Exkursionsberichte aus Griechenland 2019
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Die im Bericht angesprochenen Literaturnachweise sind einer PDF-Datei angehängt, in der alle Berichte zur Exkursion 2019 in einer druckfähigen Version zusammengestellt werden: Exkursionsberichte Griechenland 2019-I (16 MB).
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Wiedergefunden: Das antike Tanagra
Vom historisch so bedeutenden, von Homer als „siebentorig“ beschriebenen Theben weiß man heute immerhin noch wo es lag, wenngleich die alten Strukturen durch vielfältige Zerstörung und Überbauung kaum noch wahrzunehmen sind. Die Örtlichkeit eines weiteren bedeutenden antiken Orts mit dem wohlklingenden Namen Tanagra ist hingegen so gut wie vergessen. Auf diesen Ort verweisen zwar noch die außerordentlichen Kleinsärge (Larnakes) im Theben-Museum („From the Mycenaean cemetery of Tanagra, 13th cent. BC“); der Ortsname ist ferner mit den fein gestalteten und bis in jüngsten Antikenhandel heiß begehrten Frauenfiguren der klassischen Antike verbunden („Tanagra-Figuren”); auch war er mehrfach Austragungsort von bedeutenden Schlachten – etwa im Peloponnesischen Krieg zwischen Athen und Sparta. Doch in all diesen Erwähnungen fehlen präzise Angaben, wo genau die antike Stadt zu suchen sei (zur Lage und Bedeutung von Tanagra sowie seinem kulturellen Vermächtnis vgl. „Die Särge von Tanagra“ auf homersheimat.de).
Literaturrecherchen bei Autoren wie Duane W. Roller, die sich bis in die 1980-er Jahre mit diesem Ort befasst hatten, führten schließlich auf die richtige Spur: Das antike Tanagra ist nicht mit dem heutigen Ort ca. 20 km östlich von Theben identisch. Es lag ca. 5 weitere Kilometer östlich am Ende des Höhenzugs, an dessen nördlicher Flanke schon Theben angesiedelt wurde (Abb. 1). Dort hatte die auf dem steil abfallenden Hang nach Nordosten hin angelegte ummauerte Stadt ihren Ausblick auf ihre Ebene, aus der sie sich landwirtschaftlich versorgte (Abb. 4). In der Ferne erhebt sich majestätisch das noch im Sommer schneebedeckte Massiv des Dirtys auf Euböa – mit 1743 m NN neben den Bergen Kretas der höchste Gipfel auf einer Insel im ägäischen Meer.
Wir näherten uns dem historischen Tanagra von Osten, d.h. wir verließen die Autobahn bei Oinoi (vgl. Abb. 2), ließen den Bus kurz vor der Brücke über den Asopos-Fluss zurück und marschierten auf dem betonierten Feldweg schnurstracks den Hang hinauf.
Auf der Kuppe (Ansicht von Osten in Abb. 1) wo einst die Akropolis bzw. ein Dionysos-Tempel aufragte, machen sich heute technische Bauten breit. Hier endet ein rätselhafter Kanal, der an der Nordflanke des Mount Tanagra entlangführt, und wahrscheinlich alle Wasserzuläufe von diesem Höhenrücken abfängt. In historischer Zeit erreichten diese Gewässer den Lari Bach, der unmittelbar vor der antiken Stadt in den Asopos-Fluss einmündete. Der moderne Kanal hingegen endet abrupt in jenem Bauwerk auf der ehemaligen Akropoliskuppe, das entgegen anderen Vermutungen kein Pumpwerk, sondern ein Rechenwerk ist, wie man es in Kläranlagen als Vorreinigungsstufe kennt. Offenbar hat dieser Rechen die Aufgabe, eingeschwemmtes vegetabiles Gut oder auch Abfall aus dem kanalisierten Wasser zurückzuhalten, ehe dies in zwei mächtigen Rohren den östlichen Steilhang hinunterfließt. Diese Rohre sind ab Rechenwerk parallel zu unserem Anstiegsweg in der Erde vergraben. Unten am Asopos tauchen sie wieder auf, wo sie im dichten Bewuchs den Fluss queren. Dann ist ihre Spur über 11 schnurgerade Kilometer weiter nach Südosten zu verfolgen, wo sie schließlich kurz vor Aulona in einem Wasserbecken enden. Dies Becken gehört zu einem riesigen militärischen Sperrgebiet mit einem Panzer-Ausbildungszentrum (Κεντρο Εκπαιδευσης Τεθωρακισμενων Αυλωνας).
Abb. 2: Das antike Tanagra im Winkel des historischen Zusammenflusses von Lari und Asopos vor dem östlichen Ende des thebanischen Höhenzuges (Mount Tanagra), heute v.a. gestört durch einen Kanal mit technischen Bauten, die ausgerechnet am höchsten und bedeutendsten Punkt der antiken Stadt (Akropolis) deren Strukturen zerstört haben. Im gegenüberliegenden Winkel von Lari und Asopos lag eine bedeutende Tanagra-Nekropole auf dem Kokkali-Hügel.
Die wasserbauliche Anlage mit Doppelkanal, Rechenwerk und Verrohrung ist mindestens 40 Jahre alt, denn in Rollers Plandarstellung von Tanagra ist sie bereits detailliert erfasst (Roller 1974), während in Roller 1989 nur vage ein „Aqueduct“ in den dortigen Höhenplan punktiert wurde.
Der Aushub für den aus zwei parallelen Gerinnen bestehenden neuzeitlichen Kanal wurde als Flügeldamm zur Anlage eines Revisionsweges aufgeschüttet. Im Bereich der antiken Akropolis hatten all diese baulichen Eingriffe natürlich erhebliche Schäden an den antiken Strukturen zur Folge. Glücklicherweise schrammt der östliche betonierte Zuweg parallel zu den vergrabenen Rohren nur knapp an einem Turmrest vorbei, der noch besonders markant an die antike Stadt erinnert (Abb. 3).
Vom Theater der Stadt ist nur noch die halbrunde Ausbuchtung im Hang gut zu erkennen, die Steine sind hingegen allesamt abgeräumt. Dies gilt nur eingeschränkt für den Mauerzug rund um die antike Stadt, wenngleich die Materialreste der Quadermauern und ihrer Türme weitgehend verstürzt sind. Auch im Gelände findet man allerlei bauliche Reste.
Neben den archäologischen Relikten hatte sich Duane W. Rolle in seinen Voruntersuchungen noch mit einem anderen Thema befasst, das bei einem Naturwissenschaftlichen Verein starkes Interesse wecken musste. Er schrieb 1989:
Weizenfelder umgeben Grimàdha [= Tanagra], obwohl die Anbaufläche aufgrund der fortschreitenden Industrialisierung jährlich abnimmt. Die Stätte selbst wurde als archäologische Zone erhalten. Aufgrund der zahlreichen Mauerfragmente war Kultivierung innerhalb der Mauern nie bedeutend, so dass die Ruinen sowohl vor der Landwirtschaft als auch vor der Industrie geschützt blieben und zu einer eigenständigen biologischen Einheit geworden sind. Hüfthohes Wildkraut bedeckt das Gelände, und im Frühjahr erscheint eine ungewöhnliche Flora. Besonders reich ist das entomologische Leben, mit unzähligen Arten von Spinnen, die jede Ecke bedecken. Andere kleinere Tierarten, insbesondere Heuschrecken, Skorpione und Schlangen, sind ebenfalls verbreitet. Der Standort würde von einer botanischen und zoologischen Studie profitieren (Roller 1989, S. 138).
Diese Einschätzung eines botanischen und faunistischen Eldorados ließ sich 30 Jahre später, also bei unserem Besuch im Jahre 2019, ganz und gar nicht mehr verifizieren. Das aufgelassene Gelände war offenbar beliebtes Beweidungsziel der unmittelbar unterhalb untergebrachten Ziegenherde. Als Anzeiger starker Überweidung ist die vollständige Überwucherung des Geländes mit dem von Ziegen verschmähten Affodill (Asphodelus ramosus) anzusehen. Während Ziegen alles andere abfressen, lassen sie Affodill wegen der im Zellsaft eingelagerten Raphidenbündel (feine lange Kristallnadeln aus Calciumoxalat) stehen. Der Affodill-Bewuchs ist inzwischen so dicht, dass seine satten Blattmassen beim schmatzenden Durchschreiten auch akustisch dominierten. Ebenso rührt die auffällig dunkle olivbraune Einfärbung des Geländes im Satellitenbild von dieser Pflanze her (auch in Abb. 4 zu sehen). Wir erlebten somit just an dieser Stelle eines der ärmsten Biotope, während an allen anderen von Bewirtschaftung aufgelassenen Arealen nach einem feuchten Frühling eine unglaubliche Blütenpracht und -vielfalt zu beobachten war. Auch faunistisch gab es im botanisch artenarmen ehemaligen Stadtgebiet nichts mehr zu vermelden; Schlangenphobien hatten keine Chance.
Stattdessen eröffnete sich unverhofft am Fuß des Tanagra-Hügels eine Entdeckung (Lage in Abb. 1 vorne): Hier verwiesen vereinzelte Getreidehalme auf einen Getreideacker des vergangenen Jahres, der offenbar so extensiv bewirtschaftet worden war, dass sich eine große Zahl von Ackerwildkräutern ansiedeln konnte. Eine solch artenreiche Ackerflur ist auf den intensiv bewirtschafteten und bespritzten landwirtschaftlichen Flächen in Deutschland so gut wie nicht mehr existent (seltene Ausnahme: die biologisch bewirtschafteten Linsenäcker auf der Schwäbischen Alb – vgl. Bericht zur NVD-Exkursion 2017 als PDF-Datei auf homersheimat.de).
Michael Siebert, Juli 2019
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