Exkursionsberichte aus Griechenland 2019
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Die im Bericht angesprochenen Literaturnachweise sind einer PDF-Datei angehängt, in der alle Berichte zur Exkursion 2019 in einer druckfähigen Version zusammengestellt werden: Exkursionsberichte Griechenland 2019-I (16 MB).

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Tiryns – Die zyklopische Festung am Meer

Die aus meiner Sicht aufregendste mykenische Burg ist nicht das namensgebende Mykene, sondern die Festung Tiryns nahe der Küste, die dort auf einem nur wenige Meter aus dem Schwemmland aufragenden langgestreckten Felsrücken entstanden ist. Abb. 1 zeigt ihre Baustadien, die sich über fast die gesamte Bronzezeit – und darüber hinaus – erstrecken:

Bauphasen von Tiryns - EH bis LH

Abb. 1: Bauphasen der Festung von Tiryns seit dem Frühhelladikum bis in nachmykenische Zeit (nach: Tiryns 2001 – Ausrichtung der Stadien-Abbildungen hier vereinheitlicht und auf gleichen Maßstab gebracht). Die Darstellung geht auf den Tiryns-Ausgräber Klaus Kilian (1939-1992) zurück. Die nur mit einer dünnen Linie angedeutete große äußere Rampe zum Osttor in den beiden letzten Baustadien markiert – anders als die dünnen Orientierungslinien in den ersten drei Stadien – ebenfalls ein massives Zyklopenmauerwerk.

 

Die Nutzung des Felsrückens begann in der frühen Bronzezeit (Early Helladic) mit einem kolossalen Rundbau von an die 28 m Durchmesser. Seine Nutzung ist unbekannt. Er zeichnet sich durch seine kleinteilige Architektur aus mehreren Maurenringen mit strahlenförmiger Unterkammerung aus. Im Museum von Nafplio sind Rekonstruktionsüberlegungen ausgestellt. Da dieser geheimnisvolle Bau in mykenischer Zeit (Late Helladic / LH III) durch den zentralen Palastraum eines Megaron überbaut wurde (das es heute vor allem zu präsentieren gilt), liegt nur ein Viertelsegment der alten Rundbau-Grundmauern neben dem Megaron offen. Ohne Kenntnis ihrer Relevanz werden die Bruchsteinfragmente von Besuchern leicht übersehen, die sich gegebenenfalls noch über die ‚störende‘ rezente Abmauerung des Gründungsniveaus der mykenischen Überbauung wundern (Abb. 2).

Das besagte Megaron entstand auf dem höchsten Punkt des Felsrückens und beherrschte die nach Süden hin sukzessive ausgebaute Oberburg. Seine Anfänge werden auf ca. 1400 datiert und fallen somit in eine Zeit, als sich die ‚mykenischen‘ Festlandgriechen aus der zuvor Jahrhunderte währenden Dominanz durch das ‚minoische‘ Kreta gelöst und ihre Hegemonie auf Kreta, die Ägäis und Stützpunkte an der kleinasiatischen Küste ausgebaut hatten. Diese von der Eroberung Kretas markierte Wende wird auf ca. 1450 datiert. Nun entstand also in einem souveränen Herrschaftsbereich, den die Hethiter Achijawa genannt haben (was an Homers Achaier erinnert), in der Küstenfestung Tiryns ein selbstbewusster Herrschersitz.

Um dessen topografische Position besser zu verstehen ist ein paläogeografischer Blick auf die damaligen Küstenlinien nützlich (Abb. 3). Als die frühbronzezeitlichen Argolis-Bewohner ihren großen Rundbau auf dem Tiryns-Felsen errichteten, lag dieser noch unmittelbar an der Küste. Der Felssockel von Tiryns vor der Kulisse des Großen Eliasberges wurde also mit direktem Blick aufs Meer von einer ganz besonderen architektonischen Landmarke überhöht. Unmittelbar angrenzend ergoss sich ein Bach ins Meer, dessen Spur durch die Ausbuchtung eines Mündungsdeltas in der historischen Küstenlinie angedeutet ist. Er bot die nötige Wasserversorgung für eine benachbarte Siedlung um die Burg. Ungefähr zur gleichen Zeit entstand auf der gegenüberliegenden Seite des argolischen Golfs ein ähnlich großes palastartiges Gebäude innerhalb einer Festungsanlage, die die reichen Karstquellen von Lerna beschützte (vgl. dazu „Der frühbronzezeitliche Palast von Lerna“ auf homersheimat.de – PDF-Datei). Beide archäologischen Spuren deuten auf eine Hochkultur vor Erstreckung der kretischen (‚minoischen‘) Herrschaft auf das griechische Festland hin.

Das Megaron als Zentrum spätmykenischer Paläste hat sein Vorbild nicht in Kreta (das ansonsten die mykenische Kultur tief geprägt hat), sondern eher in Troia, wo es bereits ab Troia II (ca. 2600-2490) als Zentrum der Burg nachgewiesen ist. Die selbstbewussten Tiryns-Herrscher griffen also eine Bauform auf, die bereits in der vorminoischen frühen Bronzezeit ihren Weg nach Griechenland gefunden hatte (Adaptionen in Lerna sowie auf Aigina – vgl. dazu: „Aigina – ein Troia im saronischen Golf“ auf homersheimat.de – PDF-Datei). Mit Troia teilt das mykenische Megaron die Antenform (Vorraum zwischen vorspringenden Seitenwänden). Es unterscheidet sich jedoch vom kleinasiatischen durch seine Säulenquadriga, die im Zentrum des Raums eine kreisrunde ausladende flache Feuerstelle einschloss. Wie auch im Megaron von Pylos nachgewiesen, war der Herrscherthron im Megaron von Tiryns nicht axial an der Rückwand des Raums, sondern seitlich angeordnet. Das Podest dieses Throns ist heute im Archäologischen Nationalmuseum Athen ausgestellt.

Der Boden des Megaron war mit kachelförmig bemaltem Putz überzogen, auf dem drei Motive gesichert werden konnten: ein Paar springender Delphine, ein Oktopus und ein schwer deutbares geometrisches Motiv mit Wellenmuster (Abb. 4). Der nicht nur örtliche, sondern auch gestalterische Meeresbezug ist also unverkennbar, wenngleich die Küstenlinie sich inzwischen (auf Grund fortschreitender Verlandung der Argolis-Ebene) ein paar Hundert Meter weit zurückgezogen hatte (vgl. noch einmal die Karte in Abb. 3). Die Bodenbemalung zeugt von einem dem Meer zugewandten Herrschaftssystem, das nicht nur die Ägäis erobern konnte, sondern sogar bis nach Ägypten vorstieß – vermutlich als eins der „Seevölker“, denen erst die ägyptischen Pharaonen einige Zeit später ihre Grenzen aufzeigten.

Abb. 4: Rechts eine Rekonstruktionszeichnung des Tiryns-Megaron mit zwei Vorräumen zwischen den Anten und kachelartiger Bemalung des Thronraum-Bodens um die zentrale, säulenumstandene Feuerstelle herum, seitlich (hier oben) der Thronsockel. Links Umzeichnungen der drei sich wiederholenden Motive in der Bodenbemalung. Die originale Sicherung einer ‚Kachel‘ mit Delphinen nebst obiger Zeichnung ist im Museum von Nafplio ausgestellt, die beiden anderen Motive hatte das Museum aus seinem Depot der Mykene-Ausstellung in Karlsruhe zur Verfügung gestellt (Mykene 2018, nur das geometrische Motiv findet sich im Katalog unter Nr. 163).

 

Auch in der umgekehrten ägyptischen Perspektive findet die Region um Tiryns ihren Wiederhall: Eine Ortsnamensliste im Totentempel von Pharao Amenophis III (Regentschaft nach Hornung 1978 entweder 1402-1364 oder 1391-1353 vC) nennt das „Fremdland“ nu-pi-ra-ju (silbige Hieroglyphenumschrift). Angesichts seiner Einbettung in den Kontext von weiteren ägäischen Ortsnamen hat man dies mit mykenisch „na-u-pi-ri-jo“, griechisch Ναυπλια, also dem heutigen Nafplio identifiziert (Edel/Görg 2005, S. 181/Nr. 7).
Die spätbronzezeitliche Küstenlinie reichte damals noch unmittelbar an den vorkragenden Itsch-Kale-Felsrücken von Nafplio heran (vgl. erneut die Karte in Abb. 3), auf dem sehr viel später Byzantiner, Kreuzfahrer und Venezianer ihre Burgen errichtet haben. Im Schutz dieses Felsrückens ist auch in der Frühgeschichte der Naturhafen von Nafplio vorstellbar, dessen sich die Herrscher von Tiryns bedient haben dürften.

Da die Amenophis-Inschrift ansonsten andere bedeutende Zentren im Ägäis-Raum nennt, dürfte die Nennung von Nauplia ebenfalls auf ein solches Herrschaftszentrum abheben, wofür als Herrschersitz vor allem Tiryns (aber auch Argos) in Frage kommt (Visser 1997, Fußnoten 18 f auf S. 223 f). Und da die Amenophis-Inschrift ferner das nahe Mykene aufführt (Abb. 5), spiegelt sie zugleich jene merkwürdige Zweiteilung der Argolis, die später in Homers Beschreibung Griechenlands – dem „Schiffskatalog“ im 2. Buch der Ilias – erneut ein gewisses Befremden auslöste. Denn Homer hat den Südteil der argolischen Ebene (mitsamt Tiryns) dem Herrschaftszentrum im benachbarten Argos zugeschlagen, während er den Herrschaftsbereich von Mykene am Nordrand der argolischen Ebene nach Norden hin bis Korinth und Achaia an der Küste des Golfs von Korinth erstreckte. Das würde nahelegen, den Hafen von Mykene bei Korinth zu suchen, während die südliche Argolis in Nafplio ihre maritime Basis hatte (mehr dazu im Bericht zu Korinth – Bericht 3 zum 17./18. April  – sowie in „Griechische Mythologie“ auf homersheimat.de, Abschnitte 3 bis 5 – PDF-Datei).

In spätmykenischer Zeit, also wenige Jahrzehnte vor dem Zusammenbruch der mykenischen Herrschaftssysteme um 1200, wurde die Burg von Tiryns gewaltig ausgebaut. Die Vorbesiedlung nördlich der Burg bekam eine zyklopische Ummauerung, die eine Vielzahl von Siedlern außerhalb des Burggeländes im Bedrohungsfall aufnehmen konnte. Der Zugang zu zwei dortigen Wasseradern im Untergrund wurde über zwei ummauerte Gänge in die Befestigung einbezogen, so dass auch im Belagerungsfall die Wasserversorgung gesichert war. Die Bastion der Mittelburg wurde verstärkt und die Oberburgmauer erhielt meerseitig eine Doppelung, die den Abgang zu einem Ausfalltor zu sichern hatte (gekrümmte Mauer in Bauphase 4, Abb. 1, s.a. Abb. 6).

Der Zusammenbruch mit Brandzerstörung kam – ggf. befördert durch Erdbeben – dennoch. Die nachfolgende Zeit hat die Geschichtswissenschaft bislang unisono als „Dunkle Jahrhunderte“ des kulturellen Niedergangs eingeordnet. Dem widerspricht nun Joseph Maran, Leiter der laufenden Tiryns-Ausgrabungen, entschieden (Mykene 2018, S. 234 ff). Seine Grabungen offenbarten intensive nachmykenische Siedlungstätigkeit in einer Unterstadt nördlich der Burg, die selbst durch Brand zerstört worden war. Die Palastbauten wurden hingegen nicht erneuert, was auf einen Wechsel in den Herrschaftsstrukturen hinweist. Stattdessen wurde das Megaron in verschmälerter Form (vgl. die schwarze Einzeichnung inmitten der grauen, d.h. zerstörten Strukturen im Stadium 5 der Abb. 1) wieder aufgebaut. Auch der südliche Vorhof und sein dortiger Altar (kleines schwarzes Quadrat in Abb. 1, letzte Bauphase) wurden erneuert. Diese neue Anlage inmitten der noch immer intakten Ummauerung diente nun vor allem kultischen Nutzungen – wie vielleicht schon der Rundbau gut 1000 Jahre zuvor. Ein Modell im Museum von Nafplio verdeutlicht diese Situation aus nachmykenischer Zeit (Abb. 6).

Abb. 6: Das neue, kleinere Megaron von Tiryns (weißer Bau) im Zentrum der zerstörten Palastbauten der Oberburg am Standort des Vorgängerbaus sowie am restaurierten Vorplatz mit Altar inmitten der zyklopischen Ummauerung (nachmykenische Zeit, Modell im Museum von Nafplio). Unten die runde spätmykenische Zyklopenmauer zum Schutz der Treppe ans Ausfalltor.

 

Die ‚mykenische‘ Burg von Tiryns ist bereits durch ihr Megaron als Palaststandort prädestiniert, zu schweigen von den zyklopischen Mauern, deren mehrere Tonnen schwere Blöcke selbst jene von Mykene an Masse übertreffen. Ferner wurden hier Linear B-Tafeln wie Wandmalereien gefunden, die ebenfalls typische Prädikate eines solchen Palastes waren. Einige dieser Wandmalereien sind in Athen ausgestellt (Abb. 7).

Es gibt nur ein Defizit in den Palastcharakteristika an diesem Ort: die fehlenden Nekropolen. Im Umfeld der Burg wurden lediglich zwei Tholos-Gräber mit Dromos ca. 1 km entfernt am Fuß des Großen Eliasberges gefunden (vgl. Eintrag in der Karte von Abb. 3). Eine Schachtgräber-Nekropole am Osthang dieses Berges liegt nicht wirklich im räumlichen Kontext der Burg. Die dortigen Gräber wurden – wie auch die Tholos-Gräber – bereits Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt. Offenbar sind die Schachtgräber schon in der Antike ausgeraubt worden. Wenige Funde deuteten auf eine Weiternutzung in nachmykenischer Zeit hin. Doch zu besichtigen ist hier nichts mehr, weil die Anlagen zugeschüttet und mit einer Agrumenplantage überpflanzt wurden (Tiryns 2001, S. 71).

Auch in Tiryns selbst rücken die Agrumenplantagen bis unmittelbar an die Burg heran und überdecken all die historischen Siedlungsflächen, an denen Joseph Maran gerne arbeiten würde. Es gibt offenbar niemanden in der griechischen Administration, der dieser Plage einer wasservergeudenden landwirtschaftlichen Monokultur zugunsten einer reichen historischen Kultur Grenzen setzen würde.

1915 wurde in einem herrschaftlichen Gebäude der südöstlichen Unterstadt, die ebenfalls längst wieder von einer Agrumenplantage überzogen ist, der sogenannte „Tiryns Schatz“ gefunden. Es könnte sein, dass die Schmuckobjekte meist rituellen Charakters, die heute z.T. in Athen ausgestellt sind, aus den antiken Raubgräbereien der erwähnten Nekropole östlich des Eliasberges stammen (Tiryns 2001, S. 71) und dann in die Hände reicher Tiryns-Bewohner geraten sind. Darunter befand sich der größte jemals im Ägäisraum der späten Bronzezeit gefundene Siegelring aus Gold (Abb. 8). Die 3,5 x 5,7 cm große elliptische Siegelplatte zeigt links eine Figur auf einem Thron, die einen Kelch emporhebt. Ihr kranzartiger Kopfschmuck, den man auch von Tonfiguren her kennt und das wallende Haar sprechen für eine Frau. Sei sie nun Göttin oder Königin – diese Figur steht jedenfalls nicht für die spätere patriarchalisch geprägte Epoche mykenischer Kriegerkönige. Der sitzenden Frau nähern sich von rechts vier löwenköpfige und löwenfüßige „Dämonen“, die bauchige Krüge mit schlankem Hals in den ausgestreckten Händen vor sich her tragen. Dies Objekt einer Opfer- oder Huldigungsszene zeugt ebenso von der Pracht wie von den mythischen Geheimnissen der frühmykenischen Zeit (Siegel-Corpus I, Nr. 179 / S. 230 f). Die Dokumentationsquelle enthält sich einer Datierung, wohl weil der Fundkontext nahe Tiryns nicht mehr der originale war.

Michael Siebert, Juli 2019

 

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