater der Geschichtsschreibung“. Sein Wirken ist von dem großen Krieg zwischen Persern und Griechen im 5. Jh. geprägt, der noch heute bei vielen Ideologen als Geburtsstunde Europas gilt, das aus dem Kampf der Griechen gegen asiatische Mächte erwachsen sei (heute in der Version: „Deutschlands Freiheit wird am Hindukusch verteidigt“). Wohl deshalb beginnen auch Herodots „Historien“ mit Überlegungen, worin die Ursachen für diese tiefe Feindschaft zwischen Persern (oder auch „Barbaren“) und Griechen gelegen haben könnten – eine Frage, die wir uns auch heute noch immer wieder neu stellen dürfen.

Der archaische Konflikt hob danach mit einer Unternehmung der Phoniniker an, die sich an der levantinischen Küste, also am asiatischen Ostrand des Mittelmeers in der Gegend von Tyros angesiedelt hatten (vgl. die Karte des östlichen Mittelmeers und Schwarzmeers in Abb. 4). Sie entwickelten sich von den levantinischen Häfen her zum handeltreibenden Seefahrervolk und steuerten auf ihren Reisen auch das mykenische Argos mit seinem Hafen Nauplia an. Nach einigen Handelstagen kam die Argeiische Königstocher Io mit zahlreichen anderen Frauen zu den Handelsschiffen im Hafen von Argos. Man muss dabei im Blick haben, dass Argos im Hinterland lag und der Argeiische Hafen Nauplion rund 15 km entfernt war. Selbst von der viel näher gelegenen mykenischen Burg Tiryns waren es noch ca. 4 km bis zum Hafen (Abb. 5).

Die Phoiniker überfielen die Frauen. Die meisten konnten zwar fliehen, doch Io und einige Begleiterinnen wurden in die Schiffe verschleppt und dann nach Ägypten verbracht. Warum diese Reise nicht zurück nach Tyros, sondern nach Ägypten ging, wäre an anderer Stelle zu vertiefen. Ebenso bleibe hier unerörtert, dass die Phoiniker behaupteten, Io sei freiwillig mitgefahren, nachdem sie zuvor schon gerne „mit den Schiffsherrn Buhlschaft getrieben“ habe (Historien I.5).

Der gegenseitige Frauenraub nahm nun seinen Lauf. Zunächst fielen Krieger aus der Ägäis (wahrscheinlich Kreter) in Tyros ein, raubten die Königstochter Europa und brachten sie nach Kreta.

Soweit, so dröge bei Herodot. Es sei hier deshalb nicht unterschlagen, dass die „Bibliotheke des Appolodor“ als eine der wertvollsten (allerdings erst sehr viel später zusammengestellten) Quellen zur griechischen Mythologie eine etwas andere Geschichte über die Verlagerung der Europa von Tyros nach Kreta – also vom „barbarischen“ Asien nach „Europa“ – erzählt (3. Buch, Randziffern 1 bis 3):

Der Meeresgott Poseidon (Bruder von Zeus und Hera) hatte mit Libya (angeblich einer Enkelin der – wie vorstehend erwähnt ebenfalls entführten – Io, jedenfalls namensgebend für Libyen) die zwei Söhne Belos und Agenor gezeugt. Agenor siedelte sich in Phönizien an und zeugte dort vier Kinder, darunter neben drei Söhnen die Europa. Auch auf sie wurde der olympische Herrscher und allzeitige Frauenfänger Zeus aufmerksam, der sich ihr in Gestalt eines Stieres näherte, sie nach Kreta entführte, wo sie den Minos zur Welt brachte, den späteren König von Kreta, der dann auch auf verschlungene Weise für die Hervorbringung des Minotaurus verantwortlich wurde, den später der Thebaner Theseus wieder (mit Ariadnes Fadenhilfe) aus der Welt nahm. Rückführungsbemühungen blieben nach Apollodor erfolglos, schon weil die von Agenor ausgesandten drei Brüder der Europa jene nicht finden konnten und sich anderweitig mit den damals in Gang kommenden Kolonisierungsaktivitäten (u.a. in Kilikien) befassten.

Weiter mit Herodot: Andere Hellenen fuhren nach Aia in Kolchis am Fluss Phasis (östliche Schwarzmeerküste, der Phasis-Fluss heißt heute „Rion“) und raubten dort die Königstochter Medeia (wohin Medeia verschleppt wurde, erzählt Herodot nicht). Die Kolchier forderten Rückgabe und Sühne, was die Hellenen verweigerten, weil es für den Raub der Io auch keine Sühne gegeben habe (einfaches Lebensmotto: „Wie Du mir, so ich Dir“; das Alte Testament transportiert diese Sicht etwas brutaler).

Diese Vorgänge und deren Folge, dass es nie zu Bußleistungen gekommen war, habe sich nun Alexandros (= Paris), einer der Söhne des troianischen Königs Priamos zum Vorbild genommen und die Helena geraubt. Er reagierte auf hellenische Rückgabe- und Bußforderungen ebenso wie seine „Vorgänger“ auf der anderen Seite – mit Ablehnung.

Hier nun hätten – so Herodot – die Hellenen eine Wende eingeleitet, weil sie die Kette wechselseitiger Frauenräuberei mit einem Kriegszug durchbrachen. Sie hätten „ein gewaltiges Heer gesammelt, seien nach Asien herübergekommen und hätten das Reich des Priamos zerstört“ (I.4). Damit seien es die Griechen gewesen, die die Nachbarschaft zwischen Griechenland und Asien auf die Ebene des Krieges gehoben hätten. Eine bemerkenswerte Feststellung für einen griechischen Historiker! ... der damit seinen Respekt für den Osten sowie sein Verständnis bekundet, dass die Perser später im Gegenzug ein gewaltiges Heer auf Land und See gegen Griechenland in Bewegung setzten.

 

4. Quellengeschichten und Geschichtsquellen

Bei all solchen Erzählungen frage ich mich (vielleicht ja auch sonst noch jemand), woher die überlieferten Quellen all diese Geschichten kennen. Was also sind die geschehensnahen Quellen –in Abgrenzung zu den wesentlich späteren Erzählungen etwa eines Apollodor über das tyrrhenische Mädchen Europa, die erst in nachchristlicher Zeit niedergeschrieben wurden?

Homer hatte von der Story über den Raub der Helena offensichtlich gewusst, sonst hätte er nicht seinen Hektor davon erzählen lassen können (s.o., Ilias III.38 ff). Und man bedenke: Homer hat seine Ilias wesentlich früher (nach der spätesten aller Datierungen durch Raoul Schrott: um das Jahr 660 v. Chr.) abgefasst als Herodot seine Historien (diese erst im 5. Jahrhundert). Woher also wusste Homer von diesen Frauenraubs-Geschichten?

Natürlich nicht (wie unsereiner) von Gustav Schwab, der all die Geschichten ohne jegliche Quellentrennung in einen flüssigen Gesamterzählstrang zusammengefügt und mit viel Phantasie reich ausgeschmückt hat. Die mythologischen Geschichten sind quellenreal in die Elemente eines Zyklus verstreut, dessen Texte zum größten Teil nicht überliefert wurden – wenn sie denn überhaupt in dichterischer und/oder schriftlicher Ausformung jemals existiert haben sollten (manche meinen, das sei wohl auch besser so, z.B. der intelligente, aber auch etwas zynische Essay von Jörg Fündling, Die Welt Homers, Darmstadt 2006, leider vergriffen). Insofern ist auch dieser „Zyklus“ ein nachträgliches Konstrukt, das die Geschichten in einen sinnvollen zeitlichen Ablauf stellt. Es organisiert lediglich allerlei inhaltliche Zusammenfassungen über die in diesem Zyklus zusammengefassten Geschichten, die mehr oder weniger genau über deren Inhalt Auskunft geben.

Die Bausteine dieses „Epischen Zyklus“ wurden im Lauf der Überlieferung zu einer Abfolge von acht Titeln geordnet, in die sich Ilias und Odyssee an zweiter und siebter Stelle einreihen (Tabelle in Abb. 6):

Titel

Umfang (Bücher)

Autoren-zuschreibung

Inhalt

Kypria

11

Stasinos

Ereignisse, die zum Troianischen Krieg führten, insbesondere das Urteil des Paris und der Raub der Helena

Ilias

24

Homer

Achilleus' Zorn über Agamemnon, später auch über den troianischen Prinzen Hektor. Ende mit der Tötung Hektors durch Achilleus aus Rache für den Tod des Patroklos.

Aithiopis

5

Arktinos von Milet

Ankunft der troianischen Alliierten, der Amazone Penthesileia und des Memnon; ihr Tod durch die Hand des Achilleus aus Rache für den Tod des Antilochos; der Tod des Achilleus

Kleine Ilias

4

Lesches

Ereignisse nach dem Tod des Achilles: Streit zwischen Aias und Odysseus um die Waffen des gefallenen Achilles und Bau des Troianischen Pferdes

Iliu persis (Untergang Troias)

2

Arktinos von Milet

die Zerstörung von Troia durch die Griechen

Nostoi (Rückkehr)

5

Agias oder Eumelos

die Heimkehr der griechischen Streitkräfte und die mit ihrer Ankunft verbundenen Ereignisse, die mit der Rückkehr des Agamemnon und Menelaos schließen

Odyssee

24

Homer

Die Reise des Odysseus, seine Heimkehr und Rache an den Freiern

Telegonie

2

Eugammon von Kyrene

Die Reise des Odysseus nach Thesprotia und die Rückkehr nach Ithaka, der Tod durch die Hand des illegitimen Sohnes Telegonos

Abb. 6: Die acht Titel des „Epischen Zyklus“, von denen lediglich jene beiden „Homer“ zugeordneten Titel „Ilias“ und „Odyssee“ in ausgearbeiteter Form überliefert sind. Von allen anderen existieren nur kurze Zusammenfassungen mit Vermutungen über die jeweilige Anzahl der „Bücher“ (vgl. M.L.West, Greek Epic Fragments, S. 12 ff).

 

Jene Ereignisse, „die zum troianischen Krieg führten“, seien also nach dieser Aufstellung in den (verschollenen) 11 Büchern jener „Kypria“ berichtet worden. Manche interpretieren diesen Titel als „zyprische Geschichten“, andere als Geschichten der „Kypris“, was nur ein anderer Name für die in Zypern heimische Göttin Aphrodite war.

Diese Kypria hat der Altphilologe und Homer-Experte Martin L. West in einer wissenschaftlich aufgearbeiteten Fassung vorgelegt, die neben dem „Troianischen Zyklus“ auch den „Thebanischen Zyklus“ umfasst, der nicht Bestandteil des vorgenannten Epischen Zyklus ist, sondern dessen Geschichten vorangeht (griechisch-englische Ausgabe: Greek Epic Fragments, Havard University Press, 2003).

Die Kypria heben mit einer Beratung im Himmel an – hier einige Auszüge aus der deutschen Übertragung durch Raoul Schrott im Einleitungsteil seiner Ilias-Übersetzung:

Zeus berät sich mit Themis, der Göttin der Gerechtigkeit, über den troianischen Krieg. Dazu lässt er am Berg Pelion die Hochzeit von Peleus und Thetis feiern...

Der griechische Held Peleus und die Meeresnymphe Thetis, die schönste der zahlreichen Töchter des Meeresgottes Nereus, waren die Eltern des Helden Achilles, dessen Zorn über seine ihm von Agamemnon weggenommene Lieblingssklavin und dessen kurzes Kämpferleben später im Zentrum der Ilias stehen werden.

Zum Festbankett lädt Zeus alle Götter ein... Die Göttin des Streits – Eris – wird von Hermes auf Zeus' Geheiß als einzige abgehalten, am Hochzeitsfest teilzunehmen. Vor Zorn wirft sie einen goldenen Apfel unter die Feiernden. Hera, Athene und Aphrodite zanken sich um ihn, worauf Zeus ihn als Trophäe für die Schönste von ihnen aussetzt. Zeus befiehlt daraufhin Hermes, die drei Göttinnen zu Alexandros zu führen, der unter dem Berg Ida wohnt. Er soll entscheiden, wer die Schönste ist.

Auch Homer nutzt den Namen „Alexandros“ für jenen als Paris bekannten Schönling (Orlando Bloom im Petersen-Film), den troianischen Prinzen und jüngeren Bruder Hektors, der nach diesen Kypria an den Hängen des Ida-Gebirges aufwächst, also noch sehr jung und sicherlich von diesem ‚vergifteten‘ Angebot zur Wahl der schönsten Göttin überfordert ist.

Jede von ihnen verspricht Alexandros ein Geschenk: Hera will ihn zum Herrscher über alle machen, falls er sie vorzieht; Athene stellt ihm in Aussicht, ihm in gleich welchem Krieg zum Sieg zu verhelfen; und Aphrodite verheißt ihm den Bund mit Helena.

... Verlockt von der Aussicht auf den Bund mit Helena, erklärt Alexandros Aphrodite zur schönsten Frau. Von Athene angestachelt, lässt sich Alexandros dann von Phereklos Schiffe bauen, worauf Helenos prophezeit, wie es ihm mit Helena ergehen wird.

Die im „Paris-Urteil“ unterlegene Athene sorgt also sogleich beim etwas beschränkten, triebestrunkenen Paris dafür, dass das Unheil in Gang kommt. Helenos ist einer der vielen Söhne des troianischen Königs Priamos, der ähnlich seiner Schwester Kassandra mit seherischen Fähigkeiten ausgestattet war. Doch für solche – heute noch sprichwörtlichen – „Kassandra-Rufe“ auch des Bruders hat der schwärmerische Paris natürlich kein Ohr.

Aphrodite befiehlt Aineias, Alexandros auf seiner Seereise zu Helena zu begleiten.

Warum dieser Aspekt hier betont wird, bleibt geheimnisvoll. Vielleicht sollte das einfach nur der Stärkung von Paris‘ Eroberungskraft ‚aus der Familie‘ heraus dienen. Denn der troianische Held Aineias war ein Sohn der Aphrodite, den diese mit dem troianischen Fürsten Anchises gezeugt hatte (spätere Autoren wie der römische Dichter Vergil hatten dann mit Aineias noch Größeres vor: hier durfte er die bedeutende Rolle als Begründer Roms spielen).

Kassandra weissagt ihnen, was geschehen wird. Nachdem sie in Lakedaimon gelandet sind...

Lakedaimonien war die Landschaft und der Kleinstaat im Süden des Peleponnes mit dem Königssitz Sparta darin (vgl. oben Abb. 5)

... wird Alexandros erst von den Tyndariden, Helenas Familie, aufgenommen. Dann erweist ihm auch Menelaos in Sparta neun Tage lang seine Gastfreundschaft, und Alexandros überreicht Helena Geschenke. Am zehnten Tag muss Menelaos nach Kreta segeln, um am Begräbnis seines Großvaters mütterlicherseits – Katreos – teilzunehmen. Er trägt Helena auf, sich in seiner Abwesenheit um die Besucher zu kümmern.

Dabei bringt Aphrodite Alexandros mit Helena zusammen. Nachdem sie miteinander geschlafen haben, laden sie den Großteil von Menelaos' Besitztümern an Bord von Alexandros' Schiff und segeln in der Nacht davon – wobei Helena ihre neun Jahre alte Tochter Hermione zurücklässt.

Aus der Sicht mancher antiken Darstellung bedurfte es vereinter Anstrengungen, um diese Beziehung von Helena und Paris tatsächlich zustande zu bringen (Abb. 7). So sind auf einem im Museo Archeologico Nazionale di Napoli ausgestellten Relief gleich drei Gottheiten zugange, um Helena (links auf dem Schemel) und Paris (rechts stehend) zusammenzubringen: Aphrodite, die ihr Versprechen gegenüber Paris einlösen muss, bemüht sich um Helena, unterstützt von ihrer ständigen Begleiterin, der Göttin Peitho (links oberhalb auf dem Podest), in der griechischen Mythologie für die erotische Überredung zuständig und insbesondere bei Mädchen zugange, die noch nicht so recht wollen. Rechts der geflügelte Eros, Gott der „begehrlichen Liebe“, der mit Paris/Alexandros weniger Mühe haben dürfte, sonst hätte der nicht im (pubertären) Drang nach Helena die Göttin Aphrodite als seine Favoritin gewählt.

Homers oben erwähnte Darstellung einer gegenüber Paris und den Troern  reservierten Helena trifft sich also mit dem Erzählstrom der griechischen Mythologie, wie er aus den Kypria gespeist wurde.

 

5. Das Trugbild – haben Griechen und Troer wirklich um Helena gekämpft?

In der späten hoch-Zeit der griechischen Antike waren die olympischen Götter dem Treiben der Menschen inzwischen weit entrückt. Sie wurden in eindrucksvollen Tempeln verehrt, dort durch Standbilder repräsentiert, die nur einem sehr eingeschränkten Kreis an Sterblichen (Priestern) im Rauch und Halbdunkel des Temenos zu Gesicht kamen.

In der bronzezeitlichen Frühphase hingegen war das noch ganz anders: Ausgestattet mit allzu menschlichen Wesenszügen mischten die Götter überall munter mit. Sie brachten die Menschen in Bedrängnis, entfachten Konflikte, ja stifteten oft völlig ausweglose Situationen. Sie gaben sich in einer Weise, die wir „hemmungslos“ nennen würden, kannten weder Inzest- noch Polygamie-Verbote (von meist vergeblichen Protestaktivitäten der Zeus-Ehefrau Hera einmal abgesehen, die letztlich aber auch nur neuen Ärger unter den Menschen bewirkten). Die Sterblichen agierten in diesem Milieu gänzlich unaufgestauter göttlicher Triebe als die Getriebenen, als Spielball göttlicher Gelüste, Zwiste und Intrigen. So sehr sich ihre führenden Figuren in dieser frühen, mythologisch umwölkten Zeit auch als „Helden“  gebärden, ist ihr Handeln doch unbewusst, von exaltierten Mächten fremdgesteuert. Sie sind trotz aller Heldenkraft hilflos diesen Mächten ausgeliefert.

Nehmen wir nur den wesentlichen, von der Ilias als Hauptmotiv ausgestalteten Grund für das langanhaltende Scheitern des riesigen griechischen Heeres (angeblich 1.186 Schiffe mit jeweils um die 50 bis manchmal gar 120 Männern Besatzung) vor einem Troia, das nach heutiger archäologischer Sicht (ungeachtet der hethitischen Verbündeten aus den Tiefen des kleinasiatischen Raums) allenfalls 5.000 Menschen bewohnt haben können. Es geht wieder einmal um Frauen (Ilias, erstes Buch):

Der Oberkommandierende des griechischen Heeres und mykenische König Agamemnon muss wegen arroganter, unbedachter Entehrung des Apollon-Priesters Chryses dessen Tochter Chryseis zurückgeben, die er sich als Sklavin gehalten hatte (dafür hatte wieder einmal ein Gott gesorgt: Apollon mit seinen die Pest verbreitenden Pfeilen ins griechische Lager). Obwohl es Achilles war, der Chryseis geraubt und bei der Beuteaufteilung an Agamemnon weitergereicht hatte, will sich Agamemnon bei Achill für den Verlust schadlos halten und begehrt nun als Ersatz Achills Lieblingssklavin Briseis (Abb. 8) an Stelle der von ihm abzugebenden Chryseis. Achill muss diesem Verlangen seines Oberkommandierenden nachgeben, ist nun aber beleidigt und kämpft hinfort im Krieg gegen Troia nicht mehr mit ... bis Hektor seinen Freund Patroklos im Kampf tötet und nun die Wut über den verlorenen Freund den Groll über die Wegnahme der Lieblingssklavin überwiegt, worauf der Rasende den Troia-Verteidiger Hektor tötet und schändet.

Gier nach einer Frau, Groll über deren Wegnahme, rasende Wut über den Tod eines Intimfreunds im fairen Gefecht, entgrenzte Raserei gegenüber einem durchaus edlen Kombattanten – das sind so etwa die Antriebe, die das Geschehen der „Helden“ vor Troia steuern ... was aber durchaus kein Primat der frühen Bronzezeit ist. Man könnte auch an die Pariser Banlieue, die Russenmafia, an Ghettos in Ostberliner Plattenbauten oder an Frauenhandel und -schändung in den ruinierten Staaten auf dem Balkan denken, letzteres auch durch die ‚Helden‘ der dort stationierten Nato-Truppen.

Wenn die archaischen ‚Helden‘ schon so blind waren, dass sie solchen Trieben folgten – um was haben Sie, was Helena anging, tatsächlich gekämpft?

In der Legende fährt die kleine Flotte des Alexandros/Paris nach dem Raub der Helena einfach direkt zurück nach Troia. In den Kypria wird diese Rückfahrt etwas anders geschildert (hier die Fassung bei Martin L. West):

... But Hera sends a storm upon them, and after beeing carried to Sidon, Alexander takes the city. As a precaution, in case he was pursued, he stayed for a long time in Phoenicia and Cyprus. And he sailed off to Ilion and celebrated a wedding with Helena.
[Aber Hera überzog sie mit einem Sturm. Nachdem sie bis nach Sidon verschlagen worden waren, eroberte Alexander die Stadt. Als Vorsichtsmaßnahme für den Fall der Verfolgung blieb er lange Zeit in Phönizien und Zypern. Später segelte er zurück nach Ilion und feierte Hochzeit mit Helena.]

Es ist kaum zu glauben, dass ein Sturm, den es im Winterhalbjahr in der Ägäis durchaus in heftiger Form geben kann, Schiffe so weit nach Osten bis an die asiatische Levanteküste verschlägt, wo sich die phönizische Handelsstadt Sidon findet (nahe Typros, das Abb. x lokalisiert). Insofern scheint die ‚sturmige‘ Begründung für das Verdriften des Alexandros nach Sidon fragwürdig, die Information selbst aber interessant: dass nämlich Alexandros/Paris mit seiner Flotte zunächst einmal die Levanteküste erreichte ... und dort ‚Kleinholz machte‘.

Das entsprach in etwa jenem Verhalten, das die geheimnisvollen „Seevölker“ an den Tag legten, als sie – aus dem Ägäisraum kommend – an Kleinasien und Zypern entlang in die Levante vorstießen, die dortigen blühenden Handelsstädte eroberten, plünderten und zerstören, teilweise sich selbst dort ansiedelten, bis ihre Offensive erst mit weiteren Feldzügen nach Süden gegen Ägypten endete. Dieser „Seevölkersturm“ war ein militärischer Sturm, kein meteorologischer. Er überzog das östliche Mittelmeer zwar erst nach dem Fall von Troia mit voller Wucht, das geschah jedoch weit vor Verfassung all der Berichte darüber durch Homer oder jene unbekannten Dichter, die sich mit den anderen Teilen des „Epischen Zyklus“ befasst hatten, darunter auch der/die Dichter der „Kypria“. Diese Dichter kannten also diesen Stoff – ggf. in verklärter und modifizierter Form.

Der Aufenthalt von Paris/Alexandros in Sidon an der levantinischen Küste hat so auch in der Ilias eine Spur hinterlassen – sicherlich kein Versehen, denn die Stelle wird (im 6. Buch) in mehreren ‚Anläufen‘ angesteuert und systematisch aufgebaut:

Das heftige Schlachtgetümmel wogt in der Ebene vor Troia und lässt die Troianer zurückweichen. Helenos, der seherische Sohn des Priamos erhebt deshalb seine Stimme und fordert die troianischen Helden Hektor und Aineias auf (6.80 ff):

Bleibt hier stehen und haltet das Volk zurück von den Toren.
Schreitet überall ein, eh sie in die Arme der Weiber
Fliehend sich werfen, um so eine Freude den Feinden zu werden.

Sobald dies gelungen ist, soll Hektor nach Wunsch von Helenos in der Stadt gehen und mit den nun doch nicht von ihren Männern belämmerten Frauen ein besonderes (Frauen-)Opfer vorbereiten (6.86 ff):

Hektor, du aber gehe zur Stadt, und sage es alsdann
Deiner und meiner Mutter; sie rufe die würdigsten Frauen
Bei Athenes Tempel zusammen im oberen Stadtteil.
Öffne sodann mit dem Schlüssel die Tür des heiligen Hauses,
Und ein Gewand, das ihr das reizendste scheint und das größte   
Dort in der Halle und auch ihr selbst bei weitem das liebste,
Lege sie auf die Kniee der schöngelockten Athene.

Das ist merkwürdig. Athene steht – weil von Paris verschmäht – auf Seiten der Griechen. Und ein Athene-Tempel ist (archäologisch) in Troia erst für die Zeit Homers nachgewiesen. Wie auch immer: Der gegnerischen Göttin Athene soll ein besonders schönes Frauengewand geopfert werden, das Homer im weiteren Peplos nennt – auch dies ein eher der klassischen Antike zuzurechnender Bezeichner.

Abb. 9: Aus der Zeitspanne zwischen Helenas Raub (ungefähr 1200) und Homers Ilias (ungefähr 700) sind mir keine Peploi-Bilder verfügbar. Meist werden spätere abgebildet...

...wie in dieser Abbildung links: Statue eines Mädchens, genannt „Peplos Kore“ (Koren nannte man junge griechische Mädchen in langen robenartigen Kleidern), auf der Akropolis in Athen ausgegraben, datiert auf ca. 530 v. Chr., Akropolis Museum (Quelle: Wikipedia) mit einem eher schlichten Peplos;

....oder frühere: rechts in der Abbildung eine minoische Frauenfigur in dem um 1600 v. Chr. typischen gerafften bzw. gestaffelten Rockaufbau (Volantrock), Malerei auf Putz, ausgegraben in Akrotiri/Santorin, „House of the Ladies“ (Raum 1, Ostwand), im Prähistorischen Museum Fira (Santorin) im Umfeld des teilrekonstruierten Raums restauriert und ergänzt.

 

In jener Zeit nach Homer wurde der Peplos als robenartiges Frauengewand aus einem rechteckigen Tuch gefertigt. Ein Überschlag fällt über den Oberkörper, um die Hüfte wird ein Gurt ergänzt (Abb. 9 links). Bereits lange vor Homer und insbesondere schon in minoischer Zeit war derartige Kunst der Schneiderei in einem Maße entwickelt worden, das die (nach-)Homer‘schen Peplos-Gewänder  eher schlicht aussehen lässt (Abb. 9 rechts). Eine ganze Staffel von farbenfrohen gemusterten Überschlägen charakterisiert diese minoischen Gewänder, die man mit einem heutigen Begriff vielleicht „Volantröcke“ nennen könnte.

Hektor gelingt es, im Kampfgeschehen eine Wende herbeizuführen. Sodann erklärt er seinen Soldaten (6.111):

»Mutige Troer und weitberühmte Bundesgenossen!
Seid nun Männer, ihr Freunde, gedenkt der stürmischen Kampfkraft,
Während ich selbst nach Ilion gehe und dort die betagten,
Würdigen Ratsherren mahne, zugleich auch unsere Frauen,
Daß zu den Göttern sie beten und Hundertopfer geloben. «

Nach allerlei zwischengeschobenen Geschichten, die den Handlungsfaden arg in den Hintergrund treten lassen,  kommt Hektor in den Priamos-Palast, der nun von Homer auch erst einmal beschrieben wird (6.242 ff), ehe Hektor dort auf seine Mutter Hekabe trifft, die ihn – erneut eine Ablenkung Homers – zum Wein trinken animieren will. Doch Hektor bleibt auf Kurs (6.264 ff):

»Reiche mir nicht den Wein, den süßen, würdige Mutter,
Daß ich entkräftet nicht des Muts und der Stärke vergesse.
Und ich scheue mich, Zeus mit ungewaschenen Händen
Funkelnden Wein zu spenden; zum schwarzumwölkten Kronion
Ziemt es sich nicht, mit Blut und Schmutz besudelt zu beten.
Du aber gehe zum Tempel der Beutegöttin Athene
Hin mit Weihrauchopfern, versammelnd die würdigsten Frauen;  
Aber den Peplos, der dir der hübscheste ist und der größte
Dort in der Halle, zugleich dir selber bei weitem der liebste,
Diesen leg auf die Kniee der schöngelockten Athene;

Hektor fordert also ein echtes Opfer von Hekabe. Doch welchen Peblos wählt sie?

... die Mutter begab sich zur Halle und rief die
Mägde; die sammelten dann in der Stadt die würdigsten Frauen.
Und sie selber stieg dann hinab in die duftende Kammer,
Wo sie die Peploi, die reichverzierten, bewahrte, die Werke
Von sidonischen Fraun; Alexandros, gleichend den Göttern,
Brachte sie einst aus Sidon, das breite Meer überquerend,
Als die Helena er, die edelgeborne, entführte.
Hekabe nahm davon einen nun als Geschenk für Athene,
Welcher der schönste war an Verzierungen und auch der größte,
Der wie ein Sternbild strahlte, er lag zuunterst von allen.   

Es handelt sich also um Raubgut, das Alexandros (Paris) nach dem Raub der Helena aus der besetzten Stadt Sidon an der levantinischen Küste aus den dortigen Manufakturen mitgebracht hat. Ein wenig Rückgabe von Raubgut soll die Göttin der Feinde beschwichtigen. Über die Reaktion der Göttin heißt es – nach diesem über mehr als 200 Verse hinweg führenden langen Anlauf, der sich immer wieder von seinem Ziel weggewunden hat – in lediglich einem halben Vers:

... Athene versagte die Bitte.

Es hätte wohl Helena selbst sein müssen, nicht nur das im Zuge ihrer Entführung miterworbene Raubgut, die hier erneut zur ‚Opferung‘ anstand. Doch auch diese Chance war bereits mit der Geschichte um den Zweikampf zwischen Menelaos und Paris vertan (s.o.).

Deshalb stellte sich der marxistische Althistoriker George Thomson die Frage, ob Helena überhaupt jemals in Troia gewesen sei? Er stützt sich dabei auf den dorischen Dichter Stesichoros, der nur eine Generation nach Homer gelebt hatte und damit sehr nah „dran“ war an den Homer‘schen Geschichten (dazu recht  brauchbar: Wikipedia). Stesichoros habe die Frage verneint und habe sich dabei – so Thomson – mit Sicherheit auf verlässliche Quellen stützen können (die es nicht mehr bis in unsere Zeit geschafft haben).

Die – leider nicht mehr im Buchhandelt verfügbaren – Schriften des englischen Gelehrten George Thomson liefern eine sorgfältig erarbeitete „materialistische“ Interpretation der griechischen Mythologie und der Anfänge griechischer Philosophie, insbesondere die beiden Bände „Frühgeschichte Griechenlands und der Ägäis“ (Akademie-Verlag Berlin 1960) und „Die ersten Philosophen“ (Verlag Das Europäische Buch, 1974)

Welche Begründungen zieht Thomson heran, die seine These tragen können, dass der troianische Krieg nicht um eine real anwesende Helena, sondern nur um ein Trugbild dieser mythologischen Figur geführt worden sei?

Dafür spricht zunächst der Umweg des Paris, der nach dem Raub der Helena aus Sparta nicht direkt nach Troia zurückkehrte, sondern sich erst einmal länger im Levante-Raum („Sidon“) aufhielt – wo Helena zurückgeblieben sein könnte.

Dafür spricht ferner, dass bei Homer nirgends erwähnt wird, Helena sei nach dem Fall Troias von dort mit ihrem rechtmäßigen Gatten Menelaos heimgekehrt. Nun gut – in der Ilias konnte das Homer nicht erwähnen, weil deren Handlung noch vor dem Fall Troias endet. Aber auch in Homers Odyssee, die (neben der Irrfahrt des Titelgebers) auch über die Heimreise anderer griechischen Helden und ihrer Truppen berichtet, findet sich kein Hinweis auf eine gemeinsame Rückreise von Menelaos und Helena. Vielmehr hebt dort die Erzählung im Bericht des greisen Fürsten Nestor so an (Odyssee III.130):

Als wir die hohe Stadt des Priamos endlich zerstöret,
Gingen wir wieder zu Schiff, allein Gott trennte die Griechen.
Damals beschloß Kronion im Herzen die traurigste Heimfahrt
Für das argeiische Heer; denn sie waren nicht alle verständig,
Noch gerecht; drum traf so viele das Schreckenverhängnis.

Nicht irgendeine Freude über einen zurückgewonnen (menschlichen oder physischen) Schatz, sondern die Fortdauer des Leids werden zum Thema: Der oberste Anführer Agamemnon kam zwar relativ schnell nach Hause, wurde dort aber von Aigisthos umgebracht, der sich bei Agamemnons Gattin Klytaimnestra eingenistet hatte.

Sein Bruder Menelaos durchlief – ähnlich Odysseus – eine „Odyssee“. Er wurde auf der zunächst in direkter Linie über die Ägäis eingeschlagenen Rückroute vor dem Athener Vorgebirge Sunion aufgehalten und geriet dann in einen der für die Ägäis typischen Winterstürme. Ein Teil seiner Flotte wurde nach Kreta verschlagen, er selbst mit fünf Schiffen bis nach Ägypten. Weitere ausschmückende Details und Informationen über die Schiffsrouten in der Ägäis sind im dritten Buch der Odyssee nachzulesen. Erst nach acht Jahren (Odyssee III.305 ff) gelang ihm die Rückkehr von Ägypten – wohl mit Helena, denn die wird sodann als im Palast von Sparta sitzend und strickend beschrieben.

Ägypten könnte also der Ort gewesen sein, an dem Helena all die Zeit zugebracht hat, seit sie von Paris verschleppt worden war, der sie dann nicht etwa in Sidon, sondern – auf den damals üblichen Seevölkerrouten – in Ägypten zurückgelassen hatte. Das ist durchaus keine Spekulation. Denn der bereits zitierte Historiker Herodot hat genau diese Kunde auf einer Forschungsreise nach Ägypten aufgeschrieben. Er konnte sich auf die Berichte ägyptischer Priester stützen, die Herodot aus schriftlichen Zeugnissen vorlasen. Ägypten war damals so ziemlich der einzige Herrschaftsbereich, der nicht wie Troia, Mykene und die Levante in den Wirren von Krieg und „Seevölkersturm“ kollabiert war und daher eine durchgängige Geschichtsaufzeichnung pflegen konnte. Herodot beschreibt seine Ägypten-Forschung im zweiten Buch der „Historien“.

Er fragt dort, was die ägyptischen Priester vom troianischen Krieg um Helena wüssten (II.118):

Nach dem Raube der Helene kam ins teukrische Land ein großes Heer der Hellenen, um für Menelaos zu kämpfen.

Hier muss zunächst zugeordnet werden, dass die Gegend um Troia in Ägypten als  Teukrien eingeordnet wurde, so benannt  wegen Teukros, dem ersten König von Troia. Auch von einem Seevölkerstamm aus Teukrien, der gegen Ägypten militärisch offensiv wurde, wird in ägyptischen Quellen berichtet.

Sie stiegen ans Land und lagerten sich und sandten Boten nach Ilion, unter denen auch Menelaos selber war. Als sie in der Stadt angekommen waren, forderten sie Helene zurück und die Schätze, die Alexandros heimlich geraubt hatte, verlangten auch Genugtuung für diese Schändlichkeiten. Die Teukrer aber gaben zur Antwort und versicherten dasselbe immer wieder, eidlich und ohne Eid: sie hätten weder Helene noch die verlangten Schätze; das alles sei in Ägypten, und es sei nicht recht, daß sie Genugtuung für Dinge, die König Proteus von Ägypten habe, leisten sollten. Die Hellenen meinten, man verspotte sie, belagerten die Stadt und eroberten sie schließlich. Da sich aber Helene wirklich nicht fand und man ihnen wiederum dasselbe sagte wie vorher, glaubten sie es endlich und schickten Menelaos zu Proteus nach Ägypten.

Danach war es also auch hier kein „Sturm“, sondern ein Plan, der Menelaos nach Ägypten geführt hatte, was angesichts der tagelangen Segelstrecke viel überzeugender klingt.

Herodot hörte von den Priestern ferner, dass Helena von Paris in Ägypten zurückgelassen werden musste, nachdem ihn die Winde bis ins ägyptische Meer verschlagen hätten, wo er sich an einem Nilarm in einen Heraklestempel geflüchtet hatte. Dies und die Geschichte von Paris‘ Raub wurden damals alsbald dem Pharao gemeldet:

»Ein Fremdling ist angekommen, seines Stammes ein Teukrer, der hat in Hellas eine Freveltat verübt. Seines Gastfreundes Weib hat er betört und ist nun mit ihr und mit vielen reichen Schätzen da, weil ihn der Sturm zu uns verschlagen hat. Sollen wir ihn ungestraft ziehen lassen oder ihm wegnehmen, was er mit sich führt? «

Der Pharao befahl die Gefangennahme, hörte Paris an und sprach sodann sein Urteil (II.115):

»Hielte ich es nicht für meine Pflicht, keinen Fremdling zu töten, der von den Stürmen verschlagen in mein Land kommt, so müßtest du büßen für dein Verbrechen an jenem Hellenen.

Sein Gast warst du und hast die schmachvollste Tat begangen, Verruchter! Zum Weibe deines Freundes bist du geschlichen und hattest daran noch nicht genug: zur Flucht mit dir hast du sie verführt und sie gestohlen wie ein Dieb. Und damit noch nicht genug! Auch das Haus deines Freundes hast du geplündert. Aber weil ich mich um keinen Preis an einem Fremden vergreifen will, so magst du ziehen. Das Weib und die Schätze jedoch lasse ich dir nicht, sondern bewahre sie deinem hellenischen Gastfreund auf, falls er zu mir kommen und sie holen will. Dir aber und deinen Genossen sage ich: innerhalb dreier Tage sollt ihr weiterziehen in ein anderes Land; wo nicht, behandle ich euch als Feinde.«

Erst jetzt wird wohl der verärgerte Paris/Alexandros beim Zurücksegeln in Sidon eingefallen sein, die Stadt erobert und geplündert haben (Abb. 10). Wenn dabei auch die kostbaren Kleider (Peploi) mitgenommen wurden, waren sie die einzigen Kostbarkeiten, die Paris nach Troia zurückbringen konnte (Helena und die spartanischen Schätze waren ja in Ägypten verblieben). Die troianischen Frauen hatten also der Athena das Wertvollste als Opfer angeboten, was überhaupt noch aus dem unseligen Feldzug des Paris übrig geblieben war.

Im weiteren Bericht der ägyptischen Priester schließt sich nun der Kreis (II.119):

Als Menelaos in Ägypten ankam und den Nil hinanfuhr bis Memphis, da wurde er auf seine wahrheitsgetreue Erzählung hin mit großer Gastlichkeit aufgenommen und erhielt Helene, ohne daß ihr ein Leid geschehen war, zurück, dazu auch alle seine Schätze.

Meneleos wusste das nicht zu danken, sondern beging nach Abgang aus dem Palast in Memphis Freveltaten, die seine Rückreise weiter aufhielten. Dies ungezähmte, triebgesteuerte passt ins Bild jener „Helden“ dieser Zeit, soll hier aber nicht weiter erörtert werden, weil es für die Frage nach dem Verbleib der Helena nach ihrem Raub durch Paris keine Bedeutung erhielt.

 

6. Resümee

Tandareos – König von Sparta – war mit der schönen Königstochter Leda verheiratet, mit der er bereits die Tochter Klytaimnestra (spätere Ehefrau von Agamemnon) gezeugt hatte. Es kam, wie es kommen musste: Göttervater Zeus war auch auf das Menschenkind Leda scharf und näherte sich ihr in der Gestalt eines Schwans (zu einer anderen Version, die noch die Rachegöttin Nemesis komplizierend mit einschließt, siehe Apollodors Bibliotheke III.127). Er zeugte mit Leda in einer Nacht den Polydeukes – bei uns besser bekannt unter dem römischen Namen „Pollux“ – sowie Helena. In der gleichen Nacht kam aber auch Tandareos mit seiner Ehefrau Leda zusammen und zeugte zusätzlich den Kastor. Aus wundersamer Herkunft wuchsen also Drillinge heran, die von zwei Vätern stammten. Wegen der göttlichen Vaterschaft wurden die Kinder Helena und Polydeukes unsterblich, während Pollux lediglich ein sterblicher Sohn der Leda sein konnte (da Polydeukes sich später nach dem Tod seines Bruders in Trauer verzehrte, ließ Zeus es zu, das die beiden Zwillinge Kastor und Pollux im täglichen Wechsel zwischen Hades und Olymp pendeln durften, damit aber beide letztlich sterblich enden sollten).

Zumindest Helena wurde als Ei in die Welt gesetzt (in mancher Überlieferung auch alle drei) und schlüpfte aus diesem nach üblicher Menschenfrist (mit ihren Drillingsbrüdern) aus.

Diese Geschichte ist so märchenhaft, dass sie bis heute zahlreiche Künstler inspiriert. Sie entrückt Helena von vorneherein der realen Welt und verlagert sie ins Mythische. So ist Helena bereits als Figur daraufhin angelegt, das brutale Kriegsgeschehen in der Ägäis der späten Bronzezeit mythologisch mit einem Schleier des Erhabenen zu umwirken. Sie verleiht diesem „troianischen“ Krieg eine irreale Legitimität, der sonst nur ein von einfachen Trieben gesteuerter Blutrausch jener „Helden“ wäre, was er wohl auch realgeschichtlich war, und was Krieg immer ist.

 

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