Antigone in Wiesbaden 2018
Sehen wir Sophokles, Hölderlin, Brecht oder Karge?
Was mag bloß ein Zuschauer empfinden, der ganz unbefangen Brechts Antigone im Wiesbadener Staatstheater besucht? Der sieht jedenfalls nicht den schweren Rucksack voll mit Vorfassungen, die Manfred Karges Inszenierung von 2018 implizit mit sich schleppt.
Die Geschichte dieses Stückes beginnt bei der Antigone des Sophokles, entstanden im Athen der klassischen Antike (Erstaufführung ca. 442 v. Chr.), ein in den gefestigten Formen antiken Theaters wohlgefügtes Stück von den dramatischen Verstrickungen seiner Figuren in Schicksal und Fluch, staatliche und göttliche Gesetze (Abb. 1). Der Schweizer Kurt Steinmann hat bei Reclam eine eingängige quellennahe Übersetzung vorgelegt, ohne aufdringliches Pathos und verständnisfeindliches Geholpere durch eingedeutschte Hexameter. Als ehemaliger Lehrer weiß er, wie man ein verständliches Deutsch verfasst und bringt die bis heute bewegende Antigone-Geschichte seinen Lesern nahe.
Das lässt sich von Hölderlins neuzeitlicher Übertragung nicht sagen, die zunächst in den Weimarer Literatenkreisen als Ausgeburt eines Wahnsinnigen wahrgenommen wurde (Flashar, Inszenierung der Antike, S. 139). Schon der allererste Vers, den in seiner Fassung Antigone zu sprechen hat
Gemeinsamschwesterliches! O Ismenes Haupt!
lässt einen die Flucht ergreifen. Ausgerechnet dies dunkle, schwer formulierte Werk wollte der politische, sozialistische, an der Bildung des Proletariats engagierte Stückeschreiber Brecht kurz nach dem Krieg in der Schweiz auf die Bühne bringen?
Brecht hat seiner ‚Bühnenfassung‘ diesen Titel gegeben: „Die Antigone des Sophokles. Nach der Hölderlin‘schen Übertragung für die Bühne bearbeitet“. Man sollte dem unbefangenen Theaterbesucher zumindest das deutlich sagen: An diesem Titel stimmt nichts! Schon der inhaltliche Kern der Brecht’schen Fassung ist ein völlig anderer. Er lässt an eine Paraphrase von Hitlers Angriffskrieg gegen die Sowjetunion denken, der auch auf die Rohstoffressourcen des Donbas gerichtet war und im Zusammenbruch und der Zerstörung Deutschlands endete. Dies wird von Brecht als Kreons Krieg um die „Grauerzminen“ von Argos erzählt und hat nichts mit der Antigone des Sophokles zu tun. Das hat auch wenig mit der Hölderlin‘schen Bearbeitung zu tun, die sich zumindest an die Sophokles-Geschichte anlehnt.
Warum Brecht einen solchen ‚Etikettenschwindel‘ eingeht, bleibt (mir) ein großes Rätsel. Nur in der Sprache zeigt er eine gewisse Kontinuität, steigert für seine Leser gar hin und wieder die Unzugänglichkeit des Hölderlin‘schen Textes. Dies liegt auch ganz formal an seinen Versen, in die er seinen Text zwängt, obwohl die schon ob ihrer Schwankungen von sehr kurzen bis sehr langen keine Hexametertradition pflegen. Hingegen sieht man solch altbackene Gepflogenheiten, den Anfangsbuchstaben eines jeden Verses Versal zu setzen. Bei solcher Formatierung und dem über Zeilenumbrüche hinwegspringenden Inhalt muss Sinn immer wieder mühsam gesucht werden. Ein Beispiel aus einem Kreon-Monolog:
Undankbare! Fresser der Fleische, aber
Des Kochs blutige Schürze gefällt nicht! Sandelholz
Gab ich euch für die Häuser, in die nicht
Lärm von Schwertern dringt, wuchs aber in Argos!
Warum ordnet Brecht seinen Text nicht so:
Undankbare! Fresser der Fleische,
aber des Kochs blutige Schürze gefällt nicht!
Sandelholz gab ich euch für die Häuser,
in die nicht Lärm von Schwertern dringt,
wuchs aber in Argos!
Manfred Karges Wiesbadener Inszenierung lässt solche Komplikationen hinter sich. Der Text ist von Holprigkeiten bereinigt, im besten Sinne epischen Theaters erzählend geglättet. Die Schauspieler deklamieren ihn langsam, jedem Wort seine Bedeutung gebend – insbesondere Antigone (Llewellyn Reichman), deren Sprachstil an die Münchener Inszenierung von Schillers Räubern erinnern lässt (im November 2017 auf 3sat), die mit dem Prolog des Franz Moor (gespielt von der Schauspielerin Katja Bürkle) so beginnt: „Waas – ist nur – seit kurzen – aus miir – geworden?“. Kein Wunder. Karge verbindet mit dem Münchener Regisseur Ulrich Rasche ein in gemeinsamer Geschichte entwickeltes Theaterkonzept, das vor allem auf (verständliche) Sprache setzt.
Dennoch bleibt uns auch Brecht‘sches Sprachdunkel – etwa im Chormonolog, der so anhebt: „Duldend saßen im feuerzerfressenen Haus die Lachmyschen Brüder…“. Diese Brüder wird man weder mit Google noch sonstwo finden, nur bei Brecht und an dieser Stelle. Der ganze Monolog ist sachlich besehen unverständlich. In Wiesbaden wird er von einem Einzelmitglied des Chors deklamiert (Benjamin Krämer-Jenster), das auf die Vorbühne tritt und sich direkt ans Publikum wendet. Der Schauspieler hat diesen Text für sich so mit Sinn aufgeladen, dass sein eindringlicher Vortrag den unbefangenen Zuschauer fesseln kann. Dabei hören wir ‚nur‘ große, Hölderlin übersteigernde Dichtung, die man ob ihres Inhalts in Parallele zur entsprechenden Malerei „abstrakte Dichtung“ nennen sollte.
Der Regisseur Manfred Karge (Abb. 2) – er wird am 1. März 2018 80 Jahre alt – ist der letzte aus Brechts Berliner Ensemble, in das er von Helene Weigel gleich nach seiner Schauspielschulzeit verpflichtet worden war. Nach seiner langen Praxis als Schauspieler, Regisseur und Bühnenautor ist nur er noch prädestiniert, eine – wie man so schön sagt ‚authentische‘ – Brecht’sche Antigone zu liefern, die sich von den Umständen der hastigen Fertigung jener 1948-er Bühnenfassung in der Schweiz freimacht, die Konzepte des Brecht‘schen epischen Theaters ausreifen lässt und sich so als unwiederholbar erweist.
Der unbefangene Zuschauer kann natürlich nicht sehen, dass Karge mit dem Darsteller des tyrannischen thebanischen Herrschers Kreon seit langem befreundet ist und in einigen Inszenierungen als Schauspieler dessen Regieanweisungen zu folgen hatte. Hier aber kehrt sich die Konstellation um. Denn dieser Kreon-Schauspieler Uwe Eric Laufenberg ist zugleich der Intendant des Wiesbadener Staatstheaters, also ‚Herrscher‘ des Hauses, mit seiner Rolle des Kreon jedoch prinzipiell vom Regisseur zu führen. Laufenberg ist aber nicht wirklich ein Darsteller in den formenden Händen des Regisseurs. Der eruptive Lärm, den dieser Kreon in seiner Bedrängnis produziert (und der um das Gehör der Antigone-Darstellerin sorgen lässt) ist vermutlich nicht in Karges Sinn. So spielt der Herrscher des Theaters den Herrscher in Theben in einer nur bedingt vom Regisseur zu bestimmenden Konstellation, die selbst aber dem Kalkül des Regisseurs Manfred Karge entsprang. Eine wunderbare Dialektik im Hintergrund dieser Inszenierung!
Drei Hauptkonstellationen prägen Sophokles‘ Antigone: die Konfrontation Kreons mit Antigone, die das Gesetz des Kreon verletzte, die Konfrontation Kreons mit seinem Sohn Hämon, der um seine Braut Antigone fürchtet und die Konfrontation Kreons mit dem Seher Teresias, der das kommende Unheil ausmalt. Bei Sophokles führt diese Kaskade letztlich dazu, Kreon vom Fehler seiner Entscheidung zu überzeugen – aber zu spät. Bei Brecht modifiziert der Diktator Kreon nur taktisch seinen Kurs, weil er seinen jüngsten Sohn Hämon als letzten verbliebenen Heerführer gegen Argos benötigt, nachdem Eteokles gefallen, dessen Bruder Polyneikes von Kreon ermordet und auch sein erstgeborener Sohn beim Sturm auf Argos umgekommen ist.
Bei Sophokles sind diese drei Konfrontationen als Dialoge ausgebildet – Antigone, Hämon und Teresias argumentieren, Kreon argumentiert jeweils dagegen. Das hat sich grundsätzlich bis in den Brecht‘schen Text so gehalten, obwohl es schier unvorstellbar scheint, dass ein Diktator wie Hitler gegen Widerständler ‚argumentiert‘ hätte. Mit Karges ‚Strichfassung‘ sind zugleich diese Dialoge geschwunden. Insbesondere Teresias hält einen durchgängigen Monolog, in den Kreon nur anfangs noch einzugreifen wagt – „Was ist das, was du murmelst Mürrischer da vom Krieg?“ – ehe er abgewandt sitzend verstummt. Karge hat also mit seiner Textfassung auch diese dialogischen Zentralpassagen stimmiger geformt.
Und wie ist Karge mit der zentralen Aussage von Brechts ‚Fabel‘ umgegangen, die Kreons / Hitlers Krieg als Krieg um Rohstoffressourcen motiviert sieht? Ich habe nicht bemerkt, dass das Brecht’sche „Grauerz“ als Kriegsgrund überhaupt zu hören war. Jedenfalls drängt sich in Karges Inszenierung die als ‚vulgärmarxistisch‘ einzuordnende Brecht’sche Sicht auf Kriegsgründe im Kapitalismus nicht auf. Stattdessen sieht sich der Zuschauer (abgesehen von Kreons Kriegsschwert) mit einer einzigen Requisite auf der kreisrunden weißen Bühne dauerhaft konfrontiert, die so gar nicht zum asketischen Ausstattungsstil passen will: die Trophäe eines Hirschkopfes mit mächtigem Geweih, wie er bei Försters oder auf Ölschinken in bürgerlichen Wohnzimmern hängen mag (Abb. 3).
Diese Trophäe verschwindet, wo Kreon sein Kriegsschwert zurück in die beleuchtete Vitrine hängt (bei Sophokles werden die Schwerter bei Friedenseintritt in den Tempel zurückgehängt). Das unterstreicht den Hirsch als Kriegssymbol, das er als Jagdtrophäe auch ist. Denn zum Krieg fanden die Menschen über die Jagd. Sie machte die Menschen – die Männer – zu Mördern, die dies Geschehen im Opfer ritualisierten, aber auch immer wieder im Krieg ausbrechen ließen (Burkert, Homo Necans). Die Gier nach Rohstoffressourcen kann aber allein nicht erklären, warum junge Männer immer wieder freiwillig und freudig in die Kriege des vorletzten und letzten Jahrhunderts gezogen sind. Das leistet eher unsere artengeschichtliche Prägung, die (nicht nur) von den antiken Stadtstaaten rituell konserviert wurde – man denke nur an Spartas Kriegerausbildung von Kindes Beinen an, der die Heranzüchtung der Athener Hopliden oder der thebanischen „Heiligen Schaar“ aus 150 schwulen Kriegerpaaren in nichts nachstand. Karges Hirschkopftrophäe mahnt solche Erkenntnis an. Wo wir heute von Erzen und Kohle v.a. aus China überschwemmt werden, ist ein Krieg um die ‚Sicherung‘ solcher Rohstoffe völlig absurd geworden. Doch noch immer ziehen junge Menschen in Kriege und lassen sich von der Attraktivität eines IS in Syrien und Irak fesseln.
Dagegen steht Karges abschließende, intuitiv eingängige humanistische Mahnung, von Antigones Schwester Ismene mit Kreide auf eine Ruinenwand geschrieben:
„Zum Hasse nicht, zur Liebe leb ich“.
Michael Siebert, Februar 2018