The Last Ship auf 3sat und das Grauen im ZDF

Seit 2002 zeigt 3sat zu jedem Jahresende ein 24-Stunden Konzertprogramm. Von 6 Uhr Silvester bis 6 Uhr Neujahr laufen seitdem Jahr für Jahr ausgewählte Rockkonzerte unter dem Titel „Rock around the Clock“.

Sting

Mein Highlight aus diesem Konzertprogramm zum Jahresauftakt 2015 war der Auftritt von Sting im Public Theatre, New York City. Zusammen mit 14 exzellenten Musikern und Sängern präsentierte er ausgewählte Titel seines Musicals „The Last Ship“ in konzertanter Fassung vor kleinem Publikum.

10 Jahre lang war sein Schreib- und Kompositionsfluss blockiert, bis Sting nach zehn Studioalben im September 2013 endlich ein elftes herausbringen konnte: Texte und Balladen mit literarischer und musikalischer Substanz über den Niedergang des Schiffsbaus in seiner Heimatstadt Wallsend. Diese alte Industriestadt im Nordosten Englands erhielt ihren Namen vom hier endenden Hadrianswall, den einst die Römer gegen die wilden Pikten im angrenzenden Schottland gebaut hatten.

Sting schilderte in seinem Kammerkonzert zu Video- und Fotoeinblendungen, wie er angesichts der Entstehung riesiger Schiffe am Ende seiner Arbeiterwohnstraße aufwuchs. Er charakterisiert die Menschen, die auf der Werft (shipyard) arbeiteten, im Ort lebten und beschreibt ihr Leid, als die Werft 2007 geschlossen wurde, aber auch ihr letztes Aufbäumen durch Besetzung der Werft und den Bau eines eigenen Schiffs – des letzten Schiffs dieser Werft.

The Shipyart of Wallsend

Screenshot aus dem Sting-Konzert „The Last Ship“, Silvester 2014 auf 3sat

 

Wie das Schicksal von im Untergrund oder in fernen Ländern besonders leicht zu vergessenden Bergwerken zeigt (vgl. „Bergwerke“ auf dieser Website) verschwindet auch sonst unsere große prägende Industrie- und Sozialgeschichte ganz schnell aus dem Blick und aus der Erinnerung, wenn ein Werk erst einmal geschlossen ist. Nur ganz wenige Glücksfälle wie die Völklinger Hütte oder die Zeche Zollverein in Essen bewahren solche Erinnerung, die umso mehr behütet werden müsste, je mehr unsere „moderne“ Welt Geschichte auf Events reduziert, die von den immer wieder als Meute organisierten Medien bei Gelegenheit wie eine Sau durchs Dorf getrieben werden, um mit der nächsten Sau erneut dem Vergessen anheim zu fallen.

Nun hat Sting mit seinem Musical „The Last Ship“ dieser seiner Geschichte zwar kein materiell aus Stahl geformtes, aber ein künstlerisches Denkmal gesetzt.

Die New Yorker Scene war offenbar nicht der richtige Ort für solche Erinnerungsarbeit. Denn nach einer Premiere in Chicago am 25. Juni 2014 und 33 dortigen Aufführungen wechselte das Musical ab 26. Oktober 2014 zwar an das Neil Simon Theater auf dem Broadway. Da die Kartenverkäufe die hohen Produktionskosten aber nicht refinanzieren konnten, fiel bereits am 24. Januar 2015 der letzte Vorhang. Unserem örtlichen „Echo“ war das lediglich eine öde dpa-Notiz wert (siehe am Ende dieses Artikels unter „Links“).

Jo Lawry

Während auf 3sat Stings Last Ship-Konzert lief, wiederholte das ZDF jene zusammengeschnittene „Helene Fischer-Show“, deren Life-Schein-Mogelei durch den posthumen Auftritt des nach Aufzeichnung gestorbenen  Udo Jürgens bereits mit der Erstsendung zu Weihnachten aufgeflogen war. Diese Frau sieht gut aus und kann singen. Selbst hohe Töne kommen ihr leicht und sanft ohne jeden Druck über die Lippen. Man muss sich aber als Zuhörer, der seine Sinne beisammen und seinen Magen ungestört halten will, ganz auf das wohlige Blond, die Fitness-Studio-gestrafften Arme und den Liebreiz der Klänge konzentrieren. Denn aus den Texten strömt das Grauen. Es unfassbar, welchen Scheiß diese Stimme einschmeichelnd zu intonieren weiß.

Einen solchen Gegensatz hat es zuletzt bei den Sirenen der griechischen Mythologie gegeben. Sie lockten Seefahrer durch ihre bezaubernden Stimmen auf ihre Insel, wo die Armen alle eines rätselhaften Todes starben. Es gab nie einen Überlebenden, der von den Todesumständen dieser bezirzten Menschen hätte berichten können. Nur die Berge gebleichter Gebeine zeugten später vom grausigen Geschehen. Helene Fischer und ihr ZDF (in dem auch noch ihr Lebenspartner Florian Silbereisen passend assistiert) hinterlassen bei den von ihnen bezirzten Menschen gebleichte Hirne, die nicht mehr wissen, was Qualität ist, weil die sich auf Form und Inhalt erstreckt.

Aber da gibt es eine Frau, ebenfalls blond, mindestens ebenso schön und mit einer Stimme, die hohe Töne noch zarter und mit noch weniger Druck über die Lippen bringt. Und was sie singt, ist Poesie. Ihr ‚Problem‘ ist nur, dass sie nach Qualität strebt, dies im Jazz gelernt hat, und jedenfalls keine Musik anfasst, die sich auf die üblichen drei Akkorde jedes beliebigen und daher immer so gleich klingenden Schlagers beschränkt. Sie war immer schon ein Fan von Sting (mit dem sie große Konzerte gestaltet hat) und sagt über dessen Kompositionen:

Sting's songs are far from the three-chord variety. Those bridges! He is one of the artists who can take the most credit for introducing complex harmonies, odd-time signatures and more into pop and rock music. So when a sharp nine or flat thirteen is the next most interesting note under or over Sting's vocal melody, it's pretty handy to know what those notes are and how to use them. (Interview der „London Jazz News“ vom 26.06.2014, im Web).

Die australische Sängerin Jo Lawry hat eine solide Jazz-Ausbildung erfahren und ist mehrfach für ihre Leistungen geehrt worden. Seit Mitte 2014 ist sie mit dem Jazz-Saxophonisten Will Vinson verheiratet. Doch selbst nach Begleitung Stings auf den Welttourneen der Jahre 2010 bis 2013 („Symphonicities“ mit dem Royal Philharmonic Orchestra – siehe daraus  das phantastische Duett „Whenever I say your name“ – und „Bass to Bass“) teilt sie das Los der allermeisten Jazzer, nie ein „Megastar“ werden zu können, dem die Millionen in Menschen und Money nur so zufließen. Ist es ein Trost, dass diese Musiker alles andere, aber keine gebleichten Gebeine hinterlassen?

“Whenever I say your name” – Live in Berlin 2010 mit dem Royal Philharmonic Orchestra, Duett mit Sting und Jo Lawry

 

Es ist schon traurig zu lesen, mit welch bescheidener Emphase Jo Lawry für ihre Jazz-Konzerte wirbt, die hin und wieder in New Yorker Clubs für einen Ticketpreis angeboten werden, den ein örtlicher Club wie die Zentralstation in Darmstadt locker für jeden beliebigen Gig aufs Doppelte ansetzt (https://www.facebook.com/jolawry, z.B. der Post vom 20.04.2013):

I'm doing a house concert this Sunday in Brooklyn (Kensington), and would love to see you there! I'll be singing my own songs and will be joined by Matt Aronoff on bass. Lunch at 2pm, music at 3pm. $20 suggested donation, BYOB. Message Perez Jazz Perez for bookings and more details.

Auch an Stings konzertanter Aufführung von „The Last Ship” war Jo Lawry beteiligt (nicht aber in der Broadway-Version des Musicals). Ein Ausschnitt – wieder ein Duett mit Sting – lässt sich im Web betrachten und anhören:

„Practical Arrangement“ – Duett mit Sting und Jo Lawry aus dem Konzert „The Last Ship“ im Public Theater von New York

 

Links

Es gibt einen Wikipedia-Artikel (englisch) über das Musical „The Last Ship“

Empfohlen sei die Video-DVD mit der Aufzeichnung des Konzerts „The Last Ship“ im Public Theater von New York, mit historischen Videos und Stings Moderationen.

Vom Musical gibt es bislang lediglich eine Audio-CD. Vielleicht kommt ja noch eine Video-DVD der Broadway-Aufführung heraus, nachdem das Musical dort eingestellt wurde. Zu wünschen wäre es!

Auch Jo Lawrys zweite eigene CD lässt auf sich warten. Sie war bereits für 2014 angekündigt. Damit bleibt es vorerst bei ihrem Debutalbum „I Want to Be Happy“ von 2008.

 

MS, Januar 2015