Die in diesem Artikel eingangs angesprochenen Steinbrüche historischer Städte wie Harran, die sog. Bazda Caves, werden ausführlicher auf einer separaten Seite beschrieben: Die Höhlen von Harran.

Und zur Übersicht über Themen in der Region Südostanatolien geht es hier zurück .

 

Die Industrialisierung der südostanatolischen Landwirtschaft durch künstliche Bewässerung


Übersicht:


 

Eigentlich wollten wir in der Gegend um das südostanatolische Harran jene Steinbruchshöhlen besichtigen, die als „Bazda Caves“ durch undeutliche Internet-Seiten geistern und mit den dort verfügbaren Informationen schwer zu lokalisieren sind. Bei der Suche kam ein ganz anderes Ziel in den Blick, das in den Satellitenbildern noch rätselhaft blieb, dann vor Ort großes Staunen auslöste. Nach ergänzenden Recherchen ergibt sich nun ein Bild, das die nachfolgende Untersuchung zeichnet:

Undeutliche Hinweise auf geheimnisvolle „Bazda Caves“

Eine im Web gut präsente, aber zwischen albern und dubios schwankende, zudem zusammengeklaute, selbst jedoch bereits gegen bloße Zitatkopien technisch abgeschirmte und deshalb hier nicht weiter referenzierte Quelle geriet mir bei der Kilikien-Reisevorbereitung eher zufällig in den Blick. Ihr entnahm ich den Hinweis auf ein interessantes Ziel im Osten von Harran:

Folgt man der kleinen Straße durch Harran etwa 15 km weit nach Osten, gelangt man zu den Bazda-Steinbrüchen, in denen jahrhundertelang Baumaterial für Harran, Jethro und die Han al-Ba’rur Karawanserei gewonnen wurde. Übrig geblieben sind Hohlräume gewaltigen Ausmaßes.

Harran besteht aus allerlei „kleinen Straßen“, so dass schon dieser Hinweis auf die kleine Straße wenig weiterhilft. Zudem wird Richtung Osten nach den angegebenen 15 Kilometern selbst auf Luftlinie nicht einmal der Rand der flachen, landwirtschaftlich intensiv genutzten Ebene von Harran erreicht, geschweige denn die als Steinbruchsareal allein in Frage kommenden Kalksteinformationen der östlich angrenzenden Steinwüste – Web-Informationsschrott!

Abb.1: Zwei Routen in die Kalksteinwüste östlich der Harran-Ebene (Google Earth-Ansicht) – nordöstlich (rot) und südöstlich (lila). In der Wüste zeigt sich zudem ein auffälliges helles Band mit fleckenartigen Weiterungen, zunächst randparallel, dann in die Wüste hineindrehend.

 

Mehr Hilfe sollte bei einer offiziellen Stelle zu erwarten sein. In der Türkei sind Kultur und Tourismus unter einem Dach im „Ministery of Culture and Tourism“ gebündelt. Spätestens vor Ort wird man allerdings das Gefühl nicht los, dass mit diesem Titel bereits der Stellenwert von Kultur in der Türkei zum Ausdruck gebracht ist: sie hat als Lockhäppchen für Touristen zu dienen. Wo Touristen nicht hinkanalisiert werden sollen (etwa in Gegenden abseits der Bettenburgen rund um Antalya) gibt es auch nur (Des)Information, die der zunächst zitierten dubiosen Quelle im Web nicht nachsteht. Auf der einschlägigen speziellen Seite für die Region Urfa (die auf der allgemeinen Ministeriums-Seite gewünschter Tourismus-Destinationen nicht verlinkt ist) teilt das Ministerium mit (vollständiger Text zu diesem Stichwort):

The Bazda Caves
These large caves lie 18 km Northeast of Harran on a road named for the Han-e Barür Caravanserai, and have gradually come into being over the centuries as stone was quarried for construction in the cities of Harran and Şuayb. The largest of the caves in places has two levels, and is made up of long galleries and tunnels.

Wir entnehmen: nicht 15 km östlich, sondern 18 km nordöstlich „von Harran“ soll dies Interesse weckende Ziel liegen – was ungefähr genauso diffus ist. Der in dieser Notiz angegebene Straßenname hilft ebenfalls nicht weiter, weil jedenfalls in diesem Raum der Türkei nicht nur zu den Straßen, sondern sogar zu Ortschaften meist jegliche von hier gewohnte Beschilderung fehlt. Im Übrigen liegt die angesprochene Karawanserei weiter südöstlich in der Wüste von Harran auf etwa 4 Uhr, also ungefähr in jener Richtung, die obige 15 km-Angabe aus dem Web gemeint haben könnte.

Wir mussten uns also entscheiden: wählen wir eine Straße in nordöstlicher Richtung, wie sie das Ministerium weist, oder in südöstlicher Richtung, wofür der Web-Informationsschrott, aber auch der Straßenname in der Ministeriumsseite sprächen.

Wir wählten Nordost, weil dort neben den erwarteten Steinbruchshöhlen auf den Google Earth Luftbildern eine weitere, Interesse weckende Struktur auszumachen ist, nämlich das in Abb. 1 bereits gezeigte helle Band. Im Rand der Wüste kommt es kurvig von Norden herunter, biegt dann auf der Höhe von Harran nach Osten um und wird insbesondere dort von großen hellen Flecken begleitet. Die südliche Route (lila in Abb. 1) würde diese helle Bandstruktur nicht erreichen, die nördliche (rot in Abb. 1) hingegen schon. Zudem zeigt Google Earth am Schnittpunkt dieser Nordost-Straße mit jenem hellen Band narbenartige Veränderungen in den ansonsten glatten Felsdecken (Abb. 2). Das könnten jene Steinbrüche sein, zu denen uns leider niemand erläutert, warum sie „Bazda“ genannt werden.

Abb. 2: Links oben ein Dorf, rechts streifenartige Eintiefungen in der Kalkplatte, tangiert von der aus der oberen Bildmitte zur rechten unteren Ecke führenden NO-Piste von Harran in die Wüste.  Darüber ein vom aufgerissenen Weiß des Kalksteins völlig überblendeter Ausschnitt aus jener hellen Bandstruktur der Abb. 1. (Perspektive vor Ort in Abb. 5).

 

Wir nahmen deshalb diesen nordöstlichen Weg, um sowohl die Steinbruchshöhlen zu besichtigen, als auch zu klären, was es mit jenem hellen Band auf sich hat. Mehr zu den Bazda Caves in einem separaten Artikel auf dieser Website: Die Höhlen von Harran.

Entdeckung großer Kanäle auf der Reise durch die Wüste

Unmittelbar am Rand der Wüste, schon leicht erhöht gegenüber der grünen Ebene von Harran, quert die Piste einen wassergefüllten Kanal. Nach Norden hin verengt er sich auf ein Sperrwerk, durch dessen Tore die Wassermassen mit hohen Tempo schießen (Abb. 3).

Nach Süden hin lassen die in einem betonierten Trapezprofil dahinfließenden  Wassermassen an einen breiten Fluss denken (Abb. 4).

Wir sehen hier den Hauptkanal, der von Osten her zur Bewässerung der Ebene von Harran (und weiterer Flächen an der syrischen Grenze) dient und der Richtung Süden am Rand der Ebene entlangfließt. Ohne seine auf die Felder gelenkten Wassermassen wäre die Harran-Ebene nur im Winterhalbjahr mit Niederschlägen und kleinen natürlichen Gewässern als extensive Agrarfläche nutzbar, ansonsten eine Steppe zum Weiden des Viehs, wie sie Thomas Mann in seinem großen bibelhistorischen Werk „Joseph und seine Brüder“ beschrieben hat (vgl. etwa die Annäherung des vor seinem rachedürstenden Bruder Esau flüchtenden Jakob an den Viehbrunnen in der Harran-Ebene, Erster Teil, Viertes Hauptstück, „Jakob kommt zu Laban“). Heute sorgt eine die gesamte Ebene erreichende künstliche Bewässerung für ganzjährige intensive, industriell perfektionierte Agrarwirtschaft.

Zu unserer Überraschung queren wir nur wenige Minuten später einen weiteren Kanal – noch breiter, noch im Bau, daher noch ohne Wasser, umgeben von ausgedehnten Aushubhalden (Abb. 5), die den Blick auf die mit Google Earth-Hilfe eruierten historischen Steinbrüche so sehr verdecken, dass wir zunächst daran vorbeifahren. Diese Baustelle des etwas höher im Gelände geführten zweiten Kanals ist also die Erklärung für jene helle bandartige Struktur im Luftbild, die uns hierher gelockt hatte. Eine Erklärung für diese Kanaldoppelung wird aber noch nicht ersichtlich.

Abb. 5: Die Situation des Luftbildes in Abb. 2 nun aus der örtlichen Perspektive von Südosten. Der große obere Kanal kommt von Norden (rechts) und zieht nach Süden (links), wo die Piste von Harran in die Wüste quert. Dazwischen Aushubhalden, die den Überblendungseffekt im Google Earth-Bild bewirkt haben. In der Bildmitte versteckt zwischen den Halden das kleine Dorf und die Steinbruchshöhlen.

 

Nach Besichtigung der Steinbrüche und Querung der Wüste Richtung Akmağara türmen sich kurz vor Erreichen des Nord-Süd-Tals im grüner werdenden, offenbar künstlich bewässerten Gelände über den gesamten Horizont ungleich gigantischere Halden auf, als wir sie am Wüsteneingang mit der Baustelle des zweiten Kanals gesehen hatten (Abb. 6).

Das also sind jene großen hellen Flecken, die bereits in den Satellitenbildern so auffällig waren. Keine modernen Steinbrüche, sondern der Aushub von Kanalbauten, der in gigantischer Deponieform ohne jegliche Rücksicht auf vorhandene Geländeentwicklung abgekippt wird. Die Planung gibt den ausführenden Firmen offenbar nicht einmal vor, die letzte Schicht zu glätten. So entstehen die feinen, noch vom Satellit her zu erkennenden  Noppenmuster, in denen jede Noppe einer abgekippten Groß-LKW-Fuhre entspricht (vgl. im Luftbild der Abb. 2 mit den Steinbrüchen die Halden in der oberen rechten Bildecke).

Wo so große Halden aufgetürmt werden, muss es auch entsprechende Abgrabungen geben, die sich nicht allein aus dem Trapezprofil eines Kanals erklären. Alsbald werden wir aufgeklärt: Wenige Meter von der Wüstenstraße entfernt geraten wir an die Kante einer Steilwand, an der kein Zaun vor dem Absturz in die Tiefe schützt (Abb. 7). Mit der Abstufung durch lediglich eine Berme durchschneidet hier ein Kanal einen Wüstenhöhenzug. Wie dieser nun dritte Großkanal mit den anderen zusammenhängt, bleibt erst einmal unklar.

Abb. 7: Kurz vor Akmağara durchschneidet die nach Osten führende Kanalbaustelle zwei Bergzüge, die sich in der Wüste von Norden gen Süden erstrecken. Ein Schritt weiter und man landet zwanzig Meter tiefer.

 

Vor Ort folgt gleich eine letzte Großbaustelle: Wo zuvor im Tal von Akmağara ein kleines holpriges Sträßchen die wenigen Dörfer sowie die historischen Städte Soğmatar und Şuayb erschloss, wird nun mit ebensowenig Rücksicht auf das Gelände wie beim Kanal auf geradest möglicher Linie eine Straßentrasse durch Hügel, Felder, Dörfer und Agrarwege geschlagen, die jedenfalls für 2 Fahrstreifen pro Richtung ausreichend breit dimensioniert ist (Abb. 8).

 

 

 

Rekonstruktion der Wasserbauprojekte in der Region Urfa/Harran

Was hier in der Wüste von Harran passiert, lässt sich nur mit einiger Mühe aus verstreuten und unvollständigen Quellen rekonstruieren:

Die beschriebenen Kanäle sind allesamt Teil des großen „Südostanatolien-Projekts“ – türkisch „Güneydoğu Anadolu Projesi“ und daher „GAP“ abgekürzt. Es läuft bereits seit den 1980-er Jahren und will das Wasser der beiden großen anatolischen bzw. mesopotamischen Ströme Euphrat und Tigris für Energieerzeugung und Bewässerung landwirtschaftlicher Flächen nutzbar machen – in der Türkei. Denn die die beiden an den Unterströmen liegenden Länder Syrien und Irak haben bei diesem Projekt von 22 türkischen Staudämmen klar das Nachsehen, weil die Wassermassen, die ganzjährig in die türkische Landwirtschaft fließen, dort fehlen.

Die größte Projektkomponente ist noch der Atatürk-Stausee. Ein ähnlich großer Staudamm soll außerdem die Wasser des Tigris sammeln (Ilisu-Stammdamm – zur Kritik vgl. etwa den Bericht der Süddeutschen Zeitung über den bedrohten historischen Ort Hasankeyf). Als drittgrößter der Welt setzt der Atatürk-Stausee eine nirgends genau bezifferte Fläche unter Wasser, die ungefähr der 1,5-fachen des Bodensees entsprechen soll. Das waren historisch genau jene Flussufer, an denen über Jahrtausende die Menschheitsentwicklung vor allem  aus dieser Region heraus ihren Gang nahm und an denen wichtige Kulturstätten entstanden sind. Die in zehntausenden von Jahren entwickelte angepasste Wirtschaftsweise dieser Menschen wurde geflutet, um nun ehemalige Steppen und Wüsten künstlich bewässern zu können.

Bildergalerie mit Schwenk über die Situation am Atatürk-Staudamm

Auch wenn die Atatürk-Staumauer mit Anlagen zur Energieerzeugung ausgestattet ist und diese vorrangig die Wahrnehmung des Publikums prägen, liegt ihre eigentliche Aufgabe in der Bevorratung von Wasser für landwirtschaftliche Bewässerung. Die Zielgebiete sind von der Aussichtskanzel vor der Staumauer nicht zu sehen. Sie liegen sehr weit weg und werden durch Tunnel erreicht. Die weltgrößten Bewässerungstunnel sind ein Tunnelpaar zur 26 km entfernten Provinz- und Millionenstadt Şanliurfa – die „Urfa-Tunnel“. Die beiden Röhren haben je einen Innen­durch­messer von 7,62 m. Die Herstellerfirma Kolin Construction nennt einen Durchmesser jedes Tunnels von 8,90 m. Die englische Wikipedia differenziert zwischen 7,62 m Innen- und 9,5 m Außendurchmesser. Wikipedia.de schreibt nur den Innendurchmesser und die – bei Kolin Construction nicht genannte – Durchflussmenge von 326 m3/s bei Wikipedia.en ab.

Durch diese beiden Rohre sollen pro Sekunde 328 m3 Wasser stürzen. Das entspräche ungefähr einem Drittel des mittleren Jahresabflusses im Rhein am Pegel Rheinfelden bei Basel (Abb. 9). Für Euphrat und Tigris sind Vergleichsdaten schwerer zubekommen. Engelhard o.J. zeigt u.a. eine Jahresganglinie des monatlichen Abflusses von Euphrat und Tigris für die Jahre 1945 bis 1986, die somit die Situation vor Realisierung des GAP-Projektes wiederspiegelt. Er vermerkt: „Seit 1991 werden die Abflussdaten nicht mehr veröffentlicht (DSi Ankara)“. Das ist bemerkenswert, weil just ab dieser Zeit das GAP zu greifen begann und nun die zuvor auch nach Syrien geflossenen Euphrat-Wasser auf die Felder des Harran umgeleitet wurden.

Abflussmengen der Flüsse Rhein, Euphrat und Tigris

Abb. 9: Rechts unten die Ganglinie der mittleren Wasserführung von Euphrat und Tigris im Durchschnitt der Jahre 1945 bis 1986. Die Quelle Engelhard o.J. gibt Mrd. m3/Monat an, die hier zwecks Vergleichbarkeit umgerechnet wurden. Die Quelle gibt keinen Ort an, an dem gemessen wurde.

Links Ganglinien des Rheins an verschiedenen Pegeln vom Bodensee bis zur Mündung (nach Unterrichtsmaterialien des Klett-Verlags – PDF-Datei auf separatem Reiter).

 

Engelhard sagt nicht, an welchen Pegeln bzw. welchen Orten die Abflussmengen gemessen wurden. Man erkennt (unter dieser Einschränkung), dass die 328 m3 Wasser, die pro Sekunde durch die Urfa-Tunnel strömen, in etwa der gesamten Wassermenge entsprechen, die der Euphrat im wasserärmsten Monat September führt. Weitere an den Atatürk-Stausee angeschlossene (kleinere) Tunnel könnten zu dieser Zeit nur noch aus den Vorräten gespeist werden. Für Energieerzeugung, zu schweigen von den südlichen Nachbarländern, bliebe dann ebenfalls nur noch übrig, was aus den in den Spitzenmonaten März bis Mai gespeicherten Überschussmengen abgegeben werden kann bzw. was die Türkei daraus abgeben will.

Wikipedia.de berichtet in ihrem GAP-Artikel (Abschnitt „Internationale Abkommen und das Völkerrecht“), Verhandlungen in den 80-er Jahre hätten ergeben, dass von den „gegenwärtig“ mit Euphrat und Tigris ca. 700 m3/s über die Grenze fließenden Wassers Syrien und Irak 500 m3 zugesichert worden seien. Diese Sicherstellung der Wasserversorgung der beiden südlichen Nachbarländer erscheint bereits durch die Urfa-Tunnel massiv gefährdet, die allein schon fast die Hälfte des Euphrat- und Tigris-Ablaufs konsumieren. Es bleibt allerdings unklar, was die Angabe „gegenwärtig“ zu bedeuten hat.

Das große Becken, an dem die Urfa-Tunnel am südlichen Rand des Atatürk-Stausees beginnen (Abb. 10) und der Auslass im Nordosten des Stadtgebiets von Urfa (Geoposition auf OpenStreetMap ) lassen sich in Satellitenbildern gut erkennen.

Die Tunnel versorgen zunächst die Millionenstadt Urfa mit Trink- und Brauchwasser (Engelhard o.J., Ziff. 4b). Die Hauptwassermenge läuft in einen mächtigen Kanal, der sich alsbald in einen breiteren Strang nach Osten und einen schmaleren nach Süden verzweigt (hinfort „Verzweigung Süd 1“; Abb. 11, Ziffer 1). Letzterer unterquert sofort in einem langen Düker die Schnellstraße D 400.

Abb. 11: Zusammenstellung der drei Kanalverzweigungen ab Auslass der Urfa-Tunnel in jeweils gleichem Maßstab, so dass die unterschiedlichen Breiten der Kanäle deutlich werden. Zur Erläuterung siehe Text (Satellitenbilder aus Bing.de)

 

Nur 4 km später verzweigt der Südstrang erneut in einen breiteren nach Osten und einen schmaleren nach Süden  („Verzweigung Süd 2“; Abb. 11, Ziffer 2), der sich nach ca. 7,5 km noch einmal aufspaltet („Verzweigung Süd 3“; Abb. 11, Ziffer 3). Ab hier läuft der breitere westliche Kanal weit nach Süden entlang der Grenze zwischen bewässerter Ebene und Wüste, der andere schmalere parallel zur Hauptstraße, die nach Akçakale an der syrischen Grenze führt, in die Ebene hinein. Selbst dieser ‚kleine‘ Kanal transportiert noch stattliche Wassermengen (Abb. 12)

Der sich an „Verzweigung Süd 2“ nach Osten abspaltende breite Kanal erreicht über manche Windung entlang der Höhenlinien am Nordrand der Harran-Ebene letztlich deren Ostrand und führt an ihm nach Süden entlang, bis er kurz vor der syrischen Grenze nach Osten abbiegt und auch dort noch landwirtschaftliche Flächen mit Wasser versorgt (Gesamtdarstellung der Kanäle weiter unten in Abb. 16). Das war der Kanal, den wir auf der Fahrt in die östliche Wüste zuerst gequert hatten (Abb. 3 und 4). Zwischen den beiden auf östlicher wie westlicher Seite strikt an der Grenze zwischen Ebene und Wüste geführten Hauptkanälen, die dort leicht erhöht oberhalb der Ebene als Zulauf wirken, verzweigt sich unter Nutzung des natürlichen Gefälles die Bewässerung der gesamten Ebene immer feiner in ein künstliches Gespinst von Kanälen und aufgebockten Beton-Bewässerungsrinnen (Abb. 13).

Insgesamt werden auf diese Weise allein in der Harran-Ebene rund 125.000 Hektar ehemaliges Steppenland bewässert, was angeblich bis zu drei Ernten pro Jahr möglich macht und eine gewaltige Produktions­steigerung mit sich brachte (DSi-Congress S. 540). Zu 85 % wird das Land mit stark wasserzehrender Baumwolle bepflanzt (S. 551).

Mit dem in Abb. 13 gezeigten Bewässerungsschema ist die Harran-Ebene voll erschlossen. Da stellt sich die Frage, wohin jener Kanal führt, der sich an „Verzweigung Süd 1“ zunächst nach Norden wendet und der das auffällig breiteste Profil besitzt (er ist in Abb. 13 nicht enthalten). Es war genau dieser Kanal, dessen Baustelle wir am Ostrand der Harran-Ebene in erhöhter Lage kurz nach dem Wüstenrandkanal gequert hatten. Er nutzt eine leicht höhere Trasse, die ihn am Ostrand der Ebene zunächst weitgehend parallel zum aktiven Randkanal Ost leitet.

Abb. 14 zeigt eine Stelle in dieser Parallelführung, wo der neue höher liegende Kanal ein schmales Wadi queren muss. Hier bauen die Ingenieure gerade ein gewaltiges Dükerbauwerk, das die Wassermassen künftig unter dem Wadi hindurchleiten wird.

Abb. 14: Links der aktive Kanal am Wüstenrand zur Bewässerung der Harran-Ebene von Osten her, rechts davon nur gut einen Kilometer entfernt die Baustelle des neuen, höher gelegenen Kanals im Bereich eines Dükerbauwerks, wo ein Wadi gequert wird (Geoposition auf OpenStreetMap )

 

Dann aber biegt dieser Kanal nach Osten ab und durchfährt die Wüste, wo die zu querenden Felsrücken immer wieder den Abtrag gewaltiger Materialmengen erfordern. Dies Gestein wird einfach nebenan auf gigantische Halden gekippt, bei denen man sich jegliche Geländemodellierung erspart (Ansicht schon in Abb. 6).

Im Tal der historischen Städte von Soğmatar und Şuayb, wo die Wüstenpiste auf den rezenten Ort Akmağara trifft, stößt man erneut auf diesen Kanal, der währenddessen eine weitere Wendung nach Norden genommen hat. Zum Verfassungszeitpunkt dieses Artikels gab es hier noch eine Darstellungslücke auf Google Earth, während Bing (bei einer Darstellungslücke weiter westlich), diese Situation bereits zeigt (Abb. 15).

Abb. 15: Von Harran her auf der roten Route (Abb. 1) nähert man sich nach Durchquerung der Wüste auf jener Straße, die mittig am linken Rand ins Bild tritt und sieht von dort die große Halde in Abb.6 (helle ausgebuchtete Fläche links). Wo sodann die Straße auf den Kanal trifft und ab hier umgelegt wurde, entstand u.a. die Abb. 7 mit Blickrichtung nach Osten (Bing-Satellitenbild).

 

Die Baustelle dieses riesigen Kanals lässt sich in den Satellitenbilderdiensten noch endlos weiter nach Osten verfolgen.

Die ersten bereits fertig gestellten knapp 85 Kilometer hatte jene Firma gebaut, die auch für die Urfa-Tunnel zuständig war: Kolin Construction. Dieser erste Kanalabschnitt schließt unmittelbar an das Auslaufbauwerk der Urfa-Tunnel an und enthält auch die oben bereits beschriebene „Verzweigung Süd 1“. Aus der Kolin-Projektinformation (Projekt „Upper Harran Plain Irrigation Project, Main Canal Construction“) geht hervor, dass dieser Kanal Wasser aus den Urfa-Tunneln in die Ebene zwischen Ceylanpınar und Mardin schaffen soll.

Abb. 16: Projektion der unter Google Earth kartierten Kanäle auf eine topografische Karte (OpenStreetMap). Hier ist gut zu sehen, wie die Kanäle den Höhenlinien folgen. Die Größe des zu bewässernden Zielgebiets ist symbolisch durch ein Quadrat wiedergegeben. Die Lücken im Zuführungskanal ergeben sich aus dem Stand der Bauarbeiten sowie aus Darstellungslücken in den Satellitenbildern von Google Earth (Darstellungsstand August 2015).

 

Jenes Ceylanpınar weiter östlich an der syrischen Grenze ist bereits auf der direkten Straßenstrecke (über Viranşehir) um die 140 km von Urfa entfernt, so dass der Kanal mit seinen vielen, den Höhenlinien folgenden Windungen locker um die 200 km lang werden wird. Im Zielgebiet sollen nach Auskunft von Kolin Construction 326.000 ha Land bewässert werden. Das werden dann  260 % der bewässerten Flächen in der Harran-Ebene sein. Kein Wunder, dass dieser Kanal an „Verzweigung Süd 1“ (vgl. Abb. 11) deutlich breiter ausfällt als der für die Harran-Ebene ‚zuständige‘ andere Ast. Kolin Construction gibt die Kapazität des großen Kanals Richtung Mardin mit 200 m3/s an. Das wären gut 60 % jener Wassermenge, die die beiden Urfa-Tunnel aus dem Atatürk Stausee maximal heranschaffen können. Für die Millionenstadt Urfa selbst, die Harran-Ebene sowie die weiteren Flächen entlang der syrischen Grenze blieben also nur noch 40 % der Urfa-Tunnel-Kapazität. Mit Fertigstellung des großen Mardin-Kanals kann davon ausgegangen werden kann, dass die Türkei die in den Urfa-Tunneln herangeschafften Wassermassen voll in Anspruch nehmen und entsprechend dem benachbarten Syrien entziehen wird.

Um einen anschaulicheren Eindruck über die Dimensionen des „Upper Harran Plain Irrigation Projects“ zu geben, habe ich die in Abb. 17 auf topografischer Grundlage dargestellten Kanäle und Orte über eine Karte von Hessen und angrenzenden Bundesländern gelegt (selbstverständlich im gleichen Maßstab). Das liegt nahe, weil die Harran-Ebene dem Rheintal ähnelt, wenngleich sie viel kürzer, aber etwas breiter ist. Der Atatürk-Stausee würde dann den Raum vom Rhein bis Marburg zwischen Taunus und Westerwald ausfüllen. Die Großstadt Urfa – mit 1,8 Millionen offiziellen Einwohnern 3,7 mal so groß wie Mainz und Wiesbaden zusammen – würde sich im Bereich dieser beiden deutschen Landeshauptstädte erstrecken. Die beiden parallelen Kanaltrassen am Ostrand der Harran-Ebene lassen sich westlich an Darmstadt vorbei passend an die Bergstraße legen. Der Harran Ost-Kanal versorgt die Rheinebene und den südlichen Odenwald, der große Mardin-Kanal quert den mittleren Odenwald nebst Main sowie Spessart und würde dann das Land zwischen Würzburg und Schweinfurth bewässern.

Abb. 17: Projektion der Hauptkanäle der Bewässerungssysteme in den Ebenen von Harran sowie Ceylanpınar / Mardin (aus Abb. 16) auf die Region Hessen / Franken.

 

Erste Wertungen dieser Angriffs auf Landschaft und Kulturgeschichte

Das GAP-Projekt nimmt keinerlei Rücksicht auf den Charakter der ihm unterworfenen Landschaften. Wo früher in der weiten Harran-Ebene im Einklang mit den beschränkten Wasserressourcen aus kleinen Gewässern und Niederschlägen im Winterhalbjahr sowie Schöpfbrunnen in der restlichen Zeit gewirtschaftet wurde, wo mehr Weide- und weniger Agrarwirtschaft stattfand, ist heute fast jeder Quadratmeter intensiv genutzt. Die Flächen sind durch das engmaschige, regelmäßig angeordnete Netz der Bewässerungskanäle und -rinnen (Abb. 13) parzelliert. Vom früheren offenen Landschaftsbild ist nichts mehr geblieben, hier ist eine vollständig künstliche Landschaft entstanden.

Vereinzelt schauen noch wenige historische Siedlungshügel wie Sultantepe oder Harran aus dem plattgepflügten Land, führen aber eine verwahrloste Existenz. Nur noch hier oder in den Zwickeln der technischen Infrastruktur, zwischen Straßen und Kanälen (Abb. 3) findet hin und wieder eine kleine Schafherde oder eine einsame angepflockte Kuh ihre Nahrung.

Diese Umwandlung der Landschaft durch systematische Bewässerung ist so endgültig wie die Wirkung der Stauseen auf ihren überfluteten Flächen: Ihre Wassermassen haben nicht nur die an den Flüssen entfalteten historischen Siedlungsplätze und Kultstätten überdeckt. Die sodann eintretende Verlandung der Seen durch die Sedimentfracht der Flüsse überzieht diese versunkenen Stätten zudem mit mächtigen Sedimentdecken und macht sie so auch in fernen Zeiten unerreichbar, in denen die Staudämme vielleicht wieder zerbröselt sind.

Vom Atatürk-Stausee wird berichtet, dass er bald nach Inbetriebnahme auch umliegende Gebiete so sehr destabilisiert hat, dass ganze Hänge in den See abzurutschen drohten. Ein Aufforstungsprogramm auf einer dem Saarland entsprechenden Fläche soll diesen Prozess stoppen (Wikipedia).

Angesichts der gewaltigen Dimensionen, in denen in Südostanatolien breite offene Kanäle auf hunderte von Kilometern gebaut werden, um selbst weit entfernte Steppenlandschaften ganzjährig intensiv zu bewässern, sollte sich auch die Frage stellen, wie viel Wasser aus diesen Kanälen in diesen heißen Landstrichen verdunstet und somit nie genutzt werden kann, den Nachbarn im Süden aber entzogen wird. Über solche Verdunstungsmengen gibt es (soweit ich sehe) nirgends irgendwelche Angaben. Mangels präziser Daten über die Längen und Breiten der großen Kanäle lässt sich das auch nicht abschätzen.

Intensiv industrialisierte, künstlich bewässerte Landschaft vernichtet nicht nur ihre historische Identität, sondern produziert auch neue Probleme, insbesondere Bodenversalzung (Abb. 18). Denn künstliche Bewässerung kann nicht klimatische Rahmenbedingungen aufheben, nach denen wir uns hier in ariden Gebieten befinden, in denen bei hohen Temperaturen starke Verdunstung stattfindet. Das hat historisch zu tiefen Grundwasserständen geführt, aus denen die Bauern und Hirten der Vergangenheit ihren Wasserbedarf durch Schöpfbrunnen befriedigen konnten.

Abb. 18: Durch Bodenversalzung zerstörte Landschaft in der Harran-Ebene. Am Horizont einer der historischen Siedlungshügel. Aus: DSi-Congress 2007,  Figure 9, S. 549).

 

Mit künstlicher Bewässerung werden die Grundwasserstände angehoben und das Grundwasser beginnt kapillar zur Oberfläche aufzusteigen. Dabei nimmt es im Boden enthaltene Salze mit und scheidet diese vor seiner Verdunstung im oberflächennahen Bereich ab. Das macht mittelfristig die Böden unbrauchbar, weil Pflanzen in den salzigen Horizonten nicht mehr wachsen können. Obwohl inzwischen große Teile der Harran Ebene mit einem Drainage-System ergänzt wurden, das die Böden quasi spült, den Grundwasserspiegelanstieg bremsen soll und viel Geld kostet, stellen selbst Wissenschaftler im GAP-Projekt besorgniserregende Bodenversalzung fest. Zudem ist die Abkehr von der traditionellen Vielfalt der Anbaukulturen mit der Option auf monokulturellen Baumwollanbau fatal, weil diese stark wasserzehrende Pflanze bis 120 cm relativ tief wurzelt und die Versalzung ihrer Wurzelhorizonte somit schon bei diesem Grundwasserspiegel einsetzt.

Abschließend noch eine Anmerkung zu dem bereits angesprochenen Drainage-System. Die Quelle aus der DSi, die es darstellen will, ist miserabel (DSi Congress Figure 5). Abb. 19 dreht sie zunächst um 90° nach rechts in eine genordete Lage. Was mit „Main Drainage channel“ gemeint sein könnte, habe ich blau hervorgehoben. Die restlichen durchgezogenen schwarzen Linien sind nämlich vor allem Straßen. Bei Überlagerung auf das bereits in Abb. 134 wiedergegebene Bewässerungsschema der Harran-Ebene  – in Abb. 19 auf gleichen Maßstab gezogen – zeigt sich, dass dieser Haupt-Drainage-Kanal mitten durch die gesamte künstlich bewässerte Harran-Ebene führt. Er kommt aus Urfa und folgt von dort wohl dem längst ausgetrockneten historischen Gewässerlauf. Er erreicht die Syrische Grenze etwas östlich von Akçakale. Dies Gewässer ist heute der einzige Zulauf, der Syrien aus der Harran-Ebene und angrenzenden Landschaften noch erreicht: Ein Drainagekanal, der die gesamte Ebene entwässert, um Versalzungen zu vermeiden. Die Erwägung der türkischen Behörden, dieses Wasser erneut in den Bewässerungskreislauf zurückzuspeisen, offenbart zweierlei: Selbst dies Gewässer will man Syrien entziehen. Und man hält eine Aufbereitung dieses Drainagewasser vor Rückführung in den Bewässerungskreislauf für erforderlich – Syrien erreicht also zur Zeit ein Abwasserkanal mit einer unbekannten Salzfracht.

Abb. 19: Der (vermutliche) Haupt-Drainage-Kanal durch die gesamte Harran-Ebene (in der Quelle „Cullap Creek“ genannt) ist links in der genordeten Quelle blau hervorgehoben und rechts über das Bewässerungsschema gelegt.

 

Abschließende Links

Der Mechanismus von Bodenversalzung im Zuge künstlicher Bewässerung arider Gebiet wurde vom Diercke-Verlag anschaulich in einer Versalzungs Animation veranschaulicht (Ton anschalten!).

Weitere Aspekte der Kritik am GAP finden sich auf der Website des European Rivers Network.

Literatur

 

Die in diesem Artikel eingangs angesprochenen Steinbrüche historischer Städte wie Harran, die sog. Bazda Caves, werden ausführlicher auf einer separaten Seite beschrieben: Die Höhlen von Harran.

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September 2015