Schreibt die NSA (in) Wikipedia?
Über Aufklärer, Verschwörungstheorien und undurchsichtigen Wikipedia-Content.
Die wichtigsten Entscheidungen über Krieg und Frieden kommen über die Menschen meist lähmend schnell und überraschend – etwa die Verkündung des NATO-Bündnisfalles nach 9/11, als vier große Zivilflugzeuge zu Waffen geworden waren und der damalige Präsident George Walker Bush alsbald verkündete: Das hätten 19 muslimische Terroristen zu verantworten, die von Osama bin Laden aus Afghanistan heraus mit Unterstützung der Taliban gesteuert worden seien. Deshalb müsse sich Amerika wehren, die Nato müsse mitziehen, der bedrohte Westen müsse in Afghanistan einmarschieren. Die servil sekundierende Begründung aus Deutschland lautete damals: „Unsere Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt“.
Wir wissen heute, dass ein anderer Krieg, den dieser Bush geführt hat, auf Lügen und Täuschung der Weltöffentlichkeit aufgebaut war, als völkerrechtswidriger Angriffskrieg durchgezogen wurde und eine ganze Region in den Abgrund gezogen hat: der Einmarsch in den Irak 2003. Bush und Konsorten haben das mit angeblichen Massenvernichtungswaffen begründet, über die Saddam Hussein verfüge und die jener „Diktator“ einsetzen werde. Wir wissen heute, dass nichts davon stimmte. Aber Hunderttausende sind seitdem in diesem Krieg und seinen Nachfolgekriegen gestorben, unzählige Städte und Dörfer in Schutt und Asche gelegt, Kulturgüter in großem Umfang zerstört worden und im Raum Vorderasiens herrscht weniger Frieden denn je.
Wenn schon Bush und Konsorten (Abb. 1) bei der Begründung des zweiten Irakkrieges von 2003 (und sein Vater bei der Begründung des ersten Irakkrieges von 1990/91, und einer von dessen Vorgängern beim Sturz des iranischen Ministerpräsidenten Mossadegh 1953, und und und) dreist und kriminell gelogen haben – warum sollte das nicht auch für die Begründung des Afghanistan-Krieges gelten? So fragt der Schweizer Friedensforscher Daniele Ganser (Vortrags-Link unten) ... und macht sich damit keine Freunde. Schon zweimal hat er wegen solch kritischer Forschungsfragen seine Professur an einer Schweizer Universität verloren, weil ein Common Sence in Politik, Medien und Wissenschaft funktioniert, den ebenfalls dieser Präsident Bush – gerade mal einen Monat nach den Anschlägen – gesetzt hat und der bislang sichert, dass seine Begründung für den Afghanistankrieg immer noch im Allgemeinbewusstsein verankert ist:
Let us never tolerate outrageous conspiracy theories concerning the attacks of September 11. (US Präsident Bush vor der UN-Generalversammlung in New York am 10. November 2001, im Web nachzulesen unter: www.un.org/webcast).
Damit wurde jeder kritisch hinterfragende Gedanke zu den offiziellen Deutungen von 9/11 durch die amerikanische Regierung als „Verschwörungstheorie“ stigmatisiert, zumal als „empörende, abscheuliche, frevlerische, schändliche, schmähliche, hanebüchene, skandalöse, ungeheuerliche, verabscheuenswürdige“ – all dies sind Bedeutungsnoten des somit enorm wirkmächtig gewählten Adjektivs „outrageous“.
Im amerikanischen Volk, das nicht nur die tausenden Opfer im World Trade Center, sondern die ungleich größere Zahl an Toten, Verwundeten und Traumatisierten der Bush’schen Kriege erlitten hat, hält sich eine bis heute sogar noch gewachsene kritische Stimmung, ob Bushs Erklärungen für 9/11 wirklich stimmen (etwa in der Bewegung von Architekten und Ingenieuren „ReTHINK 911“, im Web unter www.rethink911.org ). Ein wesentlicher Aspekt, der kritischen Fragen Anlass gibt, ist der bis heute nicht zufriedenstellend geklärte Einsturz jenes dritten Turms (WTC 7), in den kein Flugzeug eingeschlagen ist.
Am Ende seines Vortrags (Link unten) erzählt Ganser, wie er in der von so vielen Menschen geschätzten Online-Enzyklopädie Wikipedia abgehandelt wird. Dort steht bereits ganz am Anfang im Abstract (was sich dann ausgiebig vertiefend im weiteren Artikel fortsetzt):
Ganser greift Verschwörungstheorien zum 11. September 2001 auf und stellt sie als diskutable wissenschaftliche Erklärungen dar.
Eine Überprüfung dieser diskreditierenden Aussage ist jedem auf einfache Weise möglich – man muss sich nur 1 ½ Stunden Zeit nehmen und sich den Vortrag „Medial vermittelte Feindbilder und die Anschläge vom 11. September 2001“ auf YouTube ansehen, den Daniele Ganser an der Eberhard Karls Universität Tübingen gehalten hat (Link am Ende dieses Artikels).
Das inhaltlich Schlimme an dieser Wikipedia-Aussage ist, dass sie – getreu dem zitierten Postulat von Bush – abweichende Sichten zu 9/11 als „Verschwörungstheorien“ einordnet und in diesem Kontext Ganser die wissenschaftliche Redlichkeit abspricht. Und das formal Schlimme an der Wikipedia-Darstellung ist: Mitarbeiter von Ganser haben immer wieder mal in die Ganser-Wikipedia-Seite hineingeschrieben, dass der Historiker kritische Fragen formuliert und versucht, dieser Fragen durch historische Forschung zu klären. Doch kaum ist eine solche Umformulierung platziert, wird sie von anonymen Wikipedia-„Mitarbeitern“ wieder in Richtung „Verbreitung von Verschwörungstheorien“ umgeschrieben. Das passiere mit einer Hartnäckigkeit, die Gansers Mitarbeiter in seinem Friedensforschungsinstitut (Swiss Institute for Peace and Energy Research – SIPER – im Web unter www.siper.ch/de/) ratlos mache.
Der Meinungskrieg um die Deutung von 9/11 wird also auch – verdeckt – auf den Wikipedia-Seiten geführt. Eigene Wikipedia-Recherchen haben sich vornehmlich auf „Sockenpuppen“, d.h. mehrfache Fake-Accounts jeweils einer Person beschränkt, wurden insofern aber auf keiner der beiden Seiten dieses „edit war“ fündig (vgl. die Wikipedia-Diskussion zum Ganser-Artikel sowie die dazu angelegte Wikipedia-Recherche-Seite). Nach allem, was wir über Überwachung durch und verdeckte Aktionen von Geheimdiensten wissen können, über die unvorstellbar großen finanziellen, personellen und IT-Ressourcen, über die diese Organisationen verfügen, die „Sockenpuppen“-Dubletten nun wirklich nicht nötig haben, lässt sich folgende Frage formulieren:
Gibt es – sagen wir – 100 Mitarbeiter bei der NSA (also den Ober-Überwachern der amerikanischen „National Security Agency“), die damit beschäftigt sind, weltweit Inhalte bei Wikipedia immer wieder derart umzuformulieren, dass sie in die Geschehensdeutung dieser Organisation passen?
Die wichtigste Ergänzungsfrage, die sich mir dabei stellt, ist nicht die nach der Plausibilität dieser Vermutung, sondern danach, ob sich die NSA wirklich nur mit 100 Akteuren auf diesem weltweit wichtigen Feld der Informationskriege bescheiden würde.
Doch die soeben gestellte Frage gilt schon bei Formulierung in Hypothesenform als typische „Verschwörungstheorie“ mit absolut negativem Impetus. Es spricht vieles dafür, aber ich kann sie nicht beweisen – und zwar deshalb nicht (was für viele Verschwörungstheorien gilt), weil mir schlicht der Zugriff auf mögliche Beweise fehlt. Dies Problem, dass es zwar für eine bestimmte These zahlreiche Anhaltspunkte gibt, aber nur unzureichende Beweise, stellt sich bei all den Forschungs- und Recherche-Themen, die sich durch Geheimhaltung öffentlicher Kontrolle erst einmal entziehen. Das gilt von den Aktivitäten kommunaler Verwaltungen bis hinauf zu den Behörden der Bundesregierung, sowieso für alle erdenklichen geheimen Dienste, aber auch für viele Akteure von Wissenschaft und Öffentlichkeit, die ihre meinungsbildende Arbeit erledigen, ohne dass wir wirklich prüfen können, wer ihre Forschung finanziert und steuert, wer ihre Recherchen bezahlt und lenkt, oder ob sie einfach nur umschlagen, was ihnen „Lobbyisten“ eingeblasen haben.
Eine Verschwörung ist eigentlich eine einfach zu definierende Sache: Sie setzt mehrere Personen voraus, die sich zu etwas verabreden und dies – im Interesse ihres Gelingens und zur Verhinderung von Störungen – geheim bzw. vertraulich tun. Das passiert ständig, ob beim Entwurf von Unternehmens- oder Forschungsstrategien, natürlich bei geheimdienstlichen Aktionen, auch ‚offiziell‘ als kriminell markiert in der Bandenkriminalität oder kaum zu kontrollieren im massenhaften Feld kollektiv organisierter Intrigen und Mobbing.
Es muss – insbesondere für Forscher und Journalisten, aber auch für jeden interessierten Menschen – diskreditierungsfrei möglich sein, über solche Vorgänge Hypothesen zu formulieren und sich um die Beschaffung von Belegen zu kümmern. So könnte man das sachlich sehen.
Doch einer breiten Szene von Bush und seinen Geheimdiensten bis zu Medien wie dem Spiegel (vgl. Abb. 2, besonders krawallig: Spiegel-Online) ist es gelungen, gegen die Entwicklung von Hypothesen über solche (bewertungsfrei definierten) ‚Verschwörungen‘ den negativ eingefärbten Kampfbegriff der „Verschwörungstheorie“ zu platzieren. Mithilfe dieser längst im gesellschaftlichen Bewusstsein verankerten Stigmatisierung des bloßen Frageansatzes kann auch gegen jeden zu Felde gezogen werden, der sich schlicht um Aufklärungsarbeit bei geheimen Vorgängen bemüht.
Es liegt auf der Hand und in der Natur der Sache, dass nicht jede Hypothese über eine Verschwörung im definierten sachlichen Sinne objektiv korrekt sein muss. Und der mehr Wissende wird wohl manche derartige Hypothese für groben Unfug halten. Ja, in diesem Internet wird tatsächlich unglaublich viel Unfug geschrieben. All das ist aber kein Grund, kritische Fragen über einen Kampfbegriff zu diffamieren, sondern sich damit – unter Offenlegung des eigenen Argumentationskontextes und der eigenen Quellenlage – auseinanderzusetzen.
Und ein anderer gewichtiger Aspekt spricht oft ebenfalls gegen „Verschwörungstheorien“: Keinesfalls jedes Handeln von ein paar geheim verabredeten Menschen hat wirklich den Effekt, den diese Menschen anstreben. So gut wie nie können alle Seitenwirkungen und Effekte eines auf größere Wirkungen angelegten Handels so umfassend bedacht werden, dass die beabsichtigten Ergebnisse dieses Handels wirklich eintreten. Und ebensowenig lässt sich das Handeln anderer involvierter Akteure so umfassend antizipieren, dass die Resultate der Interaktionen wirklich kontrollierbar sind. Diese prinzipiellen Restriktionen dürften vermutlich – aber wir wissen es nicht wirklich – sogar für die zur Totalüberwachung fähigen Dienste gelten. Es wäre jedenfalls schön, wenn Bert Brecht insofern noch immer Recht hätte (Das Lied von der Unzulänglichkeit des menschlichen Strebens):
Ja; mach nur einen Plan
sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch´nen zweiten Plan
gehn tun sie beide nicht
Diese doch recht einfachen Überlegungen zum Thema „Verschwörungstheorien“ sucht man auf der Wikipedia-Seite zu diesem Stichwort vergeblich. Die negative Konnotation zieht sich durch den endlos langen Artikel hindurch und wird durch eine breit über die Historie ausgebreite Verwirrung sekundiert, die jedenfalls eins nicht leistet: Orientierung bei der Aufklärung geheim konzipierter und daher schwer sachlich klärbarer Vorgänge.
Die Wikipedia-Seite leistet schon gar keine Hilfe bei der kritischen Auseinandersetzung mit aktuellen Kriegsrechtfertigungen, wo es – siehe Anfang – meist auf Schnelligkeit ankommt. Die historische Forschung kann oft erst nach Jahrzehnten, wenn einschlägige geheime Dokumente die Archive verlassen, „wahre“ Gründe dingfest machen (so zum Beispiel über die Pentagon-Pläne zum Sturz Castros auf Kuba in den 1960-er Jahren, die Ganser in seinem Vortrag zeigt - vgl. Abb. 3). Die akute Entscheidung über Krieg und Frieden ist aber von den Kriegstreibern oft medial so wirksam vorbereitet, dass kritisches Hinterfragen kaum die nötige Zeit und damit kaum eine Chance hat. Und die Keule der „Verschwörungstheorie“ tut ein übriges, um solch kritisches Hinterfragen zu unterbinden.
Man könnte dagegen jedenfalls diese pragmatische Maxime formulieren:
Jedes Medium und jede Institution, das/die kritische Fragen zu intransparenten oder geheim geplanten Vorgänge mit dem Vorwurf der „Verschwörungstheorie“ beantwortet, sollte erst einmal selbst als unglaubwürdig eingeordnet werden.
Es fragt sich, inwieweit diese Maxime auch auf Wikipedia angewandt werden muss. Es reicht nicht, wenn Wikipedia die NSA mit der Begründung verklagt (FAZ vom 11.03.2015):
Wann immer jemand im Ausland eine Wikipedia-Seite ansehe oder bearbeite, sei es wahrscheinlich, dass die NSA dies verfolge.
Wikipedia muss sich auch der Frage stellen, ob und in welchem Umfang NSA und Konsorten auf den Seiten der Enzyklopädie ihren verdeckten Krieg um das Denken der Leser führen, an diesen Seiten unter dem Schutz anonymer Accounts und unverfänglicher IP-Adressen mitschreiben, also jene Deutungen produzieren, die die Leser zu sehen bekommen, ohne dass sie angesichts der anonymisierten Autorenschaften wissen, wer Ihnen da ihre Lektüre und ihr Denken vorgekocht hat.
Das Vortragsvideo
Und hier nun der Vortrag von Daniele Ganser, an dem jeder seine Auseinandersetzung mit „Verschwörungstheorien“ weiterführen kann. Eine Betrachtung ist auch im Vollbildmodus möglich (Schalter rechts unten im Videofenster):
Eine inhaltliche Anmerkung zu Gansers Vortrag
Für Ganser war der Irakkrieg 2003 ein (weiterer) Krieg um die Sicherung der US-Kontrolle über die Erdölressourcen im „Nahen Osten“. In dieser Argumentation ist ein Schaubild aus seinem Vortrag wichtig, das die weltweiten Ölreserven überdominant im arabischen Raum lokalisiert (Abb. 4), der sich zugleich mit den Kerngebieten der muslimischen Religion deckt.
Diese Statistik deckt sich aber nicht mit der Rückkehr zur Öl-Autarkie, die die USA – vornehmlich im Zuge der seit Erstellung der Statistik im Jahre 2003 vergangenen Zeit – auf Grund ihrer Fracking-Aktivitäten im eigenen Land angeblich gewonnen haben. Man sollte auch in die Analyse einbeziehen, dass sich zumindest die Obama-Administration (anders als die imperialen Hardliner der Republikaner) aus einer imperialen Rolle im „Nahen Osten“ wie noch zu Bush’s Zeiten zurückgezogen hat, sich für den Sturz Mossadeghs entschuldigte, mit Israels Hardliner Netanyahu auf Konflikt ging und mit Iran die Verständigung sucht. Materialistisch besehen könnte man das natürlich auch mit der Gewinnung von Energie-Autarkie aus eigenen Ressourcen im Land erklären.
Überzeugender wäre aber ein analytischer Ansatz, dass die Zeit des US-„Imperiums“ (unter diesem Begriff behandelt Ganser die USA) tatsächlich vorbei ist (was Obama gemerkt hat, nicht aber die Republikaner und die Tea Party), dass sich die Welt multipolar entwickelt, dass konventionelle Kriege oder gar das angeblich für den Aggressor so verlustarme bloße Bombardieren fremder Länder und der ferngelenkte Drohneneinsatz nur mehr asymmetrische Kriege hervorbringen, keine wirkliche Kontrolle über die angegriffenen Länder verschaffen, sondern Zerstörung, Zerrüttung und Zerfall dieser Staaten immer weiter vorantreiben – woran nicht einmal dem an Ölressourcen gelegenen Imperium gelegen sein kann.
MS, März 2015