Eine etwas erweiterte Druckversion dieser Seite bzw. der hier wiedergegebenen Rede im PDF-Format (3,7 MB) findet sich hier: Festrede zum IGAB-Jubiläum.
30 Jahre IGAB
Die „Interessengemeinschaft Arheilger Bürger (IGAB)“ feierte am 09./10. Juni 2017 ein Jubiläum, das eine Bürgerinitiative nur selten erreicht: 30 Jahre unermüdliche Aktivität zur Gestaltung ihres Lebensortes im Norden Darmstadts. Ich habe diese Arbeit fast ebensolang begleitet und durfte die Jubiläumsrede halten; sie blickt zurück und nach vorn:
Festrede
Liebe Festgemeinde,
wenn es ein Menetekel gibt, unter dessen Zeichen wir uns die Darmstädter Stadtentwicklung der nächsten Jahre vorzustellen haben, dann ist es die „Offensive“ der 10.000. So militärisch, wie es klingt, bewegt sich das Projekt in der Dimension einer Division, in historischer Zeit wären das zwei römische Legionen gewesen. Hier aber geht es um die Anzahl Wohnungen, die innerhalb von fünf Jahren in Darmstadt gebaut werden sollen.
Andreas Gursky, Großfoto von 1993 mit einem Abschnitt aus dem Rahmenbau um den Gare de Montparnasse in Paris. Wir sehen 17 Geschosse (ohne Basis) mit 65 Fensterachsen. Hätte jede Wohnung nur die Breite eines Fensters, so wären das 1105 Miniwohnungen, somit nur gut ein Zehntel dessen, was die Darmstädter „Offensive“ bringen soll. Diese Wohnmaschine zeigt – auch dank Gursky – immerhin noch eine ästhetische und außergewöhnlichen Konzeption, zumindest nach außen.
Warum eigentlich eine solch runde Zahl, warum nicht zum Beispiel 8.370 Wohnungen? Es ist ganz einfach, wie beim Militär: Vorne steht die Eins, die bestimmt, wo’s langgeht. Und dann folgen 4 Nullen, die für die Qualität des Projektes stehen. Denn wo die Quantität so in den Vordergrund gerückt wird, verliert urbane Qualität an Wert. Offenbar dringt die Erkenntnis nicht bis zur 1 vor, welche gesichtslose Uniformität Investorenarchitektur landauf landab produziert, wenn der in den Verdichtungsräumen grassierende Wohnungsbau vorrangig unter Mengenvorgaben abgewickelt wird.
Das Problem mit einer solchen „Offensive“ der 10.000 ist, dass man nie genau weiß, wo sie als nächstes zuschlägt. Da wird plötzlich einem Aldi-Markt in Zentrum Arheilgens das Feld bestellt, weil ein Investor die nicht sonderlich überwältigende Findigkeit entwickelt hat, dies Projekt mit ein paar Wohneinheiten zu garnieren. Und schon ist die 1 zufrieden und wickelt den Deal im Stillen ab.
Da hatten wir es vor 25 Jahren in gewisser Weise übersichtlicher: Es gab einen städtischen Bezirksplaner für Arheilgen, der – zum Leidwesen manchen Arheilgers – sich die Gestaltung des Stadtteils im Großen wie im Kleinen zur Lebensaufgabe gemacht hatte. Der tüftelte auch seit Jahren an einem Bebauungsplan für eine große Stadtteil-Erweiterung. Er war zudem ein selbstbewusster städtischer Angestellter, der mir – soweit sei vorgegriffen – in einem deutlichen Diskussionspapier entschieden entgegentrat, als ich zusammen mit der IGAB als frisch ins Amt eingeführter Planungsdezernent eine damals festgefahrene Situation zu lösen suchte. Eine solche streitbare Planungskultur sogar innerhalb der Verwaltung sucht man heute eher vergebens.
Wir waren es damals gewohnt, die Stadtentwicklung nicht nach Wohnungslegionen, nicht nach überraschenden Aldi-Standorten und nicht nach Investorenvorhaben zu denken, die aus der Deckung intimer Marktkenntnisse und guter Beziehungen hervorbrechen. Wir dachten in den Konzepten von Bebauungsplänen. Bei jener bereits angesprochenen Wohnquartiers-Erweiterung Arheilgens handelte es sich um den A 24. Er sollte die freien Flächen im Südwesten bis zur Bahn hin füllen (heute heißt das Quartier „Blütenviertel“).
Problem war nur, dass von der anderen Seite, d.h. von Süden her, ebenfalls eine Flächenerweiterung betrieben wurde, die unter der Kennung A 23 lief und die Firma Merck betraf. An der Frontlinie der aufeinander zudrängenden Wohn- und Gewerbeexpansion sollte eine Straße gezogen werden, die die beiden zukünftig hart aufeinander treffenden Gebiete nur wenig trennt: die Virchowstraße.
Das Ganze wurde aber blockiert, weil sich in Arheilgen eine rege, gut qualifizierte und auch ökonomisch nicht mittellose Bürgerinitiative gebildet hatte, die die auf der Hand liegende Erkenntnis aussprach: So geht das nicht. Diese IGAB hatte zudem quer zur Trasse der geplanten Virchowstraße ein schmales Sperrgrundstück erwerben könnten, das zusätzlich einen wirksamen Hebel darstellte, um die fatale Entwicklung aufzuhalten.
Wie konnte es dazu kommen?
Im nächsten Jahr wird die Firma Merck ihr 350. Jubiläum feiern. Ihre Firmenentwicklung begann 1668 mit der Engel-Apotheke im Zentrum eines damals noch beschaulichen Örtchens rund um ein großherzogliches Schloss in einer Aufbauphase nach den großen Verwüstungen des dreißigjährigen Krieges. Im 19. Jahrhundert wurde aus der Apotheke eine Fabrik, die sich auf einem damals noch weiträumig freien Gelände im Osten der Altstadt ansiedelte.
Gemälde aus dem 19. Jahrhhundert von Mercks alter Fabrik östlich der Darmstädter Kernstadt. Die Straßengabel unten links wird von Lindenhofstraße und Mühlstraße gebildet, links daneben das spätere Jugendstilbad-Grundstück.
Dieser Standort lebt heute nur noch im Namen „Mercksplatz“ fort, überlagert von der Nutzungserinnerung „Alter Messplatz“. Vor Ort gibt es keine Hinweise mehr auf die dortige Firmengeschichte. Nicht einmal das Merck-Buch zum 300. Firmenjubiläum im Jahre 1968 konnte (oder wollte) genauer darlegen, wo genau damals diese Fabrik produzierte.
Lokalisierung der alten Merck’schen Fabrik im Planvergleich 1874/2017 (blau umrissende Grundstücke). Der „Mercksplatz“ ist nur ein kleinerer Teil des damaligen Betriebsgeländes.
Jedenfalls gab es dort bald eine Situation, deren Wiedergänger vor 25 Jahren ich bereits angedeutet hatte: Die Stadt wuchs ebenso wie die chemische Fabrik, beider Expansion stieß aufeinander, beide konnten am damaligen Standort nicht mehr koexistieren.
Der Chemiefirma gelang dann ein großer Coup: Man erwarb ein für damalige Verhältnisse riesiges Gelände von einem 3/4 Quadratkilometer nördlich der Stadt – damals frei zwischen Darmstadt und seinem nördlichen Nachbardorf Arheilgen gelegen (Arheilgen wurde erst 1937 in der Nazizeit zwangseingemeindet). Der Standort war auch insofern klug gewählt, als er nicht nur an die Nord-Süd-Magistrale der Frankfurter Straße anschloss, sondern sich zudem in das beispielhafte großherzogliche Eisenbahnsystem Darmstadts einfügte und so eine leistungsfähige Infrastruktur erreichte.
Selbst ein 2/3-Jahrhundert später, zum 300-jährigen Firmenjubiläum, war diese Fläche nicht ausgeschöpft.
Luftbild aus dem Merck’schen Jubiläumsband 1967, unten rechts die chemische Fabrik Firma Schmidt & Ziegler, auf die noch einzugehen ist.
Ein Luftbild aus dem Jubiläumsbuch zeigt noch Flächenpotentiale, auch eine rege Bautätigkeit, aber noch immer die Dominanz der alten gründerzeitlichen Fabrikgebäude, deren baulicher Ersatz das letzte Drittel des vergangenen Jahrhunderts prägen sollte.
Obwohl Merck – abgesehen von seiner globalen Expansion – zwischenzeitlich im hiesigen Raum ein Zweigwerk in Gernsheim errichtet hatte, verstärkte sich am Stammsitz dann aber doch der Drang in neue Flächen. Im Süden und Westen von jenen Bahnlinien umgeben, im Osten von der Frankfurter Straße begrenzt, schien es nur eine Entwicklungsrichtung zu geben: gen Norden, auf Arheilgen zu. Die Stadt Darmstadt umriss devot ein dortiges Erweiterungsgebiet mit dem Bebauungsplan A 23 und versuchte darin, für Merck Planungsrecht zu schaffen.
Neben der IGAB, die sich diesem Konflikt mit Merck stellte, interessierten sich auch die damaligen Grünen für das Thema. Wir hatten seinerzeit einen sehr regen und kompetenten Bau- und Planungsarbeitskreis, der sich gründliche Gedanken machte. Ins Szenario rückten wir noch ein weiteres Problem: Die damals rund um Darmstadt geplanten sogenannten Umgehungsstraßen, die von den damaligen Grünen abgelehnt wurden. Lediglich für Arheilgen hielten wir eine kurze Umgehung für sinnvoll, die nördlich des Stadtteils über die Bahn hinweg auf deren westliche Seite wechseln und dann nördlich von Merck wieder auf die Frankfurter Straße zurückfädeln sollte. Mit Arheilger Bürgerunwillen waren wir uns einig, dass es im Zuge der Weiterstädter Straße keine Bahnquerung geben solle, weil diese zu viel Ost-West-Durchgangsverkehr in den Ort gezogen hätte.
1993 fuhren die Grünen auf der Grundlage solcher Vorarbeit einen großen Wahlerfolg von über einem Viertel der abgegebenen Stimmen ein und vereinbarten mit der SPD eine Koalition. In dieser Koalition sollte ich als Planungsdezernent der Stadtentwicklung eine neue Richtung geben. Ich hatte mir vorgenommen – zusammen mit der IGAB – vor allem auch den Planungskonflikt mit Merck zu lösen.
Noch vor Installierung der neuen Dezernenten hatte der ebenfalls neu gewählte Oberbürgermeister in August 1993 bei Merck einen ersten Vorstoß unternommen – und war komplett abgeblitzt.
Ausriss aus dem DE vom 21.08.1993 mit Notizen aus einem Gespräch des Grünen Stadtentwicklungsarbeitskreises mit der IGAB nach einem Besuch von Oberbürgermeister Benz bei Merck.
Insbesondere lehnte Merck eine der neuen Ideen ab, die Firmenentwicklung statt nach Norden nach Osten hin zu orientieren. Dort gab es schon damals nicht nur die suboptimal genutzten Stellplatzflächen, sondern im Zwickel von Bahnlinie, Frankfurter Straße und Merck‘schem Parkplatz das Gelände der ehemaligen chemischen Fabrik Schmidt & Ziegler, die gerade ihre Produktion eingestellt hatte. Uns erschien deren Gelände als idealer Standort für die weitere Merck-Entwicklung unmittelbar neben dem ÖPNV-Knotenpunkt des Darmstädter Nordbahnhofs, der historisch auch einmal für Merck gebaut worden war. Wie gesagt: Damals sträubte sich Merck gegen eine Ausdehnung in dies Areal, heute ist es wesentlicher Teil des Darmstädter Stammsitzes.
Wie kam es zu diesem grundsätzlichen Kurswechsel?
Ab November 1993 sind wir – selbstbewusst mit unseren sorgfältig entwickelten Vorstellungen im Kopf und einer tatkräftigen Bürgerinitiative im Rücken – in intensive Verhandlungen eingetreten – in insgesamt sieben Runden zunächst bilateral zwischen Planungsdezernat und Merck, dann unter Einbezug der IGAB und schließlich auch des Oberbürgermeisters. Diese Verhandlungen hatten ein komplexes Paket von Vereinbarungen zur Folge, die der gesamten Entwicklung im Norden Darmstadts eine neue Richtung gaben, den Konflikt um die Virchowstraße lösten und letztlich auch bewirkten, dass Merck an seinem Stammsitz in Darmstadt strategisch festgehalten hat.
Ich will nur drei Eckpunkte daraus nennen:
- Die geplante Straßenquerung über die Bahnanlagen im Zuge der Weiterstädter Straße wurde gestrichen. Stattdessen sollte die zu bauende Umgehung weiter südlich im Zuge der Virchowstraße über die Bahnanlagen nach Osten zurückführen und dort auch Anschlüsse Arheilgens ermöglichen. Das war – wenn man so will – unsere grüne „kurze Umgehung“. Der Oberbürgermeister wirkte hingegen darauf ein, dass die Arheilgen-Umgehung westlich der Bahn bis herunter zur Gräfenhäuser Straße / B42 durchgebaut wurde („lange Umgehung“). Auch das war letztlich eine gute Entscheidung, denn nur so konnte Merck seine gesamte LKW-Logistik von der innerstädtischen Frankfurter Straße weg auf den direkten Autobahnanschluss über die neue B 3-Umgehung verlagern.
- Die Trasse der neuen Virchowstraße wurde zu Lasten der ursprünglich geplanten Merck-Norderweiterung deutlich von Arheilgen weggeschoben. Zwischen dem verbleibenden Norderweiterungsgebiet und der es begrenzenden Virchowstraße auf der einen und den Arheilger Siedlungserweiterungen auf der anderen Seite entstand Raum für einen großzügigen Landschafspark als Puffer. Die Anlage dieses Parks hat Merck bezahlt. Es wäre durchaus reizvoll, die an dieser Stelle besonders erfolgreiche Verhandlungstaktik darzulegen – angesichts ihres planungsfachlichen Witzes würde das hier aber zu weit führen (nur grob: der Bebauungsplan A 23 zur Merck-Norderweiterung wurde in zwei Teile gegliedert; der Teil b sammelt ausschließlich Ausgleichsflächen, die als Parkpuffer zwischen Merck und Arheilgen ausgestaltet wurden)
- Die langfristig wichtigste Vereinbarung war, dass Merck in Kooperation mit der Stadt, dem Regierungspräsidium und der Arheilger Wohnnachbarschaft das gesamte Firmenareal einer umfassenden Rahmenplanung unterziehen sollte. Die Eckpunkte dieser Rahmenplanung wurden im Planungsdezernat formuliert und liefen auf ein sogenanntes „Zonierungskonzept“ hinaus.
Skizze aus der Rahmenplanung mit einem Entwurf des Zonierungskonzepts. Der Plan ist nicht genordet, Nord und mithin Arheilgen liegen rechts des hier dargestellten Werksgeländes.
Danach sollten die kritischen Anlagen chemischer Produktion auf den Süden des Werksgeländes konzentriert und beschränkt werden. Nach Norden hin, Richtung Arheilger Wohngebiete, sollten hingegen die Nutzungen im Zuge des laufenden großen Umbauprozesses im Werksgelände immer wohnverträglicher ausgestaltet sein.
Diese Vereinbarungen waren das Ergebnis eines politischen Plans und hartnäckiger Verhandlungen mit Unterstützung durch eine fantastische Bürgerinitiative. Sie wurden von anderen aber auch als Niederlage begriffen – insbesondere von Teilen der Verwaltung, die gern nach der Maxime handelt: Mir ist egal, wer über mir Dezernent ist. Der Dezernent kommt und geht, die Verwaltung bleibt. Es ist – wie schon angedeutet – einem damals zuständigen Planer durchaus anzurechnen, dass er für seine Vorstellungen in einem klar formulierten Papier gestritten hat und nicht den stillen und gegenüber konzeptlosen Dezernenten viel erfolgreicheren Weg der Obstruktion gegangen ist.
Die damals in Gang gesetzte Rahmenplanung befasste sich auch alsbald mit einer strategischen Wende für die Ausdehnung der Firma. Die Norderweiterung wurde unwichtig – noch heute ist dies Erweiterungsgebiet des A 23 im Wesentlichen nur durch Stellplätze und LKW-Logistik genutzt. Hingegen richteten wir gemeinsam den Blick auf die Option einer Osterweiterung, die planungsrechtlich vom Bebauungsplan A 17 umrissen wird. Schon damals – wir sind noch im Jahr 1996 – sah man aber auch die damit verbundenen Probleme: insbesondere die Zerschneidungswirkung der Frankfurter Landstraße.
Skizzen aus der Rahmenplanung zum strategischen Kurswechsel der Merck-Erweiterungsrichtung.
Heute hat sich die Firma Merck so sehr auf diese Osterweiterungsoption verfestigt, dass Bewohner Arheilgens den Eindruck gewinnen müssen, damit werde auch ihre Verbindung zur Stadt – die Frankfurter Straße – zum Werksgelände. Nun lautet der Merck-Slogan: Die Arheilger sollen „nicht mehr an Merck vorbei, sondern durch Merck hindurch“ in ihren Vorort gelangen.
Entsprechend war auch auf den ersten Merck-Veröffentlichungen zur Gestaltung der neuen Konzernzentrale von einer Frankfurter Straße nichts mehr zu sehen. Stattdessen sah man am alten Pützer-Turm – zwischen dem fertigen östlichen temporären und dem noch im Bau begriffenen endgültigen westlichen „Innovationszentrum“ – einen dominanten glitzernden Platz, um den sich die neue Konzernzentrale fügen soll.
Diesem rätselhaft leuchten Platz lag eine Planungsvorstellung zugrunde, nach der ein gigantisches Display aus einer Million faustgroßer Lichtpunkte gebaut werden sollte – die Vergrößerung einer Smartphone-Fläche auf das Tausendfache. In einer Web-Präsentation konnte man bestaunen, dass ein den Platz querendes Auto auf diesem sensorgesteuerten Riesendisplay optische Wirbelschleppen hinter sich herziehen würde.
Screenshot aus der Animation des hier konzeptiv tätigen Büros TOPOTEK1 in Berlin zur Gestaltung des Emanuel-Merck-Platzes als gigantisches Display (inzwischen aus dem Web entfernt).
Angeblich habe man aber von diesen Plänen Abstand genommen, weil sie sich technisch nicht realisieren ließen. Doch nichts Genaues weiß man nicht. Die frisch angelegten Rasenflächen der östlichen Platz-Teilfläche sind jedenfalls wieder beseitigt und hinter einem dichten Sichtschutzzaun wird zurzeit irgendetwas unbekanntes Neues erstellt. Merck’sche Transparenz sah schon mal anders aus.
Aus all dem wird deutlich, dass 20 Jahre Rahmenplanung immer mehr an den Nachbarn vorbeigegangen sind. Schon vor zehn Jahren hatte sich die IGAB aus den regelmäßigen Planungstreffen zurückgezogen – teils weil Merck zu alter Selbstherrlichkeit zurückgekehrt war und anderenteils, weil von Seiten der Stadt keine Unterstützung mehr kam. Auch das ist ein Jubiläum, aber kein feiernswertes.
Wie verfahren die Situation inzwischen wieder ist, zeigt auch das Seveso-Problem. Die zum Schutz der nördlich benachbarten Wohnbevölkerung vereinbarte Konzentration chemischer Produktion im Südteil des Firmengeländes wandelt sich zu einer Keule gegen weitere Entwicklungen nicht nur im dortigen südlichen Umfeld, sondern nach wie vor auch gegen Arheilgen. Was auch immer im Merck’schen Umfeld geplant wird – es muss ja nicht gleich eine städtische Schnapsidee wie die Verlagerung des von Menschenmassen belebten Messplatzes auf das Knell-Gelände unmittelbar vor die chemische Produktion von Merck sein – was also sonst noch geplant wird: Merck packt die Keule der Seveso-Richtlinie aus und verteidigt einen vermeintlichen Herrschaftsbereich gegen jeden Eindringling. Und obwohl das Gefährdungsproblem durch Chemieanlagen im Wege der Rahmenplanung auf den Südteil des Werksgeländes begrenzt werden sollte, überlappt der Gefährdungsbereich – auch „Achtungsabstand“ genannt – noch immer wesentliche Teile des südlichen Arheilgens.
Auf städtischer Seite gibt es offenbar niemanden, der sich mit diesem Problem ernsthaft befassen will. Das Bohren dicker Bretter ist aus der Mode gekommen und wird von situativen Befindlichkeits-Statements abgelöst. Die Nummer 1 nickt ergeben ab, was Merck sich wünscht, eine Planungsdezernentin, die das eine oder andere Problem vielleicht gerne anders gelöst hätte, suchte das Weite, und irgendwann setzt sich die Wirklichkeit durch, dass Gewerbesteuereinnahmen nicht unentwegt wachsen und auch nicht für freundliches Entgegenkommen einer Stadtverwaltung gezahlt werden.
Ich hatte eben die Wirbelschleppen erwähnt, die Fahrzeuge auf dem neuen Emanuel-Merck-Display-Platz hervorrufen würden, wenn er denn so über die Frankfurter Straße als neues Zentrum von Merck-Darmstadt gebaut würde. Der Begriff stammt aus der Luftfahrt und soll mir hier als Brückchen dienen, wenigstens kurz ein anderes Thema anzusprechen, das neben der Auseinandersetzung mit Meck ebenfalls ein Schwerpunkt von 30 Jahren Bürgerinitiativarbeit der IGAB war: der Fluglärm, der insbesondere Arheilgen so sehr belastet, weil seit Inbetriebnahme der Startbahn 18 West im Jahre 1984 eine Hauptabflugroute vom Frankfurter Flughafen über kleinere Teile Wixhausens und größere Teile Arheilgens und Kranichsteins führt.
In den 1990-er Jahren entstand ein Änderungsvorschlag, der die Abflugroute Richtung Südosten auf das einzige Band verschieben wollte, das im Raum nördlich von Darmstadt noch unbesiedelt ist: auf die 1400 m breite Lücke zwischen Wixhausen und Erzhausen. Mit GPS-Technik kann diese zweimal verschwenkende Route problemlos geflogen werden. Doch damals waren noch viele Flugzeuge auf die geradlinige Orientierung durch das Funkfeuer Bad König angewiesen, so dass der Vorschlag erst einmal beiseite gelegt wurde. Dies Funkfeuer ist längst abgeschaltet, weil sich heute kein Flieger mehr ohne GPS orientiert. Es ist den ausdauernden IGAB-Aktivitäten zu verdanken, dass der Vorschlag zur Flugroutenverschwenkung nicht in irgendwelchen Schubladen vergessen wurde, sondern sich dank der heute gegebenen technischen Möglichkeiten als aktueller denn je erweist.
Das eingangs angesprochene, die heutige Darmstädter Politik prägende Programm der 10.000 Wohnungen hat keinen solchen strategischen Charakter wie die hier geschilderten Konzepte aus 30 Jahren IGAB. Es folgt einfach nur aktueller Nachfrage des Wohnungsmarktes. Investoren sind findig und erschließen sich mit der nötigen politischen Protektion den letzten Winkel, in den sie ein paar horizontale oder vertikale Wohnscheiben hineinzwängen können. Die versprechen den Investoren schöne Gewinne und lassen sich von Politikern trefflich aufsummieren. Beide zusammen zerstören damit genau jene urbanen Qualitäten, die die Menschen heute wieder in die Städte ziehen: Vielfalt, Nutzungsmischung, Nahversorgung, Gemeinschaftseinrichtungen und Chancen auf schöpferische Entfaltung.
Sarkastisch könnte man sagen: Ist die Stadt erst einmal hinreichend mit der neuen Wohnungsmassenware verdichtet, von Seveso- und Fluglärmkeulen eingeengt, wird sich das sogenannte Wohnungsproblem durch Abwanderung schon wieder einregeln und auf die Pendlerverkehre zurückverlagern. Aber so lethargisch wollen wir unser Lebensumfeld nicht hinnehmen. Deshalb gibt es Bürgerinitiativen. Und Arheilgen ist zu beglückwünschen, dass es über 30 Jahre hinweg die IGAB hatte, die eine so außergewöhnliche Stringenz entfaltete, dass sie heute ein großes Jubiläum feiern kann. Das macht Freude und Mut.
Andererseits sind wir in all den Jahren nicht jünger geworden. Und deshalb ist mein dringendster Geburtstagswunsch: Es mögen sich junge Leute finden, die neue Kraft, Sachkunde und Ideen in dies so notwendige bürgerschaftliche Engagement einbringen.
Michael Siebert, 09. Juni 2017
Eine etwas erweiterte Druckversion dieser Seite bzw. der hier wiedergegebenen Rede im PDF-Format (3,7 MB) findet sich hier: Festrede zum IGAB-Jubiläum.
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