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Die Vernichtung der Achaiischen Mauer

...durch die Naturgewalt der vereinigten kilikischen Ströme

Auf der Seite Ströme in Kilien wird gezeigt, wie gut die Gewässer in Kilikien – vornehmlich die Ströme Kydnos, Saros und Pyramos – als Anschauung für die Beschreibungen in Homers Ilias passen, wie wenig das aber für die dürftigen Gewässer in der Troas gilt.

Die Ilias bietet in ihren von Gewässern handelnden Passagen noch ein weiteres, besonders starkes Argument, das die Troas als Anschauungsraum des Dichters, den wir Homer nennen, im Grunde ausschließt. Es geht um die finale Vernichtung jener Befestigungsanlage, die die Achaier um ihr Schiffslager gebaut hatten:

Nach verlustreichen Kämpfen in besagter Ebene zwischen den Strömen, die ständig die Gefahr einer Zerstörung der Schiffe bargen, schlägt der weise griechische Fürst Nestor (VII.325), Herrscher in der mykenischen Burg von Pylos vor, zum Schutz der Schiffe neben dem großen Begräbnishügel für die zahlreichen brandbestatteten Gefallenen eine Mauer zu bauen (VII.336 ff):

Einen Hügel schütten wir auf für alle gemeinsam
An der Stätte des Brands in der Ebene, bauen in Eile
Hohe Türme davor, den Schiffen zum Schutz und uns selber.
Und in ihnen machen wir Tore, die trefflich gefügt sind,
Daß durch diese ein Fahrweg sei für Rosse und Wagen.
Und einen tiefen Graben ziehen wir dicht davor außen,
Welcher Wagen und Kriegsvolk abhält, ringsherum laufend,
Daß uns nie in Bedrängnis bringen die mutigen Troer.

Ein Stück später wird dieser Plan in die Tat umgesetzt und hinsichtlich der Grabenausgestaltung noch durch die Ergänzung „spitzer Pfähle“ gegen Angreifer, die den Graben durchqueren wollen, konkretisiert (VII.435 ff):

Als der Morgen noch nicht erschien, nur dämmerndes Zwielicht,
Sammelte sich um den Brand die erlesene Schar der Achäer,
Warfen dann auf um die Stätte des Brands einen einzigen Hügel,
Aus der Ebene ragend, und bauten an ihm eine Mauer,
Hohe Türme davor, den Schiffen zum Schutz und sich selber.
Und in ihnen machten sie Tore, trefflich gefügte,
Daß durch diese ein Fahrweg sei für Rosse und Wagen.
Und einen tiefen Graben zogen sie dicht davor außen,
Breit und groß, und rammten hinein noch spitzige Pfähle.

Auch diese Aktivitäten werden im Götterhimmel registriert. Sofort beschwert sich der „Erderschütterer“ Poseidon beim Göttervater Zeus, dass die Achaier eine Mauer um die Schiffe erbaut hätten, ohne zuvor den Göttern „Hekatomben“ zu opfern. Deshalb verspricht ihm Zeus deren grandiose Zerstörung – allerdings erst nach vorangegangener Zerstörung Troias (VII.459 ff):

Auf denn, wenn die Achäer wieder im Schmucke des Haupthaars
Fort mit den Schiffen ziehn zum lieben Lande der Väter,
Reiße die Mauer ein und spüle sie ganz in die Salzflut,
Und bedecke dann wieder mit Sand das große Gestade,
Daß der Achäer große Mauer dann gänzlich verschwinde.«

Dies Versprechen wird im zwölften Buch wieder aufgegriffen und konkretisiert. Denn hier kündigt Homer die Vereinigung sämtlicher Ströme an, um dies Zerstörungswerk zu vollbringen – nur dass dies jetzt nicht mehr eine Aufforderung von Zeus, sondern eine Vereinbarung zwischen Poseidon und Apollon wird (XII.13 ff):

Aber nachdem von den Troern die besten alle gefallen,
Von den Argeiern viele bezwungen oder noch übrig
Und im zehnten Jahre zerstört des Priamos Feste
Und die Argeier zu Schiff ins eigene Vaterland zogen,
Damals beschlossen bei sich Poseidon und Phoibos Apollon,
Auszutilgen die Mauer, der Flüsse Gewalt heran führend,
Wie sie herab vom Ida-Gebirge ins Meer sich ergießen;

Rhesos, Rhódios und Heptáporos und auch Karésos,
Und Graníkos, Aisepos, der göttliche Strom des Skamandros
Und der Simóeis, wo viele Rindshautschilde und Helme
Sanken in Staub mitsamt dem Geschlecht halbgöttlicher Männer.
All deren Mündungen lenkte zusammen Phoibos Apollon;
Und neun Tage beströmt' er die Mauer; es regnete Zeus da
Unentwegt, um schneller ins Meer die Mauer zu schwemmen.
Und der Erdenerschüttrer selbst, in den Händen den Dreizack,
Ging voran und stieß von Grund auf heraus mit den Wogen
Alles an Stämmen und Steinen, was mühsam gefügt die Achäer.

An Hellespóntos' starker Strömung machte er's eben
Und bedeckte wieder mit Sand das weite Gestade;
Als er die Mauer vertilgt, da lenkte zurück er die Flüsse
In ihren Lauf, wo auch sonst sie ihr schönes Wasser ergossen.

Vorab eine Anmerkung am Rande: Die Nennung des Hellespóntos (der Dardanellen) darf getrost als formale Referenz Homers an den historischen Ort des Krieges gesehen werden, denn dessen „Strömung“ spielt für das hier beschriebene Vernichtungswerk der vereinigten Flüsse keine Rolle, weil sie im Meer außen vor verläuft.

Wir haben schon gesehen, wie nahe sich in Kilikien Xanthos/Skamandros und Simóeis kommen – egal ob man nun den Xanthos mit dem Kydnos oder dem Pyramos identifizieren will. Neben diesen beiden Strömen nennt Homer nun sechs weitere „Flüsse“, deren Wasser sich mit denen der beiden Hauptströme verbinden werden, um nach Zerstörung Troias auch die griechische Befestigung um die Schiffe zu zerstören: Rhesos, Rhódios, Heptáporos, Karésos, Graníkos und Aisepos.

Spätestens jetzt wird offenkundig, dass sich dies Geschehen nicht im Bereich der Troas darstellen lässt. Dort gibt es nicht einmal im Oberlauf der beiden einzigen Gewässer Skamandros und Dümrek weitere Zuläufe, die man noch hinzuzählen könnte.

Ganz anders in Kilikien. Die Abb. 1 kann ohne Probleme acht Flüsse hervorheben, die in Kydnos, Saros und Pyramos zusammenfließen (einer zum Kydnos, je zwei zum Saros und Pyramos). Für diese drei Ströme selbst, die historisch immer wieder irgendwo anders in der kilikischen Ebene mäandrierten (vgl. – vorausgreifend – Abb. 9), ist gut vorstellbar, dass sie bei Tarsus in ein einziges mächtiges Gewässer zusammenfließen könnten, das somit in den Oberläufen die von Homer genannte Anzahl von acht Gewässern bündeln würde:

Es ist einigermaßen müßig, die sechs weiteren Flüsse Rhesos, Rhódios, Heptáporos, Karésos, Graníkos und Aisepos bestimmten realen Gewässern in Kilikien zuordnen zu wollen. Raoul Schrott steigt zwar in eine solche Deutung ein (Homers Heimat 2008, S. 187 f), bleibt aber fragmentarisch und verliert sich in unrealistische geografischen Randlagen:

Zum Rhesos-Fluss fällt Schrott eine Stadt „Rhosos“ auf, die Strabo an der südlichen Küste des Golfs von Issos lokalisiert habe und durch die ein Gewässer vom Amanus-Gebirge herunter in den Golf fließt. Bei Xenophon findet Schrott die Erwähnung eines Flusses namens Karsos, ebenfalls an der Südküste des Golfs von Issos. Für beide Gewässer ist es aber topografisch unmöglich, sich um den Golf herum mit den kilikischen Strömen zu verbinden.

Die Flüsse Graníkos und Aisepos erörtert Schrott gar nicht – vielleicht, weil die historische Überlieferung so wenig passt. Sie lässt den Granikos östlich von Troia ins Marmarameer – historisch „Propontis“ – fließen (eine Verbindung mit dem Skamander in der Troia-Ebene scheidet aber weder der beide trennenden Wasserscheide aus).  Geoposition dieser Granikos-Mündung in die Propontis.

Diese Deutung geht vor allem auf die erste Schlacht zurück, die Alexander der Große auf kleinasiatischem Boden im Jahre 334 v.u.Z. „am Granikos“ gegen die Perser geführt hat.

Wer allerdings historisch den Homer’schen Flussnamen „Granikos“ jenem ins Marmarameer (Propontis) fließenden Gewässer zugeschrieben hat, wobei gleich noch die beiden weiteren Flüsse Heptaporos und Rhesos als Granikos-Zuläufe mit verbucht wurden (Abb. 2), bleibt unklar. Schon die Realencyklopädie vermerkt (ohne daraus aber Konsequenzen zu ziehen), dass Alexander selbst diesen Fluss noch ganz anders genannt habe!

Die besagten acht Flüsse (inklusive Skamander und Simóeis), die die Götter zur Vernichtung der Achaiischen Mauer zusammenfließen lassen wollten, wurden zuerst – wie zitiert – von Homer im XII. Gesang aufgezählt. Der ebenfalls in die Zeit von Homer zu datierende Historiker Hesiod hat die Homer‘schen Flüsse (mit Ausnahme des Karesos und ohne den Kontext der Homer‘sche Erzählung) sodann in seine Theogonie übernommen. Dort personifizieren sich alle genannten Flüsse einfach nur im Rahmen einer Genealogie als Kinder von Tethys und Okeanos, die wiederum von den Urgöttern Uranos (Himmel) und Gaia (Erde) abstammen (Zeilen 337 ff; die schon bei Homer genannten Flüsse sind nachfolgend unterstrichen):

Tethys gebar dem Okeanos wirbelnde Ströme: Nil, Alpheios und den tief strudelnden Eridanos, auch Strymon, Maiandros, Istros , den schönen Strom, [340] Phasis, Rhesos und den silbern wirbelnden Acheloos , auch Nessos, Rhodios, Haliakmon, Heptaporos , Grenikos, Aisepos und den herrlichen Simoeis , Peneios, Hermos und den schön fließenden Kaikos , den mächtigen Sangarios, Ladon und Parthenios , [345] Euenos, Ardeskos und den herrlichen Skamandros.

Der Herausgeber der Theogonie kommentiert diese Aufzählung so:

Der Dichter nennt aus der großen Zahl der Flüsse 25, mit Absicht halb so viele wie Nereiden. Er will ein geographisches Bild der Welt geben und unternimmt hier das erste Mal eine Erdteilung nach der Vorstellung, dass Europa im Westen und Norden, Asien im Osten und Süden an den Okeanos grenzen. Dabei nennt Hesiod nur die fernen Flüsse und lässt die nächstliegenden als bekannt fort.

Eine wirkliche Lokalisierung erfolgt hier also nicht, gerade in der Theogonie sind die als Götter personifizierten Flüsse vor allem Teil einer dem Realen entrückten Mythologie.

Und was sagen die Kommentatoren und Homer-Experten zu dieser Szenerie? Der von Kirk herausgegebene englische Ilias-Großkommentar vermerkt i.W. die Offenkundigkeit, dass die meisten der von Homer aufgezählten Flüsse nicht durch die Troianische Ebene fließen, gibt sich aber keinen darüber hinausgehenden Lokalisierungsbemühungen hin. Der noch umfassender angelegte, von Joachim Latacz herausgegebene Basler Ilias Kommentar ist (Stand Ende 2014) noch immer nicht bis zum XII. Gesang/Buch vorgedrungen und umschifft so das Problem gänzlich.

Wir werden es nicht mehr herausfinden, welche Flüsse der Dichter, den wir Homer nennen, in seiner Aufzählung gemeint hat. Die in obiger Abb. 1 hervorgehobenen acht Flüsse Kilikiens passen jedenfalls sehr gut als Anschauung, auf deren Hintergrund ein Homer seine Flutorgie im zwölften Gesang entworfen haben könnte.

 

Inhaltlich schließt sich an diese Seite der Artikel Ein möglicher Ort des achaiischen Schiffslagers an.