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Und hier geht es zurück zur Kilikien-Gesamtübersicht und hier zur Einführung in die Bildwerke von Karatepe-Aslantaş.

 

Von der Seevölkerschlacht zu den Lotosessern

Einstiege zur Interpretation der Bildwerke von Karatepe-Aslantaş


Übersicht:


 

In einer kaum zu ermessenden Puzzlearbeit haben die Archäologen seit Entdeckung der Festung Karatepe-Aslantaş im Jahre 1946 die Bildwerke in den beiden Toranlagen rekonstruiert. Die meisten Platten und Figuren waren zertrümmert, ihre Bruchstücke teilweise weit verstreut. Die Objekte mussten oft aus zig Einzelteilen zusammengesetzt werden (Abb. 1). Man mag es kaum glauben, wie aus diesen Trümmern und Splittern die nun zu großen Teilen wieder zu betrachtenden 2.700 Jahre alten Kunstwerke zurückgewonnen werden konnten. Allerdings gilt dies mit der Einschränkung, dass sich nach Rekonstruktion vor allem die Bildwerke im Nordtorkomplex wieder zu großen Teilen komplett präsentieren, während jene des Südtorkomplexes überwiegend fragmentarisch geblieben sind.

Gemessen am Aufwand, der in die über ein halbes Jahr­hundert währende Rekon­struktion der Bildwerke investiert wurde, fällt deren Deutung ungleich zurück­haltender aus – nicht in der Befassung als solcher, aber bei den Resultaten. Die inhaltliche Interpretation wird durchaus sorgfältig und umfassend angegangen. Wer aber die überbordende Deutungsphantasie von Raoul Schrott in der Lektüre von Homers Heimat mitbekommen hat, wünscht sich immer wieder etwas weniger Zurückhaltung bei Çambel und Kollegen. Zu viele Fragen bleiben hier zu sehr offen, wenn nicht einmal eine Deutungshypothese gewagt wird.

Der Abschlussbericht aus 2003 (Karatepe Bildwerke, alle hier folgenden Seitenzahlenangaben ohne weitere Angabe stammen aus diesem Werk) beschreibt in einem ersten Schritt die Bildwerke in einem Katalogteil (S. 57 ff). Die Deutung setzt in einem weiteren Schritt als formale Analyse der Anordnung, Größenverhältnisse und Zonengliederung ein (S. 123 ff), vertieft sich dann in thematische Zusammenhänge unter den Reliefs (S. 127) um sich erst abschließend unter dem Aspekt einer systematischen „Ikonografie“ (S. 131 ff) der inhaltlichen Deutung zu nähern.

Diese inhaltliche Deutung folgt vor allem dem Muster, Elemente der Bildwerke im Licht bereits bekannter (und interpretierter) Bildwerke aus anderen Fundstätten zu interpretieren. Gibt es jedoch keine derartigen Parallelen, so fällt die Interpretation mehr oder weniger aus. Dies gilt leider auch für ungemein relevante Bildelemente. Als „ganz neue Themen, die man hier zum ersten Mal fassen kann“ werden genannt (S. 138):

Szenen mit Interpretationsproblemen wegen fehlender Vergleiche
Die Schiffsszene (NKr 19), die stillende Göttin (NVr 8), die Göttin mit Krug (NKl 8), der Vogelfänger (NKl 10, ferner SKl 13 und 14), der musikalische Wettbewerb mit Tanz und Musik und Vorbereitungen zur Siegerkrönung (NVl 7), eine Stieropferszene, in der eine Doppelaxt benutzt wird (NKr 17), sowie etliche aus dem Bildgut bisher nicht bekannte Gottheiten.

Das Stichwort „nicht bekannte Gottheiten“ wirft ein weiteres und zudem wesentliches Interpretationsproblem auf: Wie können Gottheiten von Herrschern sowie ‚einfachen‘ Menschen unterschieden werden? Bei welchen Figuren in den Bildwerken handelt es sich also um Gottheiten?

 

1. Götterkriterien – ‚Figurengröße‘, ‚Hörner am Helm‘ oder was?

Çambel et al. unterscheiden Gottheiten von Menschen nach einem sehr einfachen Prinzip (S. 131, ferner auch S. 127 u.a.): „Götterfiguren lassen sich am Karatepe-Aslantaş daran erkennen, daß sie im Gegensatz zu Menschen die volle Plattenhöhe einnehmen“ – um eine gewichtige Beobachtung nachzuschieben, die diesen Unterscheidungsansatz sogleich wieder in Frage stellt: „Sie [die Götter] tragen im Gegensatz zu dem weithin im Alten Orient verbreiteten Brauch, Götter durch den Zusatz von Hörnern an der Kopfbedeckung als solche auszuweisen, keine Hörner“.

Es werden also keine besonderen Attribute der fraglichen Figuren herangezogen, um sie als Götter zu qualifizieren, sondern lediglich ein einziges Größenkriterium. Nicht einmal das Fehlen von anderenorts zur Qualifizierung von Göttlichkeit dienenden Attributen relativiert diese Entscheidung. Ihre Entschiedenheit ist befremdlich, zumal Çambel et al. warnende Stimmen durchaus zitieren (Fußnote 674): „Immer wieder ist ... zu beobachten, daß Götter und Menschen in archaischer Zeit sehr gleichartig, mit gleichen formalen Mitteln wiedergegeben werden...; so gleichartig, daß uns oft das Erkennen nicht möglich ist“. Oder: „... läßt sich feststellen, daß in der archaischen Zeit, die Darstellung von Gottheiten gegenüber Sterblichen kaum zu unterscheiden ist“.

Diese klugen Beobachtungen, von Çambel leider verworfen, korrespondieren auch sehr gut mit dem Eindruck, den die Götter in Homers Ilias-Dichtung machen: die Götter sind zu Homers Zeit noch in das Leben der Menschen integriert, erscheinen vielleicht etwas strahlender, geheimnisvoller, kräftiger, doch ihre menschlichen Eigenschaften – bis hin zur körperlichen (geschweige denn mentalen) Verletzlichkeit – bleiben unverkennbar (vgl. noch etwas eingehender zu diesem Aspekt im Mopsos-Essay).

Mit dem von Çambel genannten Hörnermerkmal als speziellem Attribut von Göttern verhält es sich da letztlich nicht anders als bei anderen Göttlichkeitsmerkmalen: Es kommt Menschen wie Göttern zu und ist somit als Unterscheidungsmerkmal eine zweischneidige Sache. So trugen z.B. die Krieger des „Seevolks“ der Shardanen Hörnerhelme, wie es aus ägyptischen Reliefs, aber auch aus Monumenten auf Korsika überliefert ist. Sie waren zweifellos keine Götter.

Wie in anderem Kontext zu erörtert wäre, waren auch die Besiedler Kilikiens aus der nach-troianischen Zeit den Seevölkern zuzuordnen – darauf deutet das intensiv diskutierte Schiffsmotiv auf einer Basaltplatte von Karatepe-Aslantaş hin (NKr 19; dazu mehr unter Ziffer 4 unten), ferner die Migrationsgeschichte des legendären Sehers Mopsos (siehe dazu den Artikel zur Person des Mopsos auf dieser Website: Die Mopsos-Dynastie). Auf einem solchen Hintergrund dürften kilikische Figuren eigentlich gar nicht mit Hörnern dargestellt werden, um sie als Gott zu qualifizieren.

Andererseits gab es in der Vorgängersiedlung bzw Vorgängerburg zu Karatepe auf dem Domuztepe, gegenüber auf der anderen Pyramos-Seite, durchaus eine Darstellung, die einen Gott mit Hörnern am Helm zeigte, nämlich wieder den Wettergott, also Tarhunza/Baal (Abb. 2).

Auf diese behörnte Figur  gehen Çambel et al. jedoch in diesem Kontext der Erwägung von Göttlichkeitsmerkmalen nicht ein. Es ist aber offenkundig, dass dies Qualifizierungsmerkmal der Hörner am Helm von den örtlichen Künstlern nur wenige Zeit früher durchaus angewandt wurde, was bei der Interpretation nicht unterschlagen werden sollte. Vielleicht bedeutet die Darstellung von Tarhunza auf dem großen Orthostaten von Domuztepe mit Hörnern an seinem Helm ja nur, dass sich hier der Gott der Hörnerkrieger präsentiert? ... der mit seiner Axt den Feind zerschlägt, den er symbolisch als Kopf in der Hand hält ... wenn das, ob seines Bartes, nicht gar ein Ägypter ist, gegen die die „Seevölker“ einst in den Krieg gezogen waren, oder der assyrischen Erzfeind, dessen Könige ebenfalls solche Bärte trugen ...

Das von Çambel et al. alleinig angewandte Größenmerkmal zur Identifizierung von Göttern war in anderen Zusammenhängen (auch jenen, auf die sich die Interpretationen immer wieder beziehen) durchaus relevant. Nehmen wir vor allem das große Felsrelief von Ivriz (Geoposition auf OSM). Hier weiß man auf Grund ergänzender Schrifteinträge (hieroglyphen-luwisch, zu dessen Entzifferung wiederum – sozusagen reziprok – die Karatepe-Inschriften beigetragen haben), dass hier der – kleiner dargestellte – König Warpalawa dem – größer dargestellten – Gott Baal/Tarhunza gegenübersteht und ihn anbetet (vgl. Abb. 3).

Warpalawa selbst ist mit ca. 2,35 m Reliefhöhe auffällig größer als ein Mensch, aber nur gut halb so groß wie der mächtige Gott ihm gegenüber. Es kommt hier also sowohl auf absolute als auch relative Größen an.

Demgegenüber sind die Basaltplatten von Karatepe-Aslantaş als solche nur um die 1,10 m hoch und erheben sich auf niedrigen Sockelsteinen, die wiederum auf dem Tor-Durchgangs­niveau aufgestellt gewesen sein dürften. Selbst wenn die Figuren diese Platten vollständig ausfüllen, sind sie wesentlich kleiner als jene Menschen die sie betrachten und die als vorbeigehende Betrachter zudem zu ihnen herabschauen müssen. Konzipiert man eine solche Situation für die Darstellung von Göttern? Die Situation würde sich erst signifikant ändern, wüsste man von einer zweiten Ebene von Orthostaten, die über der ersten aufgestellt waren (wie man das auch vereinzelt anderenorts gefunden hat). Zu dieser oberen Galerie hätten Betrachter dann aufschauen müssen, was dann für die dortigen Figuren ein Göttlichkeitskriterium hätte sein können. Doch dafür gibt es hier keinerlei Anhaltspunkt.

Das einzige in Karatepe-Aslantaş explizit durch die beigegebene Inschrift als Gott ausgewiesene Objekt ist die Baal/Tarhunza-Statue bzw. „Statue des Wettergotts“ hinter dem Südtor. Sie war (und ist es heute auch wieder nach Rekonstruktion aus einem verbliebenen Kern und 86 Trümmerteilen, bei vollständig verloren gebliebenem Gesicht) 2,45 m hoch und stand zudem auf einem 78 cm hohen Sockel (S. 114 f). Zu diesem Gott musste also jedermann aufschauen.

Es kommt aber – wie auch der Homer-Vergleich zeigte –auf solche Größenaspekte gar nicht so sehr an, so dass auch auf den Orthostaten von Karatepe-Aslantaş durchaus Götter dargestellt sein könnten – nur sollten diese dann durch besondere Attribute im Bild als Götter qualifiziert werden können, wie es auch Homer in seiner Ilias sprachlich tat.

Ein Gott ist jedenfalls dargestellt, auch wenn er nicht durch eine Inschrift als solcher identifiziert wird: der in seinem Habitus unverwechselbare ägyptische Gott Bes. Auf den Orthostaten tritt er einmal formatfüllend auf, nämlich gleich am Eingang zum Nordtor hinter dem Portallöwen auf der Platte NVr 2. Der Portallöwe und der Gott erfüllen hier zusammen ihre apotropäische Funktion (gr. ἀποτρόπαιος abwehrend), d.h. die Aufgabe, Böses abzuwehren, insbesondere natürlich das von jenen mitgebrachte Böse, die die Burg durch das von diesen apotropäischen Figuren bewehrte Tor mit feindlicher Absicht betreten wollten. Bes tritt ferner auf einer Platte auf, deren Bildmotiv horizontal geteilt ist (NKr 2). Solche Aufteilung gilt Çambel et al. sonst als Indiz, dass die auf der Teilfläche einer Platte notwendigerweise kleiner dargestellten Figuren keine Götter seien. Und so drücken sie sich auch bei Bes um die Göttereinordnung herum, stufen ihn nur als „mythologische Gestalt“ ein (S. 132).

Demgegenüber wird Bes im anatolischen Raum durchaus auch (wie der Gott Tarhunza im Ivrez-Relief) gigantisch dargestellt. Im Dunkel des Eingangsraums zum Archäologischen Museum in Istanbul steht – im Sinne seiner apotropäischen Funktion standortgerecht – eine riesige Plastik dieses Gottes, in der er ein Tier – einen Bock? – an den Hinterbeinen hält, so dass dieser Tierkörper vor seinem Körper herabhängt. Der separat gefertigte und dann eingesetzte Kopf des Tieres fehlt.

Die in der Verteidigungskonzeption der Toranlagen wichtige (apotropäische) Abwehrfunktion insbesondere der Portallöwen und Sphinxen, aber auch des Gottes Bes, konnten und sollten diese Figuren offenbar auch trotz ihrer geringen Größe und niedrigen Positionierung erfüllen. Die Einordnung dargestellter Figuren als Götter sollte also nicht von ihrer Größe, sondern von anderen Merkmalen abhängig gemacht werden.

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2. Hinweise auf Götter in den bilingualen Inschriften?

Es liegt nahe, nach Göttlichkeitshinweisen in den Inschriften zu suchen, die sich überall zwischen den Bildwerken finden. Die Inschriften in der jüngeren alphabetisch basierten phönizischen Schrift (Leseabschrift über den Link in der Sidebar oder hier auf neuer Browserseite alle nachfolgend > römisch-Punkt-arabisch < zitierten Zeilen, also z.B. „II.6“, beziehen sich auf diese Textfassung) sind an wenigen Orten konzentriert zusammengefasst. Die inhaltlich grundsätzlich gleichen Inschriften in der wesentlich älteren Hieroglyphen-Luwischen Schrift (HL-Fassung) sind hingegen weit über die Bildwerke sowie deren Sockel verstreut, nicht nur auf solitären Schrift-Orthostaten angebracht, sondern auch auf frei gebliebene Restflächen innerhalb einzelner Bildwerke erstreckt.

Die HL-Schrift kennt explizit das hier wiedergegebene Symbol DEUS für die Ausweisung als Gott, womit sich dann eigentlich zuverlässig deuten ließe (HL-Liste S. 13).

Leider verstecken Çambel et al. diesen Aspekt der in den Inschriften genannten Götter nur in einer Anmerkung, nämlich in Fußnote 675 zu Seite 131 – „Ikonografie > Götter“.

Es fällt auf, dass die Götter in den beiden Sprachversionen leicht unterschiedlich vorgestellt werden:

Auch summarisch werden Götter genannt: in Wendungen wie „nach des Baal und der Götter Willen“ (I.8, II.6 und III.11) bzw. als „Götter dieser Stadt“ (III5). In einer einzigen Stelle, in der die Bewahrung der Inschriften des Azitawada beschworen wird, sind (fast) alle Götter nebst einem rätselhaften „Kreis der Göttersöhne“ zusammen aufgeführt (aber ohne den „Raschap der Böcke“), die vereint die Erinnerung an den Herrscher Azitawada gegen jeden Aggressor schützen sollen (III.18 f):

...so möge der Himmelsherr [wohl Baal, auch in seinen Inkarnationen] und EI, der Inhaber der Erde, und der Sonnengott der Ewigkeit und der ganze Kreis der Göttersöhne jenes [feindliche] Königtum auslöschen...

Die Inschriften nennen jedoch weder den in den Bildwerken explizit erkennbaren Gott Bes noch irgendeine Göttin, die Çambel et al. in den Tafeln NVr 8 („stillende Göttin“) und NKl 8 („Göttin mit Krug“) erkennen wollen. Zu den beiden Göttinnenbilder hatten wir bereits zitiert, dass es sich um Bildwerke mit „ganz neuen Themen, die man hier zum ersten Mal fassen kann“ handelt, die damit bei Çambel letztlich ungedeutet bleiben. Dennoch werden die beiden Figuren als „Göttin“ eingeordnet ... weil sie die gesamte Platte füllen. Ein Hinweis aus den Inschriften, dass diese Figuren gar keine „Göttinnen“, sondern womöglich Verkörperungen des Herrschers Azitawada sein könnten, wird nicht aufgegriffen (I.1 ff):

Ich bin Azitawada, Wesir des Baal, Diener des Baal,
den Awarik, König der Adanaer, groß gemacht hat.
Baal machte mich den Adanaern zum Vater und zur Mutter.

Die Rolle von Bes kommt lediglich implizit in den Texten vor, als er – zusammen mit den sechs Portalfiguren pro Tor – die von Azitawada ausgedrückte Abschreckung gegen Feinde (die seinen Ruhm auslöschen und die Festungstore „herausreißen‘“ wollen) verkörpert. Vielleicht ist Bes auch mit jenem „Raschap der Böcke“ aus den Inschriften gemeint, zumal er ja im anatolischen Kontext zusammen mit einem Bock dargestellt wurde (vgl. noch einmal oben die Abb. 4 aus dem Archäologischen Museum Istanbul). Dann wäre er für die Abschreckung von Feinden und Baal für den agrarischen Wohlstand zuständig, wo es darum geht die Stadt zum Wohle ihrer Bewohner zu errichten (II.9 ff):

Und ich baute diese Stadt, und ich gab ihr den Namen „Azitawadja", denn der Baal und der Raschap der Böcke sandten mich, sie zu bauen. Und ich baute sie nach des Baal Willen und nach des Raschap der Böcke Willen mit Vorratsfülle und mit Wohlstand.

Andererseits lassen sich in den Bildwerken kaum Götterfiguren wiederfinden, die in den Inschriften angesprochen werden. Eine Ausnahme bildet – abgesehen vom Baal-Standbild hinter dem Südtor und dem bereits erörterten Bes – das Relief NVr 9, das die Ausgräber zurückhaltend mit „Vogelköpfiger Genius, die Flügelsonne stützend“ beschriften (Abb. 5). Da an der im obersten Teil des Bildes dargestellten Flügelsonne der nach unten gerichtete Schweif der Hieroglyphe fehlt, wird dieser durch das unmittelbar darunter angeordnete vogelköpfige und doppelflügelige Wesen bzw. durch dessen Vogelkopf ersetzt – was aber auch nur den Vogelcharakter des Hieroglyphen-Symbols unterstreicht. Das Ganze ist damit eine differenziertere Ausgestaltung des hieroglyphischen Logogramms und lässt doch sehr an die Verkörperung der Urgöttin in Vogelgestalt denken (vgl. dazu die Erörterung in Essay Die Mopsos-Dynastie) – eine Erinnerung, die die ins 2. Jahrtausend zurückreichende luwische Sprache durchaus transportiert haben könnte.

Eine weitere Spur zu dieser (weiblichen) Flügelsonne bzw. Vogelgöttin führt nach Ägypten, woher schon der Gott Bes bezogen wurde. Im in der ersten Hälfte des 15. Jh., also ungefähr 650 Jahre vor den Karatepe-Bildwerken entstandenen Tempel der Hatschetsut findet sich unter dessen Sternendach dies Symbol der geflügelten Sonne (Abb. 6), dort aber zusätzlich durch Schlangen als Symbol weiblicher Gottheiten umschlungen bzw. vielfach getragen:

Hatschepsut-Tempel Oberägypten

Abb. 6: Schlangen mit Sonnen und geflügelte Sonne, umschlungen von Schlangen, unter dem Sternendach des Hatschepsut-Tempels in Oberägypten (Bild 1999-09-20).

 

Dieser Verweis auf die Symbolik im Hatschepsut-Tempel macht vor allem deutlich, wie weit jene Symbolik, die wir in den Bildwerken Karatepes finden, zurück in die Geschichte reicht. Er unterstreicht damit die Erwägung, dass diese Erinnerungen auch in der hieroglyphen-luwischen Sprache über einen langen Zeitraum transportiert werden konnten.

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3. Das Paar am Lotosbaum

Die besterhaltenen Bildwerke-Partien fanden sich im Nordtorkomplex. Während sich die Kunstwerke im Vorhof an beiden Seitenwänden gut erhalten haben, galt dies hinsichtlich der nachgelagerten Kammern nur für die größere rechte. Deren Orthostaten und Figuren wurden bis auf den äußersten Portallöwen NKr 21 und einen sich auf der Seitenwand anschließenden, aber verloren gegangenen Orthostaten (NKr 20) vollständig in situ vorgefunden (insgesamt 13 Orthostaten, davon zwei mit Inschriften, und ein Binder; Bildwerke Beilage 1), so dass hier von einer authentischen Aufstellung ausgegangen werden kann.

Bei insgesamt 21 Platten, inklusive der beiden um die 1,30 m breiten Portalfiguren, der fehlenden Platte NKr 20, der beiden Inschriftenplatten NKr 5 und NKr 7 sowie der drei gut 20 cm schmalen leeren Zwischenteile (Binder NKr 4, 8 und 14) war das eine sehr reichhaltige aber eng „gehängte“ Bildergalerie in einem Kabinett, das gerade einmal um die 3,5 mal 6 m maß – kein Raum für große Menschengruppen, sondern ein Ort der Kontemplation, an dem sich Betrachter in die Geschichten versenken konnten, die seine Bildwerke erzählen. Vielleicht gab es ja in dessen Mitte niedrige Hocker oder Sitzkissen, auf die sich Betrachter in Augenhöhe mit ihren Betrachtungsobjekten niederlassen konnten.

Wegen des guten Erhaltungszustandes dieser Bildergalerie setzen auch Çambel et al. mit ihren Interpretationen in dieser Kammer an (S. 123). Sie versuchen die Bildwerke dieses Raums über eine als zentral angesehene Tafel in der Rückwand zu entschlüsseln (NKr 11). Diese Tafel „liegt von der Aufstellung her in der Mittelachse der Kammer, zeigt eine Göttertrias und bildet somit inhaltlich wie optisch den Höhepunkt in dieser Kammer“.

Schon die flotte Einstufung als „Göttertrias“ wirkt wacklig, weil diese Tafel die einzige auf der Rückwand ist, die ihre Figuren offensichtlich nicht tafelfüllend darstellt, auch wenn der Text tapfer daran festhält, die Dreiergruppe sehe man „in voller Höhe des Steinblocks“ (vgl. Abb. 7 links). Die Größe einer Figur ist immerhin das einzige ‚harte‘ Kriterium, das in den Karatepe Bildwerkens zur Einstufung einer Figur als „Gott“ (oder auch Göttin) angewandt wird und daher auch hier besonders wichtig. Offensichtlich aber füllen nicht einmal die beiden äußeren Figuren die gesamte Tafelhöhe, geschweige denn die viel kleinere mittlere. Sie ist nur fragmentarisch erhalten, die Füße sind aber noch etwas unterhalb der Bildmitte zu erkennen.

Abb. 7: Die beiden zentralen Tafeln der rechten Kammer im Nordtorkomplex (NKr 10 rechts und NKR 11 links) in Foto wie Umzeichnung. Auf den Seitenmitten klickbares Wechselbild (Karatepe Bildwerke 2003 Tafeln 80 bis 83).

 

Man vergleiche nun diese Tafel auch mit der rechts angrenzenden Tafel NKr 10 (ebenfalls in Abb. 7, dort rechts), in der zwei „Ziegen“ den Tafelraum so mächtig ausfüllen, also würden sie gar noch über die Tafelränder hinausragen. Zudem ist die Triastafel deutlich schmäler als die Ziegentafel (65 cm die Trias gegenüber 77 cm die „Ziegen“). Wenn hier also etwas den „optischen Höhepunkt“ in dieser Kammer bildet, dann ist es die Ziegentafel. Obwohl die beiden Tierfiguren überaus dominant groß dargestellt sind, wagen Çambel et al. aber keine Einstufung als Götter (denn dafür gibt es nun wirklich gar keinen Anhaltspunkt in diesen Wesen selbst).

Setzen wir also bei den „Ziegen“ an, um zu prüfen, ob diese Tafel eventuell auch den „inhaltlichen Höhepunkt“ in den Bilderreihen dieses Raums darstellen kann:

Zunächst sei vermerkt, dass es sich nicht unbedingt um Ziegen (Capra) handeln muss, da auch Schafe (Ovis) in Betracht kommen, die vor allem in der Art des Mufflons (Ovis orientalis) in genau dieser Region verbreitet waren und so schöne Hörner ausbilden, wie sie im Relief herausgearbeitet sind (Abb. 8).

Bereits Çambel et al. stellen fest, dass es sich – wegen des herausragenden Penis‘ – beim linken Tier der Tafel NKr 10 (Abb. 7) um einen Bock und beim rechten Tier (wegen einer als Euter inter­pretier­baren Ausbuchtung unter dem Po) um ein Weibchen handeln könnte. Dann wären dessen Hörner, die weder Ziegen- noch Schaf-Weibchen zu eigen sind, vor allem aus Symmetriegründen ange­bracht worden.

Die beiden Tiere schmiegen sich um eine bildhohe (!) Pflanze in der Tafelmitte. Die Unterschenkel formen präzise die Kontur des nach innen gedrehten unteren Rankenpaars nach, die Vorderhufe setzen wie sanfte Pfötchen vorsichtig auf den beiden oberen Rankenpaaren auf. Die Mäuler scheinen an den Früchten der Pflanze zu kosten.

Die Pflanze in der Mitte ist Çambel et al. nur den Vermerk „stilisierte Pflanze“ wert, an der die „Doppelvoluten des Stammes von unten nach oben an Größe abnehmen“ (S. 82). Eine botanische Deutung dieser Pflanze wird nicht unternommen. Die ist auch nicht so einfach, weil es eine solche Kombination von Knospen/Blüten oben und eingerollten „Voluten“ darunter botanisch nicht gibt. Auch die Symmetrie der Voluten als sich ausrollende gegenständige Blätter würde botanisch nicht passen. Schließlich hilft der Begriff „Volute“ (lat. volutum = das Gerollte) nicht wirklich weiter, weil er künstlerische Ornamentik, vor allem in der Architektur, realisiert vor allem im ionischen Kapitell, anspricht. Eine botanische Form ist das aber nicht, bzw. allenfalls bei Farnen, die sich im jungen Wuchsstadium aus dieser Gestalt entrollen. Doch Farne entwickeln keine Blüten. Die Pflanze der Tafel NKr 10 ist also aus verschiedenen Stilelementen zusammengesetzt.

Auf diese Weise kommen wir dann doch wieder zur baulichen Ornamentik und in diesem Rahmen sogar erneut zur ionischen Architektur, die sich etwa ein Jahrhundert nach Errichtung der Festung Karatepe-Aslantaş im Ägäisraum, dort auch an der kleinasiatischen Küste, entwickelt hat. Hier wurde im 6. und 5. Jahrhundert insbesondere an Tempelbauwerken der ionische Anthemienfries ausgebildet, der sich ebenfalls aus unterschiedlichen botanischen Elementen, nämlich aus Lotosblüten und Palmetten (gefächerten Palmzweigen), verbunden durch eingerollte („volutenartige“) Ranken zusammensetzt. Die Arachne-Datenbank des Deutschen Archäologischen Instituts zeigt insofern ein schönes Beispiel, referenziert in Abb. 9.

Die Pflanze der Tafel NKr 10 sieht sehr wie ein Vorläufer dieses Frieses aus, wo sie die Elemente „Lotos“ und „Ranke“ kombiniert (im hiesigen 7. Abschnitt werden die vorderasiatischen Ursprünge dieses Musters weiter komplettiert werden). Die Palmetten fehlen zwar auf dieser Tafel, wurden aber ebenfalls als Kombination mit symmetrischen eingerollten Ranken vor Ort gefunden (Orthostat von Domuztepe, Karatepe Bildwerke Tafel 232). Diese verschiedenen botanischen Elemente sind somit nicht Bestandteil einer Pflanze, sondern stilisierend zusammengefügt. Diese – auch zeitliche – Vorläuferrolle der Karatepe-Tafel(n) zum ionischen Palmettenfries, ist auch deshalb plausibel, weil sie sozusagen „am Weg“ der orientalischen Herkunft dessen liegt, was „Lotos“ sein könnte:

Der mythische Lotos realisiert sich im Baum der Lotospflaume

Bei diesem Lotos im Fries handelt es sich sicher nicht um jenen „ägyptischen Lotos“, der als Wasserpflanze unmöglich einen solch aufrechten Wuchs entwickeln kann, wie er sich in Tafel NKr 10 zeigt. (der ägyptische Lotos ist wohl der „Tigerlotos“ / Nymphaea lotus aus der Familie der Seerosengewächse; vgl. dazu die Erörterung von Homers Botanik an den Gewässern Troias: Botanik am Strom). Hier kommt botanisch vielmehr eine Pflanze in Betracht, die als „Lotosbaum“ durch die Werke antiker Autoren geistert (Herodot, Theophrast, usw.). Dessen botanische Deutungen gehen weit auseinander (vgl. die Zusammenstellung bei Wikipedia zu Lotosbaum). Einschlägig dürfte hier die Lotospflaume Diospyros lotus sein, zu der der Kosmos-Atlas der Mittelmeerflora eine Verbreitung im anatolischen Raum nachweist (S. 146; „heimisch in Anatolien und weiter östlich“), der als Fruchtbaum kultiviert wurde und für den „der zur Fruchtzeit vergrößerte Kelch mit vier zurückgeschlagenen Lappen“ charakteristisch ist.

Der Kosmos-Atlas kann leider nur eine Abbildung mit ausgereiften Früchten anbieten. Unter baumkunde.de sind aber Abbildungen veröffentlicht, die alle Entwicklungsstadien der Pflanze von den Blütenknospen über die (männlich/weiblich unterschiedlichen) Blüten, die Fruchtknospen bis zu den Früchten zeigen (Ausschnitt in Abb. 10). Danach ist es offensichtlich, dass die Pflanzendarstellung in Tafel NKr 10 oben eine Fruchtknospe (nicht Blütenknospe) zeigt, unter der wegen der seitlichen und stilisierten Ansicht lediglich zwei der vier symmetrischen Tragblätter nach links und rechts herausragen. An diesen jungen Früchten laben sich die beiden aufrecht stehenden glücklichen Mufflon-Schafe. Hingegen könnten die unter der Fruchtknospe seitlich aus dem Stängel an weiteren Tragblättern herauswachsenden Knospen auch Blütenknospen sein.

An diesen Lotosbaum (Lotospflaume) mag auch Homer gedacht haben, als er dichtete (Ilias II.775 f):

Aber die Pferde, die standen bei ihren Wagen, und jedes
Rupfte sich Lotos ab und im Sumpf gewachsenen Eppich.

Ebenso dürften die Lotophagen in Homers Odyssee die Früchte dieser Lotospflaume genossen haben, die ihre Konsumenten so verzücken konnte, dass sie – die in langen Kriegen verrohten Krieger und nun über die Meere irrenden Seefahrer – alles Böse und selbst ihr Heimweh vergaßen.

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4. Die Lotospflanze und die Seevölker

Genau diesen Zusammenhang zu den kriegerischen Seefahrern der Odyssee – also zu den im östlichen Mittelmeer vagabundierenden „Seevölkern“ der Nach-Troia-Ära – könnte auch die Bildfolge der rechten Kammer hergestellt haben wollen. Denn sie beginnt links (nach Portallöwe und fehlendem Orthostat), also an jenem Ende der Bildergalerie, auf das der Blick jedes in die Torgasse Eintretenden fällt, mit jener berühmten Schiffsszene (Abb. 11).

Hier sitzen auf dem Deck eines Kriegsschiffs mit rechteckigem, nicht spitzen Rammsporn (links) und hoch gezogenem Heck gemütlich die seefahrenden Krieger und bechern fröhlich nach gewonnener Seeschlacht, während die Leichen ihrer Gegner im Wasser treiben und für die Fische zum Fraß werden. Jene „Seevölker“, die nach Troias Fall auch Kilikien besiedelten, stammten aus dem Ägäisraum. Insofern wäre es für die Einordnung dieser Schiffsszene in den Seevölkerkontext wichtig, wohin das Schiff zu verorten ist. Anhaltspunkte – wie etwa die Form des Rammsporns – gibt es einige.

Die Diskussion ging zunächst will durcheinander (Zusammenfassung in Karatepe Bildwerke S. 82 ff). Die einen sahen ein Schiff aus dem nahen Phönizien, die anderen plädierten eher für die Ägäis. Sogar die Assyrer mit einer Darstellung aus dem Sanherib-Palast in Ninive kamen ins Spiel, obwohl sie als Binnenstaat auf Schiffbauunterstützung der Küstenländer (Phönzier, Kiliker) angewiesen waren. Über genau studierte Details in der an sich sehr stilisierten Darstellung (nur vier Personen stehen für die über 50-köpfige Besatzung, nur fünf Ruder für die anzunehmenden 25 auf jeder Seite usw.) neigte sich die Wage zugunsten einer Ägäis-Einordnung (S. 85 f):

Die Verstärkungsplanken an Heck und Bug sind bis auf die oberste am Bug eine Fortsetzung der vorderen und hinteren Brüstung. Diese seitliche Umgürtung des Schiffsrumpfes mit Planken ist besonders bei griechischen Schiffsdarstellungen gut zu erkennen und scheint charakteristisch für ägäische Kriegsschiffe zu sein ...

Diesen Schiffen ist außerdem gemeinsam, daß es ein Deck gibt, auf dem man kämpfen, aber auch nur sitzen kann.

... im Gegensatz zu griechischen Schiffen ist das Deck bei phönizischen auf einer Reihe von Stützen angebracht und meistens seitlich durchgehend mit Schildern abgeschirmt.

Die Abschirmung mit Schilden [nicht „Schildern“] ist hier offensichtlich nicht gegeben, anders als in der Darstellung aus Sanheribs Palast, die ein phönizisches Schiff zeigt. Und auch die Annahme von Deckstützen wird aus diversen Gründen wohl zutreffend verworfen.

Zusammenfassend kommt dann auch Çambel zu der Ansicht, dass hier keine mythologische, sondern eine historische Begebenheit dargestellt wird, die im geschichtlichen Bewusstsein der einheimischen Bevölkerung verankert war. Sie transportiert die Erinnerung an eine weit zurück in der Zeit der Mopsos-Wanderung anzusiedelnde Geschichte kriegerischer Seefahrer, die aus der Ägäis kamen und sich letztlich hier in Kilikien ansiedelten, wo die Nachfolger dieses Mopsos noch immer die Herrscher stellen.

Den seinerzeit geschichtsaktuellen Endpunkt dieser auf Basalt-Orthostaten erzählten lange zurückliegenden Migrationsgeschichte markiert die als Ausgangspunkt unsere Bildwerke-Deutung gewählte raumzentrale Platte mit den beiden Mufflonschafen am Lotosbaum (NKr 10): Sie repräsentiert das erlangte Glück und den erworbenen Wohlstand im Reich des Azitawada, symbolisiert durch zwei sympathische Schafe, die als domestizierte Tiere eine wesentliche agrarökonomische Basis dieses Wohlstands bilden und eine kostbare, Wohlbefinden erzeugende regionstypische Lotos-Pflanze verspeisen.

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5. Die ‚Trias‘-Szene

Kommen wir zur Platte mit der angeblichen „Göttertrias“ zurück, die neben dem Schafspaar am Lotosbaum schmäler und mit deutlich kleineren Figuren von Çambel dennoch als Zentrum der Kammerbilder ausgemacht worden war (relevanter Ausschnitt in Abb. 12).

Die Trias-Bildplatte

Abb. 12: Kopf und Brustbereich der drei Personen auf der Trias-Platte (NKr 11) mit ihren Händen, den drei vertikalen Bändern und dem horizontalem Band (im Kontext mit dem Orthostaten NKr 10 schon in Abb. 7).

 

Über die Frage, um welche Götter es sich denn hier handele, wird in den Bildwerken recht wild spekuliert (S. 131, 3. Abschnitt „Ikonografie“, Ziff. a. „Götter“, sowie schon bei der bloßen Beschreibung im Katalogteil auf S. 82). Ertragreich ist das nicht. Folgende einigermaßen sichere Beobachtungen lassen sich festhalten:

Wir sehen hier eine Szene zwischen einem Mann auf der linken und einer Frau auf der rechten Seite. Das im Profil dargestellte Paar schaut sich an. Die dritte „kleinere“ Person ist wahrscheinlich gar nicht kleiner, sondern steht nur weiter hinten, was der Künstler mithilfe perspektivischer Verkürzung dargestellt hat. Diese dritte Figur ist – jedenfalls von der Fußstellung her – etwas mehr auf die Frau ausgerichtet (vgl. Abb. 12). Nun kommt als Feinheit ins Spiel, dass die dritte, hintere Person ihre Hände um die beiden vorderen legt, was aus der Lage ihrer sichtbaren unteren Fingerglieder zu schließen ist. Dem Mann fasst sie auf die rechte Schulter, die Frau scheint sie geradezu mit der Hand im Nacken nach vorne zu schieben. Ob es nun auf diese Nuance ankommt oder nicht – die Szene sieht jedenfalls danach aus, als führe die hintere Person die beiden vorderen zusammen (aus dieser Sicht erscheint die Spekulation Çambels S. 82/II, die hintere „kleinere“ Person sei der „Sohn“ des Götterpaares vorne, noch abwegiger).

Befremdlich sind die Armstellungen, wie sie bei dem Paar vorne ausgestaltet wurden. Zwar sind bei allen Figuren in diesem Raum zwischen der „Trias“ und der Schiffsszene die Arme durchgängig recht kurz geraten, doch bei der Frau sehen sie regelrecht verkrüppelt aus. Dazu haben weder die Karatepe Bildwerke noch ich eine klärende Idee.

Eine weitere Besonderheit sind die Bänder, die von allen drei Figuren gerade herabhängen. Wenn man die Kleidung der drei Personen nicht nur profan als knie- bzw. bodenlange „Hemden“ (so die Karatepe Bildwerke S. 82), sondern als Talar, Kaftan o.ä. bezeichnen würde, dann würde das herunterhängende Band gut als „Schärpe“ zu diesem feierlichen Kleidungsstück passen. Dass es sich um ein hängendes Accessoire handelt, zeigen zum einen die Enden oberhalb der Füße und zum anderen die schräg geschnittenen Abschlüsse – beim Mann nach links oben, bei der Frau nach rechts oben(vgl. Abb. 7).

Nun sind auf Hals- bzw. Kinnhöhe des vorderen Paares noch Bruchstücke eines horizontalen Bandes zu erkennen. Çambel nimmt dies zum Anlass, über ein dreibeiniges „Gestell“ zu spekulieren, das aber zwischen den drei Personen auf rätselhafte Weise in der Luft schweben müsste, da die „Gestellbeine“ ja nicht auf dem Boden aufsetzen.

Ärgerlicherweise sind genau die Stellen im Kinnbereich der vorderen Personen, wo sich alles verknüpft, abgeschlagen. Es kann also nicht mehr geklärt werden, ob das Paar im Vordergrund durch ein Band verbunden war, das in der Mitte quer läuft, in den Kinnbereichen irgendwie mit diesen Personen verknüpft ist und dann vor jeder Person nach unten hängt. Auffällig ist auch, dass dies Band vor den Armen der vorderen Personen hängt – und nicht etwa wie eine vertikale Schärpe körpermittig vor Brust und Bauch.

Vielleicht sind die Schärpen auch nur der breite Saum eines ansonsten transparenten Umhangs, der das Paar vorne gemeinsam umhüllt. Dann wäre auch dessen Hängung vor den Armen erklärt. Fairerweise muss ich hier sagen, dass ich auf den Analogie-Gedanken mit dem transparenten Umhang angesichts einer Frauenfigur des minoischen Akrotiri gekommen bin (vgl. die erste Bildergalerie in: Die Wandmalereien von Akrotiri auf dieser Website.

Aber nach erneutem Durchmustern der Bildergalerie aus Karatepe-Aslantaş findet sich auch hier ein durchaus passendes  Referenzobjekt: In der sogenannten „Stieropferszene“, bzw. deren Variante im Südtorkomplex gibt es links unten eine Figur, die als Priester gedeutet werden kann und sich nach links aus dem Bild heraus abwendet (Abb. 13; zum Szenenkontext mehr im hiesigen Abschnitt 7). Sie trägt einen dünnen womöglich transparenten Umhang, der körperbetont über den linken Arm der Figur fällt und unter dem Kinn durch eine Art Brosche zusammengehalten wird. Es fehlt hier aber eine den Rand besonders betonende Schärpe.

Die „Trias“ wird über die soeben entwickelte Interpretation jedenfalls zu einer Paarszene mit einer sie verbindenden Mitte, nämlich einer sie aus dem Hintergrund heraus zusammenführenden Person und einem sie verbindenden Band (oder Umhang). Diese Komposition ähnelt – so interpretiert – auffällig der rechts angrenzenden Platte mit dem – ebenfalls männlich-weiblichen – Schafspaar, das sich um die Mitte der Wohltaten spendenden Lotospflanze schmiegt. Die beiden Platten formen so eine einheitliche Aussage in zwei Facetten.

Alles zusammenfassend tippe ich auf die Darstellung der Hochzeit des Herrschers Azitawada, die seinem Land Wohlstand und Freude bringen soll.

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6. Ein Blick auf die von der Schiffsszene herführenden Orthostaten

Nach entschiedener Festlegung auf eine Göttertrias in der Mitte der rechten Nordtorkammer (NKr 11) sind die Karatepe Bildwerke-AutorInnen zur Schlussfolgerung gezwungen, dass all die anderen großen Personen, die sich dieser „Göttertrias“ von links her nähern, ebenfalls Götter sein müssen. Das schafft erhebliche Interpretationsprobleme, weil die begleitenden bilingualen Inschriften gar nicht so viele Götter ‚hergeben‘. Andererseits müssen sich Cambel et al. verwundert zeigen, dass der dominant im Zentrum der Inschriften stehende Herrscher Azitawada in den Bildwerken nirgends auszumachen ist – die grundsätzliche Annahme „große Figuren = Götter“ hat ihm im Rahmen dieser Interpretation jegliche Präsenz-Chance genommen.

Die zwischen Schiffsszene und Hochzeitsszene platzierten Orthostaten sind in Abb. 14 zusammengestellt. Man sieht sofort, dass diese Bildwerke nicht mit der sonst zu findenden Sorgfalt ausgestaltet wurden, ja teilweise geradezu unfertig wirken (insbesondere die Kombination einer großen und einer kleinen Figur in NKr 15, der vierten Platte von rechts).

Abb. 14: Die Orthostaten NKr 12 (rechts) bis NKr 18 (schmal, links), umschaltbar zwischen Bild und Umzeichnung. Die Schiffsszene – hiesige Abb. 11 – schließt sich links, die Hochzeitsszene – hiesige Abb. 7 – schließt sich rechts an. In der Lücke zwischen NKR 13 und NKr 15 steht noch ein schmaler Binder ohne Gestaltung (NKr 14), der deshalb weggelassen wurde.

 

Mit Ausnahme der Tierszene in NKR 17 mit den sechs Personen, die sich um einen Bock oben und einen Stier unten kümmern, sind alle anderen nach rechts auf die Hochzeitsszene ausgerichtet: zunächst fünf kleine Figuren (zwei in NKr 18, drei in NKr 16), in NKr 16 ferner ein Reiter und sodann fünf große Figuren. Was aus der weiteren kleinen Figur in NKr 15 werden sollte, lässt sich angesichts ihrer unfertigen Ausgestaltung nicht ausmachen. Bei den kleinen Figuren handelt es sich wohl um das Volk Azitawadas, bei den großen um die Würdenträger in seinem Staat (die Würdenträgerdeutung wird auch von Çambel in Fußnote 347 zitiert, kann aber wegen der restriktiven Figurengrößen-Grundannahme nicht aufgegriffen werden).

All diesen Figuren ist ihre auffällige gleichartige vorgestreckte Arm- und Handhaltung gemein. Çambel nennt sie „Adorationsgeste“. Die wohl gemeinte Adorantenhaltung setzt aber eigentlich geöffnete Handflächen zu den ausgebreiteten Armen voraus, die erst die Anbetungs- oder Huldigungsabsicht ausdrücken. Diese Geste kann aber definitiv nicht festgestellt werden, weil die Hände aller Figuren unbestreitbar geschlossen sind. Diese Hände sehen eher so aus, als würden sie etwas halten (wollen) – einen Stab, eine Pflanze, einen Palmwedel (wie explizit in SVl 3 und SVr 3 symmetrisch auf beiden Seiten des Südtorvorhofs realisiert!) oder Ähnliches.

Vielleicht wurden diese Attribute einfach noch nicht fertiggestellt. Denn die obere linke Figur in NK 17 hinter dem dortigen Bock hält tatsächlich schon etwas in der Hand, das in der Umzeichnung womöglich als Speer fehlinterpretiert wird (Abb. 17). Denn die Ritzung ist in der Basaltplatte nur zart angedeutet. Auf diese Weise ließe sich ein solcher Gegenstand aber auch bei allen anderen Figurenhänden (bzw. den linken Figurenhänden außerhalb des Körpers) in den noch unfertigen Bildern ‚nachbessern‘.

Im Übrigen tragen bereits die linken Hände von zumindest drei „Würdenträgern“ (NKr 12, 13, 15) etwas, was von Çambel et al. einmal als „Keule“ und zweimal als „Messer“ gedeutet wird. Es bleibt allerdings unerfindlich, was diese Personen – egal ob Würdenträger oder Götter – mit derartigen Waffen bei einer so friedlichen Prozession zur Trias – egal ob Hochzeit oder Göttertrias – wollen. Man sollte also eher an Geschenke denken, deren Eigenart sich angesichts der teils sehr einfachen, teils sehr flachen Darstellung wieder einmal nicht genau erkennen und aus unserer großen Kulturdistanz wohl auch nur schwer deuten lässt. Dies gilt auch für den merkwürdigen Bogen oberhalb des Arms der großen Figur in NKr 15 (vgl. Abb. 14), der angesichts des tiefen Steinabtrags unterhalb des Arms kaum noch zu jener Bogenwaffe komplettiert werden kann, die Çambel et al darin begonnen sehen wollen. Nimmt man auch hier Abschied von der Deutung als Waffe, dann verwundert auch nicht mehr, dass der Reiter in NKr 16 (vgl. erneut Abb. 14) ebenfalls keine Waffe trägt (vgl. Karatepe Bildwerke, Kommentar zu NKr 16, S. 83: „Vergleichsmaterial für einen Reiter in ähnlicher Szene ist soweit nicht bekannt, sind doch Reiter sonst immer bewaffnet und entweder im Zusammenhang eines Kampfes oder der Jagd dargestellt“).

Insgesamt sehen wir also eine friedliche Prozession von Volk und Würdenträgern sowie den ortstypischen kilikischen Rossen, die mit Geschenken zur Hochzeit des Herrschers Azitawada strömt.

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7. Die „Stieropferszene“

Aus der Bildergalerie im Nordtorkammerabschnitt zwischen Siegesfeier auf dem Kriegsschiff (NKr 18) und Labsal der Schafe am Lotosbaum (NKr 10) bleibt noch Tafel NKr 17 zu erörtern, die in den Karatepe Bildwerken als „Stieropferszene“ bezeichnet wird, auf der aber neben dem Stier unten auch noch ein Bock im oberen Teil der Tafel zu sehen ist (Abb. 16).

Kann diese Szene mit den Inschriften korrespondieren, in denen ja explizit von Opferungen die Rede ist? In seiner inschriftlichen Proklamation sagt Azitawada (III.16 ff):

Und ich baute diese Stadt. Ihr gab ich den Namen „Azitawadja".
Ich ließ in ihr wohnen den Baal-Krntrjsch
und brachte Schlachtopfer dar für alle Gußbilder:
als Neujahrsopfer 1 Rind
und zur Zeit der Aussaat 1 Schaf
und zur Zeit der Weinernte 1 Schaf.

Streng genommen kann dieser Bericht nicht in Tafel NKr 17 (Abb. 16) umgesetzt sein, weil verschiedene Zeitpunkte angesprochen sind – es sei denn, damals sei das Neujahrsfest auf die Zeit der Aussaat gefallen.

Weniger Probleme bereitet das Tier als solches im oberen Bereich der Platte, das in den Bildwerken wieder einmal als „Ziege“ bezeichnet wird („...wobei die Ziege anstelle eines Schafes abgebildet wurde...“ – S. 84), was dann zum vermeintlichen Widerspruch zwischen Bild und Inschrift führt. Aber natürlich kommt auch hier wieder ein Mufflon von der Gattung der Schafe (Ovis) in Betracht (vgl. Abb. 8). Diese Stelle ist in der Tafel leider stark zerstört, daher in Abb. 17 noch einmal als vergrößerter Ausschnitt wiedergegeben.

Hinsichtlich der drei genannten Opferzeitpunkte „Neujahr, Aussaat und Weinernte“ sei an die drei Inkarnationen des Gottes Baal erinnert, die genau mit diesen Opferanlässen korrespondieren. In der Hieroglyphen-Luwischen Fassung der Inschrift treten sie explizit mit den Hieroglyphen (DEUS) TONITRUS = Tarhunzas/Baal, (DEUS) BONUS = Korn-/Getreidegott und (DEUS) VITIS = Weingott auf. Die geheimnisvollen „Gussbilder“, in denen die Götter repräsentiert werden, lassen sich leider auch aus diesem Tafelbild nicht näher aufklären.

Für sich genommen ist die Szene im unteren Teil der Tafel am interessantesten. Hier tischen Çambel et al. eine Geschichte auf, die sich an Walter Burkerts „Homo necans – Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen“ anlehnen will (S. 84):

Zwei Männer mit Stirnband und Gürtel halten den Stier an Hörnern und Schwanz fest. Eine weitere (kahle?) Person mit Stirnband und Doppelaxt hinter dem Stier beugt sich etwas zurück, um im Rückschwung den Stier mit der Axt umso kraftvoll erschlagen zu können. Links steht eine etwas größere Figur – ein Priester? – mit einem runden Gegenstand in der rechten Hand und gibt mit der linken ein Zeichen. Bei dem Objekt in der rechten Hand soll es sich um einen Stein handeln, mit dem nach einem weitverbreiteten archaischen Kult der Schlachter des Tieres nach vollzogener ‚Tat‘ symbolisch gesteinigt wird, um dessen Schuld zu sühnen.

Die Geschichte klingt interessant. Sie vernachlässigt jedoch ein paar ihr zuwiderlaufende Aspekte – etwa eine Vertiefung des Gedankens, warum hier als Opferwerkzeug eine Doppelaxt zum Einsatz kommt, obwohl der Karatepe Bildwerke-Autor ob dieser Waffe stutzt: „Im zentral-anatolischen Bereich ist eher zu erwarten, daß dem Tier die Kehle durchschnitten wird“ (S. 84).

Die Doppelaxt ist ein überaus symbolträchtiges Gerät. Sie hat ihre Wurzeln in der frühen Bronzezeit des minoischen Kreta, diente dort aber nicht als Waffe, sondern – bis weit in die nachminoische, also mykenische Zeit hinein – als Kultobjekt zu Ehren der Fruchtbarkeits- bzw. Urgöttin. Ein Beispiel für besonders ‚junge‘ Funde sind rituell genutzte Doppeläxte aus der Eileithya-Höhle auf Kreta, datiert auf das 11 bis 10. Jh. (Labyrinth des Minos S. 242, – insofern brauchbarer als die nach verbreiteter mediterraner musealer Präsentationsschlampigkeit undatierten goldenen Doppeläxte im Archäologischen Museum Heraklion, dessen Katalog S. 126 f; s.a. Wikipedia zu Labrys). Auf Kreta wurde die Doppelaxt (nach Abbildungen auf Ringen o.ä.) allein von Frauen getragen und genutzt.

Die feministische Archäologin Marija Gimbutas hat die Spuren der Urgöttin in Schmetterlingsgestalt, die sie in der Doppelaxt wiederfindet, schon in frühmykenischer Keramik verfolgt, die noch durch die minoische Vorherrschaft in der Ägäis geprägt war (Gimbutas 1998, S.275, Abb. 432).

Die mykenischen Griechen übernahmen nach sukzessiver Eroberung Kretas das gesamte minoische Reich in der Südägäis, wo es sodann als „Achijawa“ einen vergleichbaren Raum füllte, der sich auch auf Kleinasien und dort vor allem in die Gegend um das antike Milet (damals Milawanda) erstreckte. Dies Reich dürfte der historische Hintergrund für Homers Achaier gewesen sein, die realiter von ihrem Brückenkopf Milawanda aus über längere Zeit die kleinasiatische Westküste bis hinauf nach Troia terrorisiert hatten (vgl. auf dieser Website – z.Z. noch geplant – Die Wirklichkeit des troianischen Krieges).

Bei der Eroberung Kretas haben die Mykener/Achaier auch die Doppelaxt adaptiert, aber sicher nicht mehr deren ‚feministischen‘ Kontext, in dem sie einst als Kultobjekt für die Urgöttin galt. Die Mykener standen ja – im Gegensatz zu den Minoern – für ein Patriarachat, das ihr gesamtes Kriegerwesen beherrschte. Hinfort fand sich nun die weibliche Doppelaxt in den Händen von Männern, könnte aber gleichwohl ihre kultische Bedeutung bzw. Nutzung behalten haben.

Wenn nun die Doppelaxt in der „Stieropferszene“ auftritt, dürfte sie vor allem auf diesen historischen Zusammenhang verweisen. Denn als „Seevolk“ haben die Achaier auch dies Kultobjekt aus der von ihr beherrschten Ägäis mit nach Kilikien gebracht. Da die Tafel NKr 17 mit der „Stieropferszene“ fast neben der Schiffsszene steht, rückt sie schon von dieser Stellung her in den ebenfalls historischen Zusammenhang dieser Erinnerung an die eigene Seevölker-Vergangenheit.

Man könnte also die drei ersten Tafeln auf der linken Seite der rechten Nordtorkammer kurz gefasst so ‚lesen‘:

Nach erfolgreichen Schlachten als „Seevolk“ (NKr 19 mit Schiffsszene) traten die Achaier in Kilikien an Land (schmale Platte NKr 18 mit zwei vom Schiff zum Land nach rechts gehenden Männern), siedelten sich dort an, züchteten Schafe, Stiere [und Pferde = Vorgriff auf Tafel NKr 16], die sie auch regelmäßig ihren Göttern bei rituellem Einsatz der aus dem minoischen Kulturkreis adaptierten Doppelaxt opferten (NKr 17).

In diesem Opferritual haben sie auch die aus Kreta mitgebrachte Doppelaxt genutzt – die zurückgebogene Körperhaltung ihres Trägers drückt dann aber eher aus, dass diese Axt vertikal mit beiden Händen als Kultobjekt hochgehalten wird, ohne dass sie auch unbedingt zum Töten des Tiers eingesetzt werden muss. Selbst der Stier scheint dabei mitzuspielen, der sich demütig vor dem Mann neigt, der ihn eher an den Hörnern krault, als dass er diese ‚festhält‘.

Ganz anders stellt sich die zweite in den Toren von Karatepe-Aslantaş gefundene „Stieropferszene“ im Vorraum des Südtores dar (Abb. 16 unten) Die beiden Männer am Stier drangsalieren diesen mit einem Strick. Der Stier sträubt sich massiv gegen sein Schicksal, auf den Festmahltischen zu landen. Beim Mann hinter dem Stier ist keine Doppelaxt im Spiel, er schwenkt vielmehr fröhlich seinen Weinkrug. Der „Priester“ gibt weder durch eine Hand ein Zeichen, noch hält er einen „Stein“ in der anderen, sondern wendet sich von dem profanen Vorgang ab.

Hier wird offenbar ein Stier dem Braten zugeführt, nicht aber den Göttern geopfert.

 

Eine vorletzte Bemerkung zu diesen „Opferzenen“: die Doppelaxt findet sich noch auf einem anderen Orthostaten und dort in der (rechten) Schwerthand des behörnten Wettergottes. Diese Tafel wurde Karatepe-Aslantaş gegenüber auf dem Domuztepe gefunden – wir hatten mit diesem Bild die Ausführungen zur Interpretation der Bildwerke begonnen (vgl. Abb. 2 und hier noch einmal in Abb. 17).

Mit der Doppelaxt holt der Gott aus, um einen Kopf zu treffen, den er in der andern Hand hält. Wäre dieser Kopf der eines noch daran hängenden Menschen, so würde der Gott sein Schwert nehmen, das in seinem Gürtel griffbereit steckt. So aber ist die Szene vollständig symbolisch: der stellvertretend für den Feind in der einen Hand gehaltene Kopf wird mit dem Kultgerät der Doppelaxt in der anderen Hand  durch den Gott der hörnerbehelmten Seevölker ‚erschlagen‘. Das aus der Ägäis bzw. dem adaptierten minoischen Kulturraum mitgebrachte Kultgerät ist den Frauen Kretas und ihrer Urgöttin entzogen, usurpiert  und zum Werkzeug in den Händen der patriarchalen Krieger des achaiischen Seevolks geworden, verkörpert durch den männlichen Gott.

 

Und nun die abschließende Anmerkung, die den „Stein“ in der Hand des „Priesters“ betrifft: In der „Stieropferszene“ NKr 17 neben dem Seevölker-Kriegsschiff NKr 19 scheinen Erinnerungen durch an eine vergangene Zeit des Matriarchats – dafür steht die Doppelaxt, ggf. auch der Stier. In diesen Erinnerungskontext würde die Rundform in der Hand des „Priesters“ mit einer Interpretation passen, die diese Rundform so bezeichnet, wie sie auch aussieht: als Ei, mithin ein weiteres matriarchales Symbol.

Dies Ei als Frucht einer Pflanze tauchte schon vor Azitawadas Festungsbau beim assyrischen Erzfeind in den Händen einer dortigen geflügelten Göttin auf. Reliefs mit Figuren, die eine solche Eifrucht in der erhobenen Hand halten oder sie (selten) von einer Rankpflanze pflücken, fanden sich zahlreich an den Wänden des Königspalastes von Assurnasipal II (883 bis 859 v.u.Z.) im assyrischen Nimrud (dessen Sohn Salmanassar III. – 858 bis 824 v.u.Z. – später die Anlage von Domuztepe zerstört hat). Die Reliefplatten sind heute in die Museen der Welt verstreut (sogar aus Mumbai wird eins dieser Reliefs gemeldet). Hier in Abb. 18 die Version einer adlerköpfigen geflügelten Göttin, die die Frucht gerade pflückt:

Adlerköpfige Göttin Assyriens

Abb. 18: Adlerköpfige Göttin (Ausschnitt), Nord-Irak, Nimrud, 9. Jh. v.u.Z., Gipsalabaster. Die vollständige Platte misst 230,5 x 210,8 cm.

 

Auch hier ist die Pflanze, von der die Frucht genommen wird, jedenfalls nicht botanisch real, sondern unverkennbar eine regelmäßige, musterartige Kombination von Ranken und Palmetten, die sogar schon von jenen Klammern zusammengehalten sind, die im ionischen Anthemion wieder erkennbar werden (vgl. oben den 3. Abschnitt).

Was sich da alles verknüpfen lässt: Die Rankpflanze als Element botanisch-figurativer Kompositionen, die geflügelte Göttin im hieroglyphen-luwischen Schrift- und späthethischen Orthostatenkosmos, zudem im ägyptischen und nun auch im assyrischen Kontext, matriarchale Symbole des Eis und der Doppelaxt, Inkarnationen der Urgöttin als Vogel (nun aber in der patriarchalisch umgefärbten Form des Adlers, wie er auch bei Homer ständig auftritt)... Lassen wir diese Assoziationen erst einmal so stehen. Denn bislang weiß ich nichts über die geheimnisvolle assyrische Eifrucht, von deren Symbolik in der Hand der assyrischen geflügelten Göttin usw. Das wäre bei Gelegenheit weiter aufzuklären.

 

Michael Siebert, Dezember 2014