Vorbemerkung

Drei Arbeitsjahre hat der Schweizer Kurt Steinmann für eine sorgfältige Neuübersetzung der einzigen erhaltenen antiken Theatertrilogie aufgebracht, der Orestie von Aischylos. Darmstadts Staatstheater erweist dieser Arbeit nicht allzuviel Respekt: trotz Ankündigung einer „Uraufführung“ wird sie  auf mehr als ein Drittel gekürzt, die Textfolge kräftig durcheinandergewirbelt und das Morden aus der Zeit des troianischen Kriegs auf eine heruntergekommene Mittelmeerfähre unserer Zeit verfrachtet. Hier meine Empfindungen zur Premiere:  

Kein Aischylos in Darmstadt

Was haben die Figuren der griechischen Mythologie auf einer verdreckten Mittelmeerfähre unserer Zeit zu suchen? Warum arbeiten sie beim Morden mit Axt und Hammer aus dem Baumarkt, sprechen aber vom Schwert? Warum ist der antike Chor auf ein Lufthansa-Hostessentrio reduziert, das sich beständig anmachend den Rock hochzieht oder lasziv auf dem Boden räkelt?

Aischylos‘  klare Figuren­aufstellung – in den beiden ersten Teilen je zwei gegeneinander agierende Paare, im letzten das Gericht – wird in ein chaotisches Durcheinander zerstreut. Fast ständig stehen  alle Beteiligten – ob lebendig oder bereits umgebracht – auf der Bühne herum, spielen mit ihrem Handy, wälzen sich auf dem Boden oder sind unentwegt am Rauchen. Die Figurenpräsenz ist zudem befremdlich asymmetrisch: Aigisthos als Mann des ersten Paares, wird auf eine sprachlose Puppe reduziert, die nur fürs Umbringen auf der Bühne steht. Die ins Spiel reimportierte tote (oder – je nach tradierter Version – weitab  auf Tauris im Artemis-Tempel dienende) Iphigenie  bekommt den Mund verklebt und hat ebenfalls stumm dazusitzen. Selbst Elektra als Frau des zweiten Paares steht lange schweigend auf der Bühne herum, so dass man sich an die zwei Stunden lang fragt, ob sie auch einmal den Mund aufmachen darf.

Die – im Gegensatz zur Darmstädter Inszenierung – linear erzählte Aischylos-Trilogie bietet in ihrer neuen Übersetzung ausgefeilten Text für volle neun Theaterstunden. Man hat ihn für Darmstadts drittellange Aufführung noch stärker als auf ein Drittel gekürzt, weil man allerlei Textwiederholungen für pfiffig hielt. So werden etwa die Zuschauer an die dreimal mit der Kunde versorgt, dass Klytaimnestra gerne in der Obhut ihres Sohnes alt werden wolle. Auch die Morde wiederholen sich unentwegt. Sie waren zum Teil schon vor Beginn geschehen (Eingangsszene mit toter Klytaimnestra in einer Schublade der Bühnenkulisse), folgen dann im Schnelldurchlauf und nach der Pause erneut in Zeitlupe. Notwendigerweise musste man bei solcherart Wiederholung auch die Texte Aischylos‘ in ihrer Abfolge durcheinanderbringen. Und um Aischylos noch mehr als verstaubte, dringend modernisierungsbedürftigen Mumie zu präsentieren, soll das Ganze auch noch spaßig daherkommen. Ständige Slapstickeinlagen können allerdings nur bewirken, dass die schwierigen Monologe immer wieder mit dem Risika eines Absturzes ins Lächerliche unterhöhlt werden.

So bleibt von Aischylos‘ Drama wenig übrig. Vor allem die Auftritte der beiden Behinderten im Ensemble – glücklicherweise frei von Slapstickunterlage – entwickelten Dramatik: die winzige Jana Zöll als geschundene Kassandra im Vogelkäfig, die sich sodann über die gesamte Bühne robben musste und Samuel Koch als Athene auf seinem in Thronhöhe gepumpten Rollstuhl, der sich mit seiner sanften (manchmal auch elektronisch aufgemächtigten) Stimme ohne jedes Pathos Gehör zu verschaffen verstand – aber beides hatte wenig mit Aischylos zu tun.

Kochs traurige Mimik passte aber zum dramaturgischen Fehlgriff des Schlusses: Denn den Sieg des „Rechtsstaats“, als den der Neuübersetzer Kurt Steinmann den abschließenden Schiedsspruch aktualisierend einordnet, bringt der Regisseur in einer platten Anleihe an Schirachs „Terror“ auf den Hund. Wenn heute im Theater etwas gebraucht wird, dann wäre es eine deutliche Antwort auf Schirachs populistische Emotionalisierung eines juristischen Urteils, wo dieser weder zwischen Mord und Totschlag, noch zwischen Schuld und Strafmaß differenziert und bei den Zuschauern ein vermeintlich zwingendes „unschuldig“ herbeimanipuliert. Kein Wunder, dass das amerikanische Theaterpublikum noch zahlreicher auf „nicht schuldig“ plädierte als das deutsche. Und Darmstadt versucht geradezu plagiatorisch Gleiches, aber auf einem deutlich schlechteren manipulatorischen Niveau (auch weil das Aischylos nicht hergibt und der Regisseur ihm weder das Wasser reichen kann noch Aischylos den nötigen Respekt entgegenbringt): das aufleuchtende Saallicht erklärt das Publikum zum Richter, wo Aischylos gerade keinen Populismus, sondern höhere Gewalt als Entscheidungsinstanz  im Sinne hatte – damals ein Schwurgericht mit stimmentscheidender Göttin, heute vielleicht wirklich den Rechtsstaat. Ein Glück, dass nicht auch noch Zuschauer abstimmend aufgestanden sind. So entstand eine peinliche Schweigeminute, nach der ein trauriger Samuel Koch als Athene ein von niemandem im Saal verkündetes Stimmenpatt „entscheiden“ musste.

Nach dieser Aischylos-Zerstückelung hatte ich zum ersten Mal in diesem Theater das Gefühl, es sei mir etwas genommen und nicht gegeben worden.

 

 

Michael Siebert, Februar 2017