Der Reliefpithos von Mykonos
Übersicht:
- 1. Hinweise auf eine kulturelle Perle, versteckt in Mykonos
- 2. Was hat dieser Fund mit der großen Troia-Ausstellung von 2001/20012 zu tun?
- 3. Genaue Beschreibung des Pithos-Reliefs
- 4. Wie lassen sich die Reliefszenen verstehen? In welchem historischen Kontext hat der Künstler gedacht?
- 5. Nur hier und nicht in der PDF-Version: Bilderserien zu allen Szenen auf dem Reliefpithos von Mykonos
- 6. Kurze Hinweise auf Quellen und Literatur; diese ausführlich in der PDF-Version dieses Artikels: Der Reliefpithos von Mykonos (die sich sowieso auf Tablets & Co. besser lesen lässt)
Werte Kykladenreisende!
Wenn Ihr in der Ägäis ‚Party machen‘ wollt, ist Mykonos immer eine angesagte Adresse. Wenn Ihr auch noch ‚in Kultur machen’ und von Mykonos aus die berühmte Insel Delos besichtigen wollt, findet Ihr fast ebenso viele Gleichgesinnte wie in den Diskotheken – nun aber in den prall gefüllten Schiffen zur kleinen Nachbarinsel.
Eine besondere kulturelle Perle schlummert in Mykonos ganz woanders: im über 100 Jahre alten Archäologischen Museum, das sich am nördlichen Ende der Hafenbucht hinter einer rotbedachten Kirche eher versteckt als über dem Meer erhebt (Abb. 1). Hierhin verirrt sich leider selten ein Besucher, obwohl viele Funde aus Delos und seiner Nekropoleninsel Rhenaia in diesem Haus aufgestellt sind.
Dieser Missachtung möchte ich ein wenig entgegenwirken. Denn in diesem Museum wird ein ganz außerordentlicher Grabungsfund präsentiert: das kostbare Prunkgefäß eines Reliefpithos mit Szenen aus dem Trojanischen Krieg.
Dieser Pithos (Abb. 2), eine ca. 1,40 m hohe runde Tonform mit mächtigem Hals und weitem Bauch sowie zwei langgestreckten flachen Henkeln im Halsbereich steckte wahrscheinlich mit seinem spitz zulaufenden unteren Ende in der Erde (vgl. Ekschmitt S. 147 f). Denn im unteren Bereich weist er keine Gestaltung auf. Hingegen ist er am oberen Bauch und vor allem im hohen Halsbereich auf der vorderen Schauseite mit detailliert gestalteten Reliefs verziert. Solche Reliefpithoi wurden in einer nur hundertjährigen Zeitspanne zwischen 750 und 650 v.u.Z. auf den Kykladen hergestellt, wobei die hochwertigsten Werkstätten auf der Mykonos-nahen Insel Tenos (und dort im Ort Xóbourgo) angesiedelt waren (Abb. 1). Mit dieser zeitlichen Einordnung ist der Pithos ganz nahe an jener fast 3.000 Jahre zurückliegenden Zeit, in der die Geschichten vom trojanischen Krieg nicht nur überall von wandernden Sängern erzählt sondern zum ersten Mal aufgeschrieben wurden. In literarischer Ausgestaltung sind allerdings nur Bruchstücke dieser Geschichten in „Ilias“ und „Odyssee“ überliefert, die einem Dichter namens „Homer“ zugeschrieben werden.
Es gibt wohl kaum einen Reiseführer und kaum eine Mykonos-Website, die nicht ihren kulturellen Ablass entrichten, indem sie das trojanische Pferd auf dem Hals des Mykonos-Pithos erwähnen. Genaueres erfährt man aber aus all diesen Quellen kaum.
Die große Troja-Ausstellung der Jahre 2001/2002 hatte das Trojanische Pferd vom Mykonos-Pithos sogar zu ihrem Logo gemacht (Abb. 3). Den originalen Pithos bekamen die Ausstellungsbesucher allerdings nicht zu sehen. Mehr noch: die Besucher bekamen überhaupt nichts aus Griechenland zu sehen. Die Ausstellungsmacher hatten das Kunststück zustande gebracht, ihre Ausstellung ohne jegliche Leihgabe aus Griechenland zu bestreiten (wie es die lange Leihgabenliste im Katalog zur Ausstellung nur im Blick auf die Fehlanzeige ausweist). Unausgewiesener Hintergrund für diese gravierenden Lücken waren womöglich Konflikte mit Griechenland über die Verletzung der Unesco-Konvention zur Präsentation von Raubkunst-Objekten durch eine deutsches Museum (vgl. FAZ vom 07.06.2014).
Ohne Anschauung am realen Objekt konnte dann auch kein Besucher in Stuttgart, Braunschweig und Bonn ahnen, dass das Pferdelogo auf Eintrittskarten, Plakaten und Prospekten mehr mit Photoshop als mit frühgeschichtlicher Töpferkunst zu tun hatte. So putzig, wie das Pferd mit feiner Mähne aus seinen großen Augen schaut, so „naiv“, wie der unbekannte Künstler die darin versteckten griechischen Krieger durch quadratische ‚Luken‘ im Pferdekörper sichtbar zu machen suchte, so harmlos, wie auch diese Krieger mit großen Pferdeaugen aus den Luken blicken und ihr Gerät herausreichen, fühlten sich die Ausstellungsmacher offenbar veranlasst, das alles noch putziger aufzuhübschen. Das Pferd mit den Kriegern wurde im Rechner von seinem Hintergrund „freigestellt“ (wie es im Fachjargon der Photoshopper heißt), die Freistellungskanten wurden als Relief verstärkt sowie mit Licht und Schattenwurf versehen. Nun sah es wie eine grazile Pferdeplastik aus, die auf Rädern durch die Gegend zu rollen schien.
So wurde ein ‚Traum zur Wirklichkeit‘ gemacht, um einmal das Motto der Ausstellung „Troia – Traum und Wirklichkeit“ zu paraphrasieren. Der „Traum“ im Ausstellungstitel sollte eigentlich die über Jahrtausende tradierte Geschichte vom Kampf der Götter und „Helden“ um Troia ansprechen, die „Wirklichkeit“ hingegen eine Antwort auf die Frage liefern, ob denn nun jener Ort, an dem Calvert, Schliemann, Dörpfeld, Blegen, Korfmann und unzählige Helfer gegraben hatten, tatsächlich jenes Troia der Ilias gewesen sei, das von den verbündeten Griechen auch nach einem zehn Jahre währenden Krieg nur trickreich über die List mit dem Hölzernen Pferd erobert werden konnte.
Eine andere ‚Wirklichkeit‘, die nicht einfach den mythologischen Traum zur Wirklichkeit werden lässt, bekommt nur zu sehen, wer sich ins Archäologische Museum von Mykonos begibt und auch jene Bilder studiert, die unterhalb des hölzernen Pferdes auf den Bauch des Pithos modelliert wurden (oder aber wer hier weiterliest und weiterschaut). Ein erstes Beispiel zeigt Abb. 4.
Da finden sich Szenen von herausragender Brutalität, die aber in eine geradezu surreale Szenerie völlig emotionsfrei gestalteter Figuren gekleidet sind. Denn keine der Figuren zeigt irgendeine Mimik, weder im Gesicht noch durch Körperhaltung oder Gesten. Alle Figuren sind stereotyp im Profil mit großem Auge, spitzer Nase und einem ganz leicht nach oben gebogenen Mund dargestellt.
Besonders hervorgehoben werden die Waffen – in Abb. 4 ist dies ein überdimensioniertes Schwert, mit dem der (außerdem mit Helm, Schild und Speer gerüstete) Krieger eine Frau ersticht, die sich durch Zugriff ihrer Hände auf Speer und Schwert vergeblich zu verteidigen sucht.
Der ‚Traum‘ der – allein von der Stilistik her – scheinbar friedlich schauenden Menschen trifft hier auf die Wirklichkeit des Krieges in seiner ganzen Verabscheuenswürdigkeit. „Helden“ treffen nicht auf Kombattanten, sondern auf Frauen des Gegners, die real nicht einmal das in den Mythen geschilderte Schicksal der Sklaverei erfahren dürfen.
Ebenso geht es den Kindern der Troianer, etwa in Abb. 5: Während die Frau noch ihr Kind festzuhalten sucht, zieht es der Krieger zu sich und steckt sein riesiges Schwert durch dessen Unterleib, aus dem sich ein Schwall von Blut ergießt (dies hat der Künstler durch gekringelte Linien angedeutet, die in Abb. 5 mit freigestellt wurden).
Auf dem gesamten Reliefpithos, der doch nach den immer wieder nachgeplapperten Sätzchen in Reiseführen und Webseiten angeblich die „Eroberung Troias“ darstellen soll, ist nirgends ein troianischer Krieger oder eine troianische Befestigungsanlage zu sehen.
Die Szenerie beginnt auf dem hohen Pithos-Hals, auf dessen Vorderseite üblicherweise das wichtigste Motiv in den Reliefs dargestellt wurde. Es wird von den beiden flachen, ebenfalls nur auf der Vorderseite ornamentierten Henkeln eingerahmt, die funktionell zum Heben des Pithos kaum brauchbar sind. Deshalb spricht man auch nicht mehr (wie anfangs) von einer „Reliefamphore“. Blickfang ist zwischen Henkeln, breitem oberem Rand und unterem Pithos-Bauch das Troianische Pferd, aus dessen Luken Krieger schauen und ihr Kriegsgerät herausreichen – exemplarisch sind zwei riesige Schwertgehänge, ein Schild und ein Helm dargestellt (Abb. 6).
Abb. 6: Der Hals des Mykonos-Pithos mit den beiden (nur auf der Vorderseite ornamentierten) flachen Henkeln rechts und links, oben der breite Pithos-Rand im Anschnitt und im Zentrum das Troianische Pferd mit Kriegern drumherum. Die Szenen mit dem Herausreichen von Waffen sind farblich hervorgehoben.
In zwei Streifen oberhalb und unterhalb des Pferdes sind schwer bewaffnete Krieger zu sehen (je mit zwei Speeren, Schild und Helm ausgestattet). Rechts unten steigt ein Krieger gerade vom Pferd herab und wendet sich nach links, ein weiterer vor ihm erhebt einen Speer zum Wurf. Ab der Ecke links hinter dem Pferd und weiter in der oberen Reihe gehen die Krieger nach rechts. Der Künstler wollte sie wohl auf diese Weise um das Pferd herum anordnen, was bei einem Relief nur flächig und nicht perspektivisch möglich ist. – Sprung zur Bilderserie mit den Kriegern auf dem Pithos-Rand am Ende dieser Seite –
Dort wo sich der Pithos-Bauch unter dem hohen Hals herauswölbt, sind in drei Streifen weitere Szenen auf sonst nicht mehr gefundene Art in umrahmten Feldern angeordnet. Heute würde man das wohl als Comic-Form einordnen, Kunsthistoriker nennen das ehrfürchtiger „Metopen“ (Ekschmitt S. 156).
Metopen sind eigentlich Architekturelemente, die sich ab dem 7. Jh. im antiken Griechenland entwickelt haben. Sie bezeichnen die rechteckigen Flächen insbesondere an Tempelsimsen, die oft mit Reliefszenen gestaltet wurden, und die zwischen trennenden Triglyphen, also dreielementigen, vertikal-linearen Formen liegen. Auf dem Mykonos-Pithos finden sich ebenfalls solche Trenner zwischen den Bildern als Dreifachfugen im Ton.
Durch die besondere Metopenform bekommen ausnahmeweise diese Szenen das besondere Gewicht auf diesem Pithos. Auf dem ersten, schrägen Band unterhalb des Pithos-Halses sind die dort dargestellten Krieger noch bewaffnet und vergreifen sich vorrangig an Frauen. – Sprung zur Bilderserie mit den Szenen auf dem dritten Band am Ende dieser Seite –
Auf den beiden weiteren Bändern darunter mitten auf dem vorderen Pithos-Bauch haben sich die Männer ihrer Rüstungen entledigt. In diesen Szenen finden sich weder Speer noch Schild noch Helm, lediglich hin und wieder ein Schwert (einzige Ausnahme: die letzte Szene 5.7). Die Männer befassen sich vorrangig mit dem Abschlachten von Kindern, greifen aber auch mit bloßen Händen nach Frauen. Insofern könnte die Nacktheit auf bevorstehende Vergewaltigungen hindeuten, für die Waffen nur hinderlich wären. – Sprung zur Bilderserie mit den Szenen auf den Bändern 4 und 5 am Ende dieser Seite –
Zwei Szenen fallen aus diesem Rahmen heraus:
In Szene 3.3 (erster Szenenstreifen unmittelbar unter dem Pithos-Hals) wird ein sterbender Krieger dargestellt (Abb. 7). Er ist noch voll gerüstet (Schwert, zwei Speere, Schild und Helm). Er krampft liegend am Boden, der Kopf ist herabgesunken und an der so entblößten rechten Schulter zeigt sich eine klaffende Wunde. Im Detail sind auch unterhalb dieser Wunde jene Kringel fließenden Blutes zu erkennen, die schon unter dem abgestochenen Kind vom Künstler in den Ton getieft wurden.
Ganz ohne eigene Verluste ging also das Massaker an Frauen und Kindern nicht ab.
Die zweite abweichende und besonders herausragende Szene findet sich in Reihe 4, dem oberen der beiden Szenenbänder auf dem Pithos-Bauch (Abb. 8, Szene 4.2).
Auch hier bedroht ein Mann eine Frau mit einem riesigen Schwert. Abgesehen vom Schwertgehänge und einem Lendenschurz ist der Mann nackt. Man weiß nicht, wie das ausgehen wird, denn die Frau unterscheidet sich von den anderen Frauen durch wesentliche Attribute:
Sie trägt nicht das in den anderen Frauenszenen dargestellte einteilige Kleid mit vertikalen Punktemustern, sondern ein mit Rauten gemustertes, gestuft geschnittenes Kleidungsstück, das an die Volant-Röcke der minoischen Kultur erinnert, wie sie insbesondere in den Wandmalereien von Akrotiri/Thera überliefert sind.
Dies Kleidungsstück umhüllt zudem den Kopf wie ein Ganzkörperschleier, den die Frau mit einer Hand zur Seite schiebt. Sie öffnet also dem Mann gegenüber ihr Gesicht. Die andere Hand ragt etwas unter dem Schleier hervor und legt sich auf den anderen Oberarm. Ekschmitt ist der Ansicht, die Frau enthülle auch ihre Brust. Das zwischen Armen und Kopf aus dem Schleier hervorragende Körperteil könnte aber auch die entblößte rechte Schulter sein. Die Darstellung ist hinsichtlich Schulter, Brust, rechter und linker Hand bzw. rechtem und linken Arm nicht eindeutig, auch weil an den Händen die Daumen fehlen (v.a. wegen einer Fehlstelle in den Pithos-Scherben) und an der Brust die Brustwarze.
Auch für den Ganzkörperschleier finden sich zeitlich vorangehende Belege im minoischen Kulturraum, der im 14. Jahrhundert unter die Herrschaft der Mykener gefallen war, also jener Griechen, die auch im troianischen Krieg aktiv waren (siehe ferner die Ausführungen in meinem Web-Artikel zu Helena, in denen auch das Bekleidungsthema in einem weiteren wesentlichen Kontext aufgegriffen wird: Ein wertvolles Kleid als Opfer für Athene ).
Im Falle der minoischen Frau aus Akrotiri/Thera (Abb. 9), deren Darstellung in einem kultischen Kontext steht, ist der Ganzkörperschleier gemalt, daher feiner darstellbar als im Ton. Da Volant-Rock und Bluse durchscheinen, ist der rot gepunktete Schleier (weitgehend) transparent. Die Frau hat ihn von ihrem Gesicht genommen, so dass er oberhalb ihrer Schultern nur hinter dem Kopf erscheint.
Die Bekleidung der Frau, die dem griechischen Krieger auf dem Reliefpithos gegenübersteht, lässt sich also der minoisch-mykenischen kulturellen Tradition zuordnen. Diese Frau stammt deshalb wohl ebenfalls aus dem mykenischen Herrschaftsbereich.
Dafür spricht ferner die auf der Bekleidung angeordnete Symbolik:
Die zahlreichen konzentrischen Ringe und Wagenräder auf den beiden unteren ‚Stufen‘ ihres Volantrock-artigen Kleidungsstücks finden sich auch bei allen dargestellten Kriegern auf deren knappen Schurz, den sie um die Hüften tragen (sofern dieser nicht durch einen Schild verdeckt ist). Diese Symbole sind wie eine Markierung im Gesäßbereich auf den Lendenschurzen angebracht. Die meisten Krieger tragen dort das Symbol konzentrischer Ringe – drei haben vier Ringe, einer hat 3 Ringe, zwei zeigen 2 Ringe ... als wären es Rangabzeichen von Soldaten. Zwei Krieger tragen das Symbol eines Speichenrades, wie es viermal auf der unteren Volant-Rock-Stufe der Frau angebracht ist. Und nur ein Krieger trägt das Symbol eines gepunkteten Strahlenrades – das ist jener Mann, der der Frau mit dem Schleier gegenübersteht. Vielleicht kennzeichnet ihn dies Zeichen als einen besonderen Anführer, ebenso wie der Spitzbart, der ihn von den meisten anderen Kriegern ebenfalls abhebt.
Auch diese übereinstimmende Symbolik auf den Lendenschurzen der Männer und dem Kleid der Frau spricht dafür, dass die Frau dem Kulturkreis der Krieger angehört. Es dürfte sich also um Helena handeln, die hier ihrem spartanischen Gatten Menelaos gegenübersteht.
Wertung und Kontext
An der Darstellung auf dem Reliefpythos ist nichts „heldenhaftes“. Keinerlei individuelle Regung verklärt oder verschleiert das brutale Tun jener mykenischen Krieger, die dem Hölzernen Pferd entsteigen, um ein lang geübtes mörderisches ‚Handwerk‘ auszuführen. Es richtet sich gegen Frauen und Kinder und damit gegen jegliche Zukunft des gegnerischen Volkes. Die ‚gefühlslosen‘ Kriegshandwerker vernichten mit den Kindern die nächste Generation, die ihnen wieder gefährlich werden könnte und sie löschen mit den Frauen generell die Überlebensmöglichkeit des gegnerischen Volkes aus, weil es dann auch keine übernächste Generation mehr geben wird. Heute würden wir dies von keinem Skrupel gebremste, in langen Kriegsjahren ausgebildete Mördertum „Kriegsverbrechen“ und „Völkermord“ nennen. Und auch heute gibt es bedrückende Beispiele, wie sich Krieger über unterschiedliche Kriege hinweg zu skrupellosen Schlächtern entwickeln – etwa bei den Soldaten der Isis in Syrien/Irak, bei den ehemaligen Gaddafi-Söldnern Libyens oder den ukrainischen Separatisten russischer Provenienz, die ihr ‚Handwerk‘ schon in den Tschetschenienkriegen gelernt haben.
Als die Töpferwerkstatt auf der Kykladeninsel Tenos diesen Pithos gestaltete, lagen jene Kriege schon 500 Jahre zurück, die zu Beginn des 12. Jh. zur Zerstörung von Troia geführt haben könnten. Ein kriegsbedingter Zerstörungshorizont ist in Troia für die Jahre um 1190-1180 archäologisch nachgewiesen. Der Pithos entstand nach der Ausschilderung im Museum im ersten Viertel des siebten Jahrhunderts, also zwischen 700 und 675 v.u.Z..
Man muss sich fragen, was den Künstler bei Konzeption und Ausgestaltung seiner Szenen bewegt haben mag. Zum einen kommen zeitgeschichtliche Geschehnisse in Betracht, also Kriegserfahrungen zur Lebenszeit des Künstlers, wie sie Raoul Schrott in vielen Details der Homer’schen Verse wirksam sieht. Nun braucht ein Dichter wie Homer angesichts der überbordenden Fülle an Details (insbesondere in der Ilias) mit Sicherheit einen reichen unmittelbaren persönlichen Erfahrungshorizont, aus dem er diese Vielfalt schöpfen kann.
Der Künstler des Pithos hingegen zeigt kaum Details, sondern konzentriert sich auf Wesentliches: auf die generische traumatische Erfahrung eines in langen Kriegshandlungen barbarisierten, aber trickreichen Kriegertums. Historiker haben vielfach nachgewiesen, dass große kulturelle Selbstverständlichkeiten ebenso wie tiefgreifende kriegerische Traumata über viele Jahrhunderte in der kollektiven Erinnerung und Prägung der Menschen weiterwirken können. Und die Zeit vor dem Pithos-Künstler auf der Insel Tenos war reich davon:
- Die expansiven Kriege aus dem Kulturraum der Mykener, die zunächst den minoischen Herrschaftsbereich in der Ägäis eroberten (wahrscheinlich auch kulturell assimilierten) und sich dann an der Kleinasiatischen Küste festsetzen – es entstand ihr Reich Achijawa, dessen Protagonisten mit Homers Achaiern (Achäern) identifiziert werden können.
- Ständige Kriege der Achäer mit dem anatolischen Imperium der Hettiter, auch an und um dessen Vorposten in Wilusa/Troia – sie führten letztlich zum Zusammenbruch all dieser Staatsverbände.
- Brutalisierte Kriegerhorden aus den Kombattanten dieser Kriege, die sodann die Städte des östlichen Mittelmeer insbesondere in der Levante (Ugarit) zerstörten – sie scheiterten lediglich an Ägypten und gingen als „Seevölker“ in die Menschheitserinnerung ein.
- Schließlich die „Dunklen Jahrhunderte“ eines kulturellen Niedergangs zwischen 12. und 8. Jh., die auf all die Zerstörungen folgten – ein ‚Erwachen‘ daraus verbindet sich zeitlich auch mit der Niederschrift der Homer’schen Epen.
Für die Darstellung einer traumatischen, jahrhundertealten Kriegserinnerung auf dem Mykonos-Pithos sprechen noch weitere Hinweise, nämlich ganz anders geartete Szenen auf gleichartigen Pithoi dieser Zeit, die ebenfalls aus den Werkstätten von Tenos stammen. Sie halten eine noch viel ältere Erinnerung lebendig und offenbaren damit zugleich, wie stabil solche kulturellen wie traumatischen Erinnerungen damals noch waren.
Es geht hier um die Erinnerung an die friedlichen Zeiten des Matriarchats, als eine Frau das Göttliche verkörperte – als ‚Große Göttin‘ oder auch ‚Große Muttergöttin‘. Sie ist neben der Göttin der Menschen zugleich die Göttin der Tiere und der Pflanzen, also eine Göttin der gesamten belebten Welt. Sie ist eine – als Frau Leben gebärende – Göttin des Lebens. Noch in minoischer Zeit war diese Göttinnenvorstellung höchst lebendig, wie die Wandmalereien von Akrotiri/Thera zeigen, die von einem Vulkanausbruch um die 1.600 v.u.Z. konserviert wurden.
Die Reliefpithoi von Tenos erinnern daran noch 1.000 Jahre später!
Abb. 10 zeigt als Beispiel ein Fragment aus einem Tenos-Pithos von um die 660 v.u.Z. In der Mitte steht die Göttin als einzige Person in Frontalansicht, bekleidet mit einem rautengemusterten Umhang (den wir schon an Helena gesehen haben – vgl. Abb. 8 – auch Helena war ja göttlicher Abkunft!). Sie ist von Tieren umgeben (rechts ist noch der Kopf eines löwenartigen Wesens erhalten, oben die Hufe von Tieren, die Kombination mit Tieren rundum ist aus weiteren ähnlichen, vollständigeren Pithoi-Funden abgesichert). Vom Kopf schwingen sich rechts und links Zweige mit runden Blättern oder Beeren zur Seite.
Vor dieser mit Symbolen der Tier- und Pflanzenwelt ausgestatteten Göttin stehen zwei kleinere menschliche Wesen mit den typischen stilisierten Profilansichten (großes Auge, spitze Nase, langes Nackenhaar), die wir schon aus dem Mykonos-Pithos kennen. Sie halten oder streicheln die Brüste der Göttin, während diese ihre Arme zu einer Art segnenden Haltung ausbreitet (in vielen anderen Darstellungen vornehmlich aus der minoischen zeit hält die Göttin – oder das Idol – die Brüste mit den eigenen Händen).
Eine ganz besondere Darstellung einer solchen Muttergöttin spiegelt noch tiefere Schichten der Menschheitsmythen. Auch sie findet sich auf einem Reliefpithos von Tenos. Die wesentlichen Teile des Hals-Reliefs sind aus zwei leicht versetzten Perspektiven in Abb. 11 wiedergegeben.
Alle Wesen in dieser Darstellung sind mit schmalen, feingefiederten Flügeln versehen. Sie erinnern an die Darstellung der minoischen Muttergöttin in Akrotiri, die dort mit einem geflügelten Wesen kombiniert worden war. Man könnte in dieser Symbolik auf dem Pithos sehr frühe Darstellungen dessen sehen, was später anschaulich als „Engel“ bezeichnet wurde.
Tiersymbolik zeigt sich in dem in seitlicher Ansicht dargestellten Stuhl oder Thron, auf dem die Göttin sitzt: Über mächtigen Schenkeln – den Beinen des Throns – erhebt sich nach links – als Lehne – ein schlanker Hals, der in einem Vogelkopf endet.
Das ganz Besondere am Tenos-Pithos in Abb. 11 ist die Darstellung einer Kopfgeburt. Das Wesen, das dem Kopf der Göttin entspringt, hat ebenfalls lange schmale Flügel und breitet die Arme ähnlich wie die Göttin aus. Aber es hält in beiden Händen je einen schmalen Gegenstand, der wie eine Waffe aussieht und trägt auf seinem Kopf einen Helm:
Abb. 11: Zwei (je durch die Fotoperspektive etwas verzerrte) Sichten auf die Hauptszene am Hals des Reliefpithos von Tenos mit einer Kopfgeburt. Davon findet man ‚im Internet‘ nun wirklich gar nichts, hingegen Wesentliches in der Arbeit von Werner Ekschmitt über die Kykladen (siehe Literatur)
Aus der griechischen Mythologie ist nur eine einzige Kopfgeburt bekannt: die des „Göttervaters“ Zeus, der auf diese Weise die Göttin Athena gebar. Hesiod (Theogonie Rz. 924 f) erzählt dies so:
Er selbst [Zeus] gebar aus seinem Haupt die helläugige Athene, die schreckliche, Kämpfe erregende Heerführerin und unbesiegliche Herrin, der Kampflärm gefällt und Kriege und Schlachten.
Diese Szene spiegelt die fundamentale Umgestaltung des Götterhimmels mit der Abkehr vom Matriarchat. Denn Sie ordnet einem Mann die Fähigkeit zum Gebären von Leben zu, die allein der Frau zukommt und die deshalb zuvor über Jahrtausende den Kult der „Großen Muttergöttin“ getragen hatte. Die Zeus-Szene symbolisiert also im Götterhimmel, dass nun das Patriarchat die Macht übernommen hat.
Die Kopfgeburt auf dem Tenos-Pithos rückt die Verhältnisse noch einmal zurecht – ohne dass es irgendeine Parallele in der schriftlich überlieferten Mythologie gäbe: Hier ist es noch immer die Frau und Muttergöttin, die gebärt – auch aus dem Kopf. Doch das Wesen, das sie aus dem Kopf gebärt (und somit nicht aus dem zum kulturellen Symbol gewordenen lebensspendenden Schoß), bedeutet Unheil. Es ist ein Krieger, der für jene Taten steht, die von den Tenos-Künstlern auf dem Mykonos-Pithos als dunkle Seite der Menschheitserinnerung aufgezeichnet worden sind und die dort aus dem Troianischen Pferd entspringen, einem Tier, das nun auch nicht mehr der uralten Muttergöttin dient.
Bei Hesiod und seiner Beschreibung des Zeus’schen Patriarchats ist hingegen die kopfgeborene Frau die Verkörperin des Übels, als „Athene, die schreckliche“. Auf dem Pithos sehen wir vielleicht gerade den Beginn des kulturgeschichtlichen Übergangs dorthin.
Michael Siebert, Juli 2014